Am Sonntag habe ich an meinem ersten Wingsforlifeworldrun teilgenommen. Laufen kann ich zwar noch immer nicht, aber ich möchte es wieder können.
"Gemeinsam laufen wir für alle, die es selbst nicht können."
Motto des "Wings for Life World Run"
Per APP ist es kurzfristig durch die Corona-Krise sogar ein Muss geworden. Ich wollte mich erstmals damit auseinandersetzen und schauen, ob ich damit schon zurechtkomme.
Schon letztes Jahr war ich nahe dran am Wingsforlifeworldrun teilzunehmen, habe aber im letzten Moment zurückgezogen. Denn es geht nicht nur um mein körperliches Befinden, sondern auch um das Gehirn. Es gibt mir alles in letzter Konsequenz vor, was geht und was nicht. Ich fühlte mich noch nicht so weit und so startete ich dieses Jahr zum ersten Mal.
Die Corona-Viruskrise nahm mir viel von dem, was ich mir in den letzten Jahren hart erarbeitet habe. Neue Ziele und Strategien mussten her. Ich durfte aber nichts überstürzen, alles Step by Step. Durch den Corona-Virus hat sich einiges geändert in meinem Leben, wofür ich die letzten Jahre gearbeitet habe.
Ich mache keine Wettkämpfe mehr, denn ich habe in meinem Leben schon genug gemacht. Trotzdem kann so etwas wie der Wingsforlifeworldrun eine große Motivation sein. Allein der Slogan "Ich laufe für die, die es nicht können" motiviert und Motivation kann ich in meiner Lage gar nicht genug bekommen.
Die App sollte man vorher ausprobieren und ich wurde in den Tagen davor auch mehrmals daran erinnert. Jedoch jedes Mal, wenn ich unterwegs war, habe ich darauf vergessen.
Ich bin mit den derzeit herrschenden Regeln überfordert und selbst mich im Freien bedarf einer Aufmerksamkeit, die für das Gehirn zu viel ist. Wo ich normalerweise abschalten kann und mich nur aufs Gehen konzentriere, arbeitet mein Gehirn jetzt auf Hochtouren. Dazu aber später mehr.
Der Lauf, bzw. das Gehen, bin ich ja gewohnt. Dass ich die Wochen zuvor weniger gemacht habe, spürte ich. Mein Weg führte mich auf Nebenstraßen durch Judendorf, eigentlich flach, aber eine Eisenbahnunterführung ließ meine Durchschnittsgeschwindigkeit beim folgenden Anstieg merkbar sinken.
Mein Ziel, die 5 km Marke zu erreichen, erreichte ich nicht ganz, dass virtuelle Catcher Car holte mich nach 4,71 Kilometer oder 50 Minuten und 15 Sekunden ein. Das waren aber immerhin 5,6 km/h Schnitt. Mein Ziel habe ich zwar nicht erreicht, bin aber damit zufrieden, denn mein größtes Ziel wieder Gehen zu lernen habe ich erreicht. Jetzt fehlt nur mehr Laufen!
Ab 6 km/h ist zum Überlegen, ob ein langsamer Dauerlauf nicht besser wäre. Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Die Muskelschwäche lässt ein schwammiges Gefühl zurück und bei jedem Schritt stampft es meinen Körper, nach der Flugphase wo beide Beine vom Boden entfernt sind, in den Asphalt.
Nach 5 - 10 Schritten im Laufversuch, bin ich froh, wieder gehen zu können. Mein ganzes Körpersystem, inklusive Gehirn und Koordination, kommt dabei durcheinander. Die Muskeln werden dabei auf eine Art angespannt, die es mir nicht erlaubt, danach überhaupt noch zu gehen.
Meine Bewegung wird unkontrolliert und ich muss mich hinlegen. Hinsetzen geht auch, aber hinlegen ist besser. Nur so ist eine Erholung gewährleistet. Überschreite ich diese Phase, auch beim Gehen, kann es schwerwiegende Folgen haben.
Es heißt, mich auf die kommenden Monate vorzubereiten. Da meine Rehabilitation besonders körperlich bezogen ist, war das Ziel für den Lauf, an meiner Motivation zu arbeiten, wieder in die Spur des täglichen Lebens zu kommen.
Neue Strategien, Ziele und anderes mussten definiert und gefunden werden. Das alles ergibt Motivation für das Training und Tun. Und das ich tun möchte, steht außer Zweifel.
Das alles schreibe ich mir in ein Heft, unterteilt in Monatliche, Wöchentliche und tägliche Ziele, aber auch, was ich dafür zu tun habe. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, ein analoges Heft zu benutzen. Schreiben mit einem Stift gehört nämlich mit zu meinen Zielen, wie auch das Trainieren meiner Finger.
Die Zeit der Krise nutze ich auch, um meinen Blog neu aufzusetzen. Mein Sohn hat mir den Blog neu programmiert. Dazu ist auch ein Überarbeiten der Artikel notwendig geworden. So habe ich mir am Abend nach dem Wingsforlifeworldrun meine ersten Blogartikel beim Überarbeiten durchgelesen, die von meiner Rehabilitation und den Tagen im Krankenhaus handeln.
So wurde ich daran erinnert, von wo ich herkomme. Wieder Gehen zu können, war vor vier Jahren mein Wunschtraum, den ich mir mit dem Absolvieren von mittlerweile drei Caminos in den letzten zwei Jahren erfüllt habe.
Allerdings ist Gehen, nicht gleich Gehen. Mein Gehen ist eigentlich besser mit dem Wort "Fortbewegen" beschrieben. In Wirklichkeit kämpfe ich noch um jeden Meter, auch wenn es von Außen nicht so ausschaut. Allerdings auf einem recht hohen Niveau. Es ist mir kaum etwas anzusehen, vor allem wenn man nicht um meine Vorgeschichte weiß. Es gibt aber mehr, als man sieht.
Fast jeder hat bestimmt schon einmal erlebt, dass Beschwerden vorhanden sind, die das Gegenüber nicht wahrnimmt. Bei mir ist es aber kein Zahnschmerz, ein Hexenschuss oder andere große Schmerzen, die niemand sehen kann. Bei mir geht es ums Gehen, die Bewegung und die Funktion des Gehirns
An für sich etwas Selbstverständliches und darum nehmen wir es auch als Selbstverständlich wahr. Bei mir beinhaltet dieses Selbstverständliche aber weit mehr. Praktisch jede Bewegung oder Gewichtsverlagerung muss bewusst angedacht werden. Da hat dann nichts Platz für anderes. Gleichzeitig einem Gespräch folgen und mich zu Bewegen ist eine Herausforderung. Eine meiner größten Errungenschaften der letzten Jahre war sicher, dass ich mich beim Gehen auf ebenen Boden unterhalten kann.
Ein Beispiel für Bewegung andenken ist mein rechter Arm, gehandicapt durch die Hemiparese (einseitige Lähmung). An für sich gut unter Kontrolle gebracht, merkt man bei der Bewegung nichts. Kommt mir jemand aber am Gehsteig entgegen, bin ich so mit dem Rundherum beschäftigt, dass ich darauf vergesse, ihn mitzuschwingen, um besser im Gleichgewicht zu bleiben. Er hängt dann schlaff an mir runter, bis ich mir dessen wieder bewusst werde und ihn bewusst bewege.
Dieses Bewegen können brachte mir einen gewissen Grad an Selbstbestimmung zurück. Es war mir sehr wichtig, alles daranzusetzen, mich wieder fortbewegen zu können. Das habe ich geschafft, wenn auch mit Einschränkungen. Dadurch bin ich heute in der Lage, selbstbestimmt zu trainieren oder Einkaufen zu gehen.
Diese Selbstbestimmung hat aber ihre Grenzen. Kochen, Wäsche waschen und Putzen ist nur mit einem sehr hohen Einsatz meinerseits möglich. Normalerweise hilft mir jemand, aber in dieser Zeit der Corona-Krise bin ich darauf angewiesen, vieles selbst zu machen.
Sie hat unser aller Leben durcheinander gewirbelt. Jeder kommt anders damit zurecht oder ist anders davon betroffen. Während die einen plötzlich viel Zeit haben und eine Entschleunigung des Lebens einsetzte, sind andere Berufsgruppen davon gar nicht betroffen. Pflegedienste, Krankenhauspersonal und der Lebensmittelhandel sind extrem gefordert in dieser Zeit.
Die Auflagen bringen mir immer wieder Schwierigkeiten. Eigentlich bin ich darauf konzentriert die Bewegung beim Gehen richtig auszuführen, egal ob im Wald oder beim Einkaufen. Da ich noch immer nicht Multitasking fähig bin, kann ich mich nur auf das Eine oder das Andere konzentrieren. Die Bewegung leidet darunter und der Energieverbrauch ist weit höher. Die Tage werde wieder "kürzer" mit der Corona-Krise.
Abstand halten, Gesichtsmaske auf, nicht ins Gesicht greifen, usw. Auf viele Regeln muss ich achten. Multitasking wäre dabei von Vorteil, aber das beherrsche ich noch immer nicht. Einkaufen wird somit wieder zur besonderen Aufgabe. Es kostet mir soviel Energie, dass ich mir einen ganzen Tag dafür reserviere.
Einmal vergesse ich die Gesichtsmaske, dass andere Mal konzentriere ich mich so sehr darauf, die Maske nicht zu vergessen, dass ich nach vier Kilometern Fußmarsch zum Supermarkt draufkomme, die Einkaufsliste vergessen zu haben.
Im Supermarkt soll ich genügend Abstand zu anderen halten. Achte ich jedoch immer darauf, komme ich nicht zu den Artikeln. Meine Hochsensibilität lässt einen Einkauf zu einer hoch anstrengenden Tätigkeit werden. Nach einem Einkauf ist der Tag vorbei und ich erhole mich im Bett.
Begegnungen auf der Straße sind auch ein Thema. Mit Abstand aneinander vorbeigehen, ist auf vielen Gehsteigen nicht möglich und ein Ausweichen auf die Straße unumgänglich. Ich fühle mich wie in die erste Zeit nach dem Hirnabszess zurückversetzt. Unfähig zu handeln und eingeschränkt in der Bewegung.
Auf meine größten Erfolge seit dem Hirnabszess angesprochen, zähle ich sicher das Sprechen und Zuhören können, während dem Gehen. Wer meinen Blog oder Instagram verfolgt, weiß wie lange ich schon daran arbeitete.
Noch muss ich es Eingrenzen auf ebene und befestigte Wege. Im Gelände oder schmalen Trails habe ich noch zu viel mit mir zu tun und kann einem Gespräch kaum folgen.
Mit dem Gehen hatte ich am Camino wohl das schönste und beste Erlebnis seit dem Hirnabszess. So große Freude empfand ich wohl noch nie dabei. Keine Blasen, keine Schmerzen, nichts was diese Freude dämpfen konnte. Es war einmalig seit der Erkrankung und machte mich Hoffnungsvoll für die Zukunft, eine Zukunft die bald anders als gedacht ausschauen sollte.
Am Camino Frances habe ich noch einen Riesenschritt nach vorne machen können, um kurz darauf wieder auf einen Stand von vor ein bis zwei Jahren zurückzufallen. Allein durch den Shutdown, die Ausgangsbeschränkungen und alles auf null niederzufahren, sind viele meiner erlernten Fähigkeiten verloren gegangen oder verschüttet worden.
Durch die Muskelschwäche und die neurologische Erkrankung zähle ich zur Risikogruppe. Zwei Wochen im Bett liegen zu müssen, hätte bei mir fatale Folgen, wenn ich an mir sehe, was der Shutdown auslöste.
Am Camino freute ich mich schon auf die Zeit danach und auf weitere Zielführende Therapien. Wieder zuhause, sollte sich alles ändern. Alle Therapien abgesagt und allein auf mich gestellt, musste ich neue Ansätze finden, Strategien entwickeln und neue Ziele finden.
Bisher machte ich viel über den Computer. Diesmal wählte ich allerdings meinen alten Organizer mit Schreibstift. Hier halte ich meine Monatlichen, Wöchentlichen und täglichen Ziele fest. Habe ich sie erreicht, dann hake ich sie ab.
Dadurch möchte ich mich mehr am handschriftlichen Schreiben üben, denn meine Handgelenke und Arme sind von der Muskelschwäche sehr betroffen und ich werde sehr beschränkt darin.
Der Organizer hat den Vorteil, leicht Seiten zu entfernen oder dazuzugeben.
Ziele brauche ich, um mich zu motivieren. Ein Endziel war immer vorhanden, aber ich brauche auch Zwischenziele zur Motivation, um dieses zu Erreichen. Ist mein Ziel zu klein, ist meine Motivation zu gering. Nur wenn mein Ziel groß genug ist, werde ich es auch erreichen. Der Wingsforlifeworldrun war geeignet, um mir meiner Ziele wieder bewusst zu werden.
Viele dieser Zwischenziele sind weggefallen. Pilgern in Spanien fällt länger aus, an dem doch mehr hängt, als viele glauben. Und so ist es mit vielem. Die Ungewissheit macht mir am meisten zu schaffen, denn fast alles ist damit verbunden, was jetzt und vielleicht auch in Zukunft, nicht möglich ist.
Vorrangig ist, wie ich jetzt Leben lernen kann, ohne die Therapie zu vernachlässigen. Alle Strategien des letzten Jahres funktionieren nicht mehr. Dafür Ersatz zu finden dauert. Mein Gehirn ist damit überfordert und braucht lange, um sich auf diese neue Situation einzustellen.
Ich arbeite schon länger daran und mit dem Wingsforlifeworldrun habe ich einen Motivationsschub bekommen, auch in dieser Lage das bestmögliche für mich zu finden und herauszuholen.
Es gäbe noch viel zu schreiben über die Vorkommnisse der letzten Zeit, aber ich habe derzeit so viel mit mir zu tun, dass ich nicht dazu komme. Durch die Anforderungen ist meine Konzentrationsfähigkeit derzeit um ein vielfaches gesunken und ich muss das akzeptieren. Schreiben strengt mich sehr an, aber es ist auch eine gute Möglichkeit um mir bewusst zu machen, was gerade passiert ist.
Zum Abschluss ein Spruch von Konfuzius, der sagt:
Wer das Ziel kennt, kann entscheiden. Wer entscheidet, findet Ruhe. Wer Ruhe findet, ist sicher. Wer sicher ist, kann überlegen. Wer überlegt, kann verbessern.
Konfuzius
Ich wünsche jedem in dieser Zeit, seine Ziele zu kennen.
Lieber Jörg!Ich gratuliere dir zu deinem "Läuft!Ja,diese Zeit ist für jeden von uns sehr herausfordernt; natürlich besonders für dich,da alles gebremst wurde.Ich bewundere deine Stärke,deinen Willen,deine Zähigkei Ziele zu verfolgen und Step by Step umzusetzen."Never give up"! Alles Gute Andrea
[…] dem ersten Lockdown vor bald einem Jahr, hat sich mein Training sehr verändert. Bis dahin war "Leben lernen" immer […]