Jeder Tag ist für mich ein neues Erleben und beginnt wie im Film: "Täglich grüßt das Murmeltier!". Zur Zeit gibt es immer noch keine Vergangenheit oder Zukunft und es hat keinen Einfluss darauf, wie es mir geht. Die Entscheidung, was ich mache oder was passieren soll, ist täglich neu.
In der Zwischenzeit habe ich aber gelernt, Schwerpunkte zu setzen, die aber über mehrere Wochen oder auch Monate führen können. Verbesserungen oder Veränderungen kann ich nicht in diesem Moment sehen, sondern kann sie nur über einen längeren Zeitraum erkennen.
Ich habe an vielen Fronten zu arbeiten. Der Hirnabszess am Thalamus hat mein gesamtes Körpersystem durcheinander gebracht. Bücher über ähnliche Erlebnisse haben mir später sehr geholfen, mein Schicksal zu verarbeiten.
Allerdings hatten die meisten anderen Erlebnisse eines gemeinsam, fast alle sind durch Unfälle entstanden oder hatten eine Ursache von Außen. Einzig die Moderatorin Monica Lierhaus erlebte ähnliches. Ihr Buch hat mir viel Verständnis für die Folgen die ich erlitt gebracht. Hier ein Link zum Bericht und ein Auszug, wie es auch ich fühle:
"Etwas in mir ist damals gestorben, und etwas hat überlebt", schreibt Lierhaus. Sie sei, was ihre Fähigkeiten angeht, eine andere geworden. Aber der Kern sei geblieben. "Deshalb kann ich sagen, ich bin immer noch ich, auch wenn mir manches an diesem neuen Ich fremd ist. Vielleicht immer fremd bleiben wird."
Bericht über Monica Lierhaus von Solveig Bach/NTV
Bei mir war es ähnlich, ich explodierte von Innen. Wobei ich diese Implosion nicht so wahrgenommen habe. Ich war von einer auf die andere Stunde gezwungen, mich aufgrund von Schwindel hinzulegen.
Es passierte nicht von Außen, durch einen Unfall oder ähnliches. Ich war plötzlich auf NULL gestellt, nichts funktionierte mehr, körperlich wie geistig. Ein eigenartiger Zustand bemächtigte sich meiner. Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein, anders als alle um mich herum. Meine Körperfunktionen wurden auf ein Minimum herunter gefahren, alle geistigen und in den folgenden Tagen auch immer mehr meine körperlichen. Alle Energie wurde für mein Überleben aufgewendet. Mein Überlebenskampf beginnt, der für mich keiner war.
Auf Vergangenheit und Zukunft konnte ich nicht reagieren und es war zunächst auch nicht wichtig. Mein Denken war stark beeinträchtigt und aufs Minimum reduziert. Mir selbst war das gar nicht bewusst. Alle Emotionen und Gefühle wurden ebenfalls ausgeschalten. Ein Grund, warum ich mit nichts belastet werden durfte. Ich lebte zwar, aber ich war zu schwach zum Sprechen oder denken, bald auch in der Bewegung.
Es war anders als wie bei den meisten Unfällen. Bei mir ist neben dem Körperlichen eben auch das Geistige betroffen und das ohne offensichtlichen Grund. Das finden dieses Grundes oder der Ursache liegt aber im Geistigen. Das machte es mir besonders schwer, es mit etwas in Verbindung zu bringen. Ein Radsturz oder ein Kletterunfall zeigt oft einen Grund, wenngleich auch solche eine geistige Ursache haben. Diese heißt es zu erkennen.
Im Sport riskierte ich oft etwas oder war in teils schwere Stürze beim Radrennfahren verwickelt. Da war sofort klar, warum etwas passiert ist oder warum die Schwere einer Verletzung die Folge davon war. Das Geistige dahinter ist dann allerdings oft nicht mehr so klar. Dabei gibt das, was passiert, einen guten Hinweis darauf, was im Leben nicht passt. Deshalb war die Zeit, die ich im Sport verbrachte, mehr Bewusstseinsbildung, als das mir die Ergebnisse wichtig waren. Sogenannte Niederlagen waren oft mehr lehrreich als Siege.
Krankheiten oder Unfälle passieren nur, wenn über einen längeren Zeitraum Fehler gemacht werden. Diese Fehler zwingen einen wieder in die richtige Richtung und es beginnt Gesundung. Auf diese Fehler draufkommen und sie verändern zu können, ist das Ziel. Je nach Schwere kann es länger oder kürzer dauern.
Ich habe nach 14 Jahren, als Beamter bei der Post, meinen damaligen Beruf gekündigt, weil es nicht mehr meinem Leben entsprach. Im Sport konnte ich mich dann selbst verwirklichen. Es machte mir Freude und ich war in meinem Element. Nach dem Sport ging ich in die Wirtschaft, gründete eine Familie und gelangte in ein System, dass meiner Freiheit widersprach.
Ich versuchte zwar das Beste daraus zu machen, aber es sollte bis zum Hirnabszess dauern, bis ich Fehler im Denken erkannte. Das Hamsterrad hatte mich gefangen und ich fand keinen Ausweg daraus für mich. Obwohl ich es erkannte, hatte ich nicht die Kraft, darauf richtig zu reagieren. Es kam, wie es kommen musste.
Dieses Abszess am Thalamus wurde eine besondere Lernerfahrung für mich. Das gesamte Leben von der Pieke auf neu zu lernen, ist eine Herausforderung. Es benötigt eine gesamte Neustrukturierung meines Lebens, aber auch meines Denkens. Step by Step oder Schritt für Schritt komme ich zurück ins Leben. Aber es dauert.
Alte Lebensstrukturen heißt es zu erkennen und umzuprogrammieren. Mein Denken lässt nur kleine Schritte zu, wie auch in der Bewegung. Erst wenn ich einen Schritt verinnerlicht habe, kann der nächste Schritt drankommen. Deshalb beginnt auch jeder Tag von neuem. Ich kann zwar auf wieder Erlerntes aufbauen, aber jeder Tag fängt für mich in der Früh von neuem an.
Es ist schwer zu erklären, weil mir noch immer so viele Wörter und Formulierungen fehlen. Es ist meine Arbeit, diese zu finden, um es in naher oder ferner Zukunft, immer besser erklären zu können. Ich kann es derzeit nur so, dass ich auf Gelerntes aufbauen kann, aber trotzdem für mich der Film: "...und täglich grüsst das Mumeltier!", gilt.
Da alles in so kleinen Schritten passiert, scheint jeder Tag aufs neue zu passieren. Die Fortschritte sind so gering, dass ich sie kaum bemerke. Mehr Struktur in meinen Tagesablauf zu bekommen, hilft mir sehr. Deshalb fühle ich mich am Jakobsweg so wohl. Seit ich alleine in einer Wohnung lebe, fehlt mir diese Struktur, weil ich mehr mit Überleben beschäftigt bin, als mit meiner Rehabilitation.
Am Camino lernte ich, einen Tagesablauf zu bewerkstelligen. Jeder Tag hat gewisse Anforderungen, die aber über einen längeren Zeitraum dieselben sind. Gehen, Essen und schlafen, nichts anderes ist dort wichtig. Aufs einfachste reduziert zu sein, tut mir sehr gut. Ablenkungen von zu Hause fallen weg und das Leben im Jetzt ist wichtig. Beinahe alles was mich belastet, fällt am Camino weg. Trotzdem therapiere ich, eigentlich unbemerkt. Der Weg ist das Ziel, wurde dort besonders bemerkbar.
So erlebe ich jeden Tag neu und versuche für mich das Maximum heraus zu holen. Das kann auch bedeuten, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Das gehört für mich zum Training dazu. Viele sehen natürlich nur die Fotos, was ich alles mache. Das ist aber nur ein Ausschnitt von vielem. Es vermittelt den Eindruck, als ob ich dauernd aktiv bin. Das bin ich aber nicht und kann es gar nicht. Denn solange der Tag länger ist, als das meine Energie reicht, bin ich darauf angewiesen, auch öfter nichts zu tun.
Ein Leitsatz gilt für mich aber aber nach wie vor für mich:
"NEVER GIVE UP!"
oder
"Niemals aufgeben!"
Der Tag beginnt für mich jedesmal neu und am Ende des Tages kann ich beruhigt schlafen gehen, mit der Gewissheit, trotz des vielen Therapierens, niemals aufgegeben und mein bestes gegeben zu haben!