Seit einigen Wochen übe ich wieder vermehrt Radfahren. Dabei mache ich auch Selfies im Fahren, die beides meine Wahrnehmung trainieren. Es war und ist noch immer ein weiter Weg dorthin.
Mit dem Rennrad unterwegs zu sein, ist ein wichtiger Baustein, um schneller reagieren zu lernen. Das Radfahren dient in erster Linie meiner Wahrnehmung im Äußeren, wobei aber auch der Inneren eine Bedeutung zukommt. Mit der Propriozeption habe ich sowieso eine Aufgabe, die mir oft endlos erscheint.
Seit 2017 versuche ich meine Rehabilitation mit Fotos zu dokumentieren. Ich werde immer wieder dazu gefragt, wie ich das denn am Rad mache. Das Problem ist bei mir ja die Feinmotorik der Finger und die Tiefensensibilität. Von daher kommt es, dass ich gerade von den ersten Jahren meiner Rehabilitation nicht viele Fotos habe.
Mit dem Training der Feinmotorik in den Fingern höre ich bis heute nicht auf. Es ist einer der vielen Punkte, die alle meinen Gesamtzustand ausmachen.
Zuerst nur im Stand am Rad sitzend, versuchte ich mich im Laufe der Zeit auch während dem Fahren an Selfies. Zweimal ist mir das Handy aus der Hand geglitten, ich hatte aber Glück, es ist nie zerbrochen. Ich brauche aber auch ohne Radfahren jährlich ein bis zwei Handys. Die Feinmotorik lässt noch immer zu wünschen übrig.
Außerdem mache ich meist viele Fotos, von denen ich hoffe, dass eines geworden ist. Ich habe mich auch schon am Filmen versucht, aber das ist ein anderer Fall. Mein Gehirn macht da nicht mit und ich bin schnell überfordert. Ich zeige natürlich nur die besten Fotos, die unzähligen Versuche dazu sieht man natürlich nicht.
So geht es auch mir, denn man sieht nur mich als Ergebnis, allerdings sieht niemand das viele Training oder wenn ich einmal nicht mehr kann. Gerade Treffen mache ich meist nur unter besten Voraussetzungen, die oft rar sind. Das bekommt man dann zu sehen. Das ist wie ein Bild, für das aber viele notwendig waren.
Die äußere Wahrnehmung bezieht sich auf die Umweltwahrnehmung und damit sind Menschen und Gegenstände gemeint, wie fahrende Autos oder andere Fußgänger. Nur langsam lerne ich, die Geschwindigkeit des eigenen Körpers oder eines Autos, zum Beispiel für die Überquerung einer Straße, richtig einzuschätzen.
Um über eine Straße zu kommen, brauchte ich anfangs mehrere Minuten. Ich musste oft 30 Sekunden in eine Richtung schauen, bis ich erkennen konnte, dass nichts kam. Das Gleiche auf der linken Seite. Allerdings war ich mir dann nicht mehr sicher, ob rechts nichts kommt und so begann das Spiel von Neuem.
Beim Radfahren ist wichtig, alle auftretenden Hindernisse schnell zu erkennen, was eine große Steigerung im Gegensatz zum Überqueren einer Straße war. Diese äußere Wahrnehmung im Ansatz wieder zu erlernen war der Grund, weshalb ich erst nach vier Jahren mit dem Radfahren beginnen konnte.
Anfangs konnte ich nur alleine fahren, denn ich musste derart aufmerksam mit mir und der Umgebung sein, eine Begleitung hätte mich nur abgelenkt. Das dauerte damals mehrere Monate, bevor ich mit meinem Freund Harry zusammen Radfahren ging. Mit ihm hatte ich in Australien, Alaska und Afrika Radrennen bestritten und jahrelang zusammen trainiert. Das geht nur, weil ich großes Vertrauen in ihn habe. Mit anderen Personen traue ich mich noch nicht. (Hier geht's zum: Wie ich Radfahren begann)
Ich musste zuerst mein räumliches Vorstellungsvermögen wieder herstellen. Step by Step steigerte ich mit meiner Wahrnehmung auch die Kilometer, sowie die Zeit, die ich auf dem Fahrrad verbringen konnte. Eineinhalb Stunden waren damals, Ende des Jahres 2020, möglich.
2021 lag mein Focus allerdings wieder am Gehen, meinem Ziel geschuldet, dem Walkabout durch Österreich. Über den darauffolgenden Winter saß ich nur sehr sporadisch am Rad, wodurch sich die Wahrnehmung stark zurückbildete. Das war aber auch der Pandemie geschuldet, dessen Folgen mir im Nachhinein betrachtet sehr stark zusetzten und dieses Jahr umso stärker herauskamen.
Ich startete diesmal zwar nicht bei null, musste aber trotzdem Radfahren in der Wahrnehmung neu lernen. Besonders mein Muskelkorsett war miserabel und verhinderte langes Sitzen. Ich fühlte mich wie eine schlecht gespannte Marionette.
...beschränkt sich nicht nur darauf, was ich außerhalb meines physischen Körpers erfahre, sondern bezieht sich auf das spüren von Gefühlen und Emotionen, wie Freude oder Unbehagen.
Da hat der Hirnabszess am Thalamus ganze Arbeit geleistet, denn er steuert den Körper. So habe ich alles neu zu lernen, selbst heute, nach über sechs Jahren noch immer. Es scheint ein endloses Thema zu sein. Setzte ich nur kurz aus mit dem Training, bildet sich alles zurück.
Seit September 2019 gehe ich regelmäßig zum therapeutischen Tanzen. Dort lerne ich nicht nur die Bewegung neu, sondern auch meine innere und äußere Wahrnehmung wiederzuerlangen. Deshalb ist diese Art der Therapie so genial für mich und es ist mir unverständlich, dass es nicht von der Krankenkasse anerkannt wird.
Ich habe dort die Möglichkeit, in einem geschütztem Rahmen, diese innere und äußere Wahrnehmung wiederzuentdecken und auszuprobieren. Ob Einzelstunde oder im Gruppentraining, jede Stunde birgt eine neue Erfahrung, die mich weiter bringt. Es bringt mich oft an die Grenze, aber nur dort ist ein Weiterkommen möglich.
Vieles in der Therapie gelernte, kann ich auch beim Radfahren umsetzen oder hilft mir, weiterzukommen. Denn gerade die Wahrnehmung ist beim Radfahren besonders gefordert.
Die Themen Freude und Genuss konnte ich erstmals erfolgreich beim Radfahren umsetzen. Bisher war Radfahren mehr Therapie oder Krafttraining, aber letztens konnte ich 15 Kilometer unter Genuss zurücklegen.
Viel weiter hätte es nicht sein dürfen, dann wäre es vorbei mit dem Genuss gewesen. Durch die Körper- und Muskelschwäche gerate ich schnell ans Limit. Dieses Limit immer weiter hinauszuschieben, ist mein Ziel. Das bringt mir auch für den Alltag viel.
Dabei ist es wichtig, auf mich zu hören und meiner Eigenwahrnehmung zu vertrauen. Diesmal bin ich rechtzeitig vom Rad gestiegen und konnte die Ausfahrt unter Genuss verbuchen. Ein wichtiger Tag für mich, denn es werden auch wieder andere Tage kommen, Tage des Trainings und Tage wo es mir nicht so gut geht.
So aber kenne ich jetzt das gute Gefühl, welches ich mit Leichtigkeit verbinde. Ich darf mich nur nicht beirren lassen, es wieder zu spüren. An Tagen wo ich Radfahren gehe, darf ich umso mehr meiner Eigenwahrnehmung vertrauen und lerne jedes Mal, mehr zu spüren. Wann ist es Genuss oder wann darf ich wie weit gehen, im Krafttraining.
Der Hirnabszess und dessen Folgen sind mit Abstand mein längstens und wichtigstes Rennen im Leben,vorher war alles nur die Kür.
Da fällt mir nur mehr ein Spruch im geplanten Vespa-Film ein: