Drei Monate sind seit meiner Einlieferung vergangen. Die Tendenz ist zwar aufwärts, aber sehr langsam und mit einigen Auf und Ab. Trotz Schwindel und kaum Kraft wird an meiner Mobilität gearbeitet. Ich muss mich bewegen, wenn es täglich auch nur eine kurze Zeitspanne ist. Gehen lernen steht an.
Es heißt aufpassen. Der Grad zwischen „es geht“ und „es geht nicht mehr“, ist sehr klein. Ihn heißt es nicht zu übersehen.
Zweimal habe ich ihn bereits überschritten. Innerhalb weniger Augenblicke ist mir schwindlig und ich breche zusammen. Deshalb darf ich nicht ohne Begleitperson aus dem Bett. Im Normalfall eine Krankenschwester, im speziellen die Physio- oder Ergotherapeutin. Ein Rollstuhl ist Pflicht, ohne ihn geht nichts.
Meist passiert es nach Therapien, die mich immer besonders fordern. Im Normalfall fahre ich nach Therapien mit dem Rollstuhl zurück. Manchmal glaube ich, ich kann noch gehen, werde aber schnell eines besseren belehrt. Auf dem Weg zurück ins Zimmer habe ich dann meistens ein kurzes Blackout. Es geht so schnell, dass ich nicht mal mehr Zeit habe, mich hinzusetzen. Dabei ist es wichtig, dass mich die Begleitperson auffängt und kontrolliert zu Boden lässt.
Die Bewusstlosigkeit ist meist nicht von langer Dauer. Wenn ich wieder zu mir komme, liege ich seitlich und frage mich, was los ist. Mehrere Personen sind um mich herum, um zu helfen. Ich werde in einen Rollstuhl verfrachtet und zurück ins Bett gelegt. Die Beine hoch und nur mehr liegen. Das Bett verlassen darf ich an solchen Tagen nicht mehr und unter verstärkter Aufsicht bin auch die folgenden Tage. Meiner Ergotherapeutin Kerstin danke ich besonders für Ihre Hilfe und das Vertrauen.
Ich bekomme mehrere Arten von Therapien.
Alle Therapien helfen auf ihre Art, meine Defizite zu beheben oder besser damit umzugehen. Besonders wichtig ist mir die Physiotherapie, denn Gehen zu können ist mir essentiell wichtig. Noch glaube ich, dass es nur eine Frage der Kraft ist. Aber ich muss erkennen, dass die Technik genauso wichtig ist.
Noch weiß ich nicht, das es nicht nur von der fehlenden Kraft abhängt, dass ich gehen kann. Auch das neurologische spielt eine Rolle. Jedenfalls muss ich von Grund auf neu Gehen lernen.
Auch wenn ich früher Gehen konnte, ich muss es jetzt neu lernen. Besonders wie ich die einzelnen Körperteile und Muskeln zueinander bewege. Wie Training funktioniert, habe ich in vielen Jahren Leistungssport gelernt. Ich weiß, was ich für die letzten Prozent trainieren muss. Das alles hilft mir jetzt aber nicht. Ich weiß nicht, was es bedeutet, von NULL weg anzufangen.
Es ist so viel zu beachten, dass ich fast überfordert damit bin. Haltung, Technik, entspannt gehen, die Finger nicht verkrampfen – es ist zu viel auf einmal. Mein Gehirn kann sich derzeit nur auf eine Sache konzentrieren. Schaue ich zu stark auf die Technik, verkrampfe ich mit den Fingern und der Hand. Achte ich darauf das die Finger locker sind und damit die Handgelenke, neige ich dazu, zu aufrecht zu gehen. Ich bringe es kaum auf einen gemeinsamen Nenner.
Nach dem Geh-Training bin ich immer körperlich fertig. Das Ziel ist es, wieder automatisch zu funktionieren. Ein langer Weg steht mir bevor. Man bringt mir den Vergleich mit einem Kleinkind. Wie lange braucht ein Kleinkind zum Gehen lernen?
Am Anfang halte ich mich immer am Handlauf fest. Ich würde sonst umfallen. Die Gleichgewichtsstörungen sind zu stark. Nach und nach dehne ich das Gehen immer weiter aus. Erst 10, dann 20, dann 30 Meter. Im Wochentakt.
Bei Türen ist die Stange unterbrochen. Eine besondere Herausforderung, diese zu überqueren. Am Anfang stütze ich mich am Rand ab, oder lasse die Finger, leicht an der Wand oder Türe tippend, mitlaufen. An der anderen Hand berührt mich ganz leicht die Therapeutin. Verkrampfe ich, tippt sie mich leicht an der Handfläche an. Sofort lasse ich locker. So mache ich Meter um Meter. Immer wieder muss ich dazwischen sitzen und mich erholen.
Ich freue mich irrsinnig, als ich soweit bin, den Gang frei gehend entlang zu marschieren. Die Grenzen verschieben sich langsam, aber sie verschieben sich. Früher waren es 200 km mit dem Rad zu fahren, 100 km zu Laufen, auf einen 6000er zu steigen – das ist im Moment vorbei, für mich heißt es umdenken. Die Wichtigkeiten haben sich verschoben. Beim Gehen lernen relativiert sich viel.
Trotzdem sind die früheren Bilder wichtige Antreiber. Das Gehen strengt mich so an, dass sofort Bilder von Gipfelgängen auf hohe Berge hochkommen. Dort war Höchstleistung im Schneckentempo gefordert. Ähnlich wie jetzt.
Beim Gehen habe ich sofort einen hohen Puls. Der Denali in Alaska ist mein Favoriten bild. Schritt für Schritt dem Gipfel entgegen. Mit dem Unterschied, dass ich jetzt noch langsamer als damals unterwegs bin. Bei der geringsten Belastung schnellt mein Puls nach oben.
In etwa so stelle ich mir die Besteigung des Everest vor.Kurz vor meiner Krankheit sprach ich noch mit Clemens, meinem Rechtsanwalt. Er versuchte sich bereits zweimal am Everest. Er führt übrigens einen lesenswerten Blog über seine Bergbesteigungen unter www.dattinger.at. Mehr im Spaß, insgeheim aber wahrscheinlich doch im Ernst, sagte ich einmal, „Das nächste mal fahre ich mit!“. Aber wie das Leben so spielt, kurz darauf finde ich mich in meinem persönlichen Everest wieder. Zumindest brauche ich nicht so weit zu fahren.
Noch habe ich aber meine Hausaufgaben zu machen. Stiegen steigen ist als nächstes dran. Einige Tage nach der OP lerne ich zum ersten Mal die Stiegen auf der Neurochirurgie kennen. Mit bekanntem Ergebnis, wie im Blog 5 erzählt.
Zurück auf der Neurologie muss ich noch die Umstellung auf die neuen Antibiotika vertragen, ehe ich Stiegen steigen kann. Erbrechen und schlecht sein wechseln sich die folgenden Tage ab. Die Umstellungen sind notwendig, um das Abszess und Ödem einzudämmen. Solange es noch im MR zu sehen ist, habe ich diese Therapie fortzuführen. Außerdem bekomme ich ein Mittel zur Kreislaufstabilisierung, es hilft aber wenig.
Am 7.Juni geht es mir Vormittags nicht gut. Gegen ein Uhr kommt Lydia, meine Physiotherapeutin. Nach einer Massage macht sie mir einen Vorschlag. Ob ich nicht den Ergometer ausprobieren möchte. Und ob ich wollte. Mit dem Rollstuhl fahre ich in den Turnsaal und voller Freude setze ich mich auf den Ergometer. Zuerst noch mit Stufe 1, fahre ich bald auf Stufe 3. Es tut sooo gut.
Mein Kreislaufproblem ist wie verflogen und ich fühle mich gut, wie seit langem nicht. Es heißt aber aufpassen, dass ich nicht in der Euphorie übertreibe. Nach einer Viertelstunde ist Schluss. Ich kann fast nicht absteigen, meine Beine zittern. Ich bin aber zufrieden wie lange nicht, dabei steht mir das nächste Highlight noch bevor.
Um halb drei kommt Silvia. Sie nimmt den Rollstuhl und führt mich damit vors Haus ins Freie. Es ist für mich seit zweieinhalb Monaten das erste Mal im Freien. Ich sehe den Himmel, ich berühre das Gras, ich kann nicht beschreiben was ich empfinde. In meinem Tagebuch ist es erst der zweite Eintrag, seit ich es habe. In fast unleserlicher Schrift steht da: „Ich war wie im siebten Himmel!“.
Fünfzehn Minuten halte ich aus, dann geht´s wieder rein. Für mich waren diese fünfzehn Minuten einfach traumhaft. Gehen im Freien ist mir allerdings noch nicht möglich.
Auf die guten Tage folgen schlechtere. Am 13.Juni wieder einmal Umstellung der Antibiotika. Wieder muss ich erbrechen. Bis 17. geht es mir schlecht. Die Therapien sind verkürzt oder werden ausgelassen. Erst danach ist Gehen wieder möglich. An manchen Tagen werde ich für Dreißig Minuten mit dem Rollstuhl in den Tagesraum geführt. Körperlich bin ich am Boden. Solche Rückschläge sind nicht zu vermeiden. Aber ich weiß, es geht danach wieder aufwärts.
Gute Tage folgen. Und ich nütze sie, wo ich kann. Ich steigere die Meter beim Geh-Training. Einmal jogge ich sogar für zwei Minuten auf dem Laufband. Danach bin ich aber groggy. Es soll das einzige mal in fünf Monaten Krankenhaus sein, dass ich gelaufen bin. Es war einerseits frustrierend, andererseits war ich froh es tun zu können. Allerdings sehe ich gleich ein, dass es noch nichts bringt.
Wenn der Tag einen Meter dauert, sind es auf Zeit umgerechnet, nur zwei bis drei Zentimeter, die ich körperlich nutzen kann. Körperlich oder geistig besser gesagt. Es ist egal was ich tue. Gehen oder Denken, es ist beides gleich anstrengend und nimmt beider maßen von der mir zur Verfügung stehenden Zeit. Es ist also egal, ob ich in der Logopädie denke, in der Ergo greife oder in der Physio gehe. Ich habe ca. dreißig Minuten am Tag, die ich gezielt mit Therapien verbringen kann. Dauert es länger, schleppe ich mich halt dahin. Viel Ruhe ist daher wichtig. Mein Ziel ist es, diese Zeit immer mehr auszudehnen. Eben Step by Step Gehen lernen.
Mein größtes Handicap ist der Schwindel, das Gleichgewichtsgefühl und die Koordination. Nach vier Monaten im Krankenhaus schaffe ich es endlich, über fünfzig Meter zu gehen. Verunsichert bin ich darüber, wie langsam es voran geht. Ich glaube noch immer daran, dass ich nach dem Krankenhaus ein Monat in der Reha-Klinik verbringen werde und dann wieder fit bin.
Das Gehen lernen wird mir noch lange erhalten bleiben.
[…] spreche ich auch nach über vier Jahren noch vom Gehen lernen. Am Anfang musste ich die Gliedmaße sehen, um sie ausführen zu können, wie zum Beispiel die […]