48. Wie fand ich die Motivation, mein zweites Leben zu beginnen?

9. März 2018
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5 Minuten Lesezeit

Was hält uns an, im Leben weiter zu tun? Was ist die Motivation? Warum möchten wir Ziele erreichen? Warum weiter leben?

Diese Fragen waren da, aber ich stellte sie mir nicht. Konnte besser gesagt gar nicht. Ich hatte nur Gedanken für das unmittelbar Nächste, was anstand. Andere Gedanken kamen nicht auf, denn es ging einfach nicht.

Erfahrungen im Grenzgang

Als ehemaliger Leistungs- und Extremsportler ging es für mich immer darum besser zu werden. Wollte ich Geld damit verdienen, musste ich sehr gut in dem sein, was ich machte. Ich war fokussiert und musste manches Opfer bringen, um meine volle Leistungsfähigkeit auszuschöpfen. Erfolg, nicht nur materieller Art, ist der Lohn dafür.

Ich habe immer am eigenen Leib verspürt oder wie es sich anfühlt, an die eigene Grenze zu gehen und meine Grenzen auszuweiten. Diese Erfahrung hat mir geholfen, mich weiter zu entwickeln und den ständigen Lernprozessen des Lebens zu folgen. Das habe ich vor dem Hirnabszess vergessen. Danach wurde ich umso eindrücklicher wieder daran erinnert.

Iditasport Race Alaska
Iditasport Race Alaska

Sportvergangenheit und Rehabilitation

Die Sportvergangenheit hat mir vom ersten Tag an geholfen, zuerst noch unbewusst, an meiner Rehabilitation zu arbeiten. Es war nicht nur die körperliche Seite wiederherzustellen, schwieriger ist es in solchen Situationen einen guten "Mind" zu behalten.

Die Einstellung zählt, bewusst oder unbewusst, wenn man nicht funktioniert. Es wäre leicht gewesen aufzugeben, aber durch meine Konditionierung als Sportler konnte ich gar nicht anders als 'Nicht  aufgeben'.

Im Krankenhaus
Im LKH Graz, kurz nach der OP

Am 27.März jährt sich mein zweites Leben zum zweiten Mal. Ja, es sind seither schon zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre, in denen ich mich nachträglich oft selber frage, woher ich die Kraft nahm zurück ins Leben zu wollen. Ich fiel von einem Tag auf den anderen von einem Läufer, der 50 Kilometer in den Bergen zurücklegen konnte, in den Zustand der Bettlägerigkeit und Abhängigkeit.

Die folgenden fünf Wochen sah ich kein Badezimmer oder WC von innen. Alles wurde, großteils von anderen Personen, ausschließlich im Bett für mich erledigt. Für mich zuerst ein unerträglicher Zustand, über den ich, Gottseidank, damals nicht weiter nachdenken konnte. Ich ließ es geschehen und war dankbar dafür, Menschen die mir helfen, um mich herum zu haben. Meine Motivation ins "normale" Leben zurückzukehren, wurde damit größer.

Stop
Zwischenstop

VERTRAUEN - ein wichtiger Punkt, um zu überleben

never give up, Motivation

Ich konnte nicht an die Zukunft denken. Ich war völlig im HIER und JETZT gefangen. Und das war auch gut so. Nachdenken über die Situation, in der ich steckte, hätte zuviel Energie gebraucht. Die war für Essentielleres reserviert.

Ich war gefangen in meinem Körper und vertraute einzig darauf, dass er alles richtig macht und das Richtige für mich gemacht wird. Diesem Vertrauen gab ich mich völlig hin, brauchte nicht darüber  nachzudenken. Das war der erste Schritt zur Gesundung - VERTRAUEN!

Das lässt mich täglich, seit zwei Jahren, weitermachen. Vertrauen darin zu haben, dass nichts stillsteht. Es immer weiter geht.

Veränderungen waren unter anderem mein Thema vor dem Hirnabszess. Ich war der Meinung, mich nicht verändern zu können, ja, zu dürfen. Zuviel sprach dagegen. Veränderungen waren halbherzig und nicht mit vollem Ernst durchgezogen. Die Krankheit brachte dann eine grundlegende Veränderung. Ich lernte sie anzunehmen. Nicht Annehmen hätte ein Aufgeben des Lebens bedeutet. Im Nachhinein gesehen war es doch möglich zu verändern.

Die Motivation am Anfang

Rollstuhl

Meine Motivation bestand am Anfang darin, wieder gehen zu lernen. Ich durfte lange nicht ohne eine anwesende Krankenschwester aus dem Bett aufstehen, geschweige denn, zum zwei Meter entfernten Esstisch im Zimmer zu gehen.

Um aufs Klo zu gelangen, musste ich eine Schwester rufen, die mich im Rollstuhl hinbrachte. Sie half mir, mich umzusetzen und ließ mich dann mein Geschäft alleine machen. Dauerte es länger, fragte sie mich durch die Türe, ob es mir gut geht. Ich konnte ja jederzeit einen Schwindelanfall haben.

Abgesehen davon, konnte ich nur einen kurzen  Augenblick stehen. Alleine die Hose hochziehen war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Alles Punkte, die meine Motivation aber nur steigerten. Ich WOLLTE es wieder können. (Hier gehts zum Beitrag übers Gehen lernen)

Solche Erlebnisse machen einem bewusst, wie abhängig man von anderen ist und welch kleiner Stein man im Universum ist. Er macht zugleich dankbar dem Leben gegenüber und man lernt den Moment zu schätzen.

Wahrscheinlich regt es mich daher so auf, dass meine Kinder so viel Zeit vor dem Computer verbringen. Denn ich habe gelernt, meine Zeit sinnvoll einzusetzen, selbst wenn das Schlafen bedeutet. Ein Computer ist für mich definitiv nicht das Lebenssinn stiftende. Wer einmal erfahren hat, wie schnell es zu Ende sein kann, der lernt den Moment mit sinnvollen Bereichen zu füllen.

Habe ich heute meinen Prozess gewürdigt?

Das wurde eine bedeutende Frage für mich, bis heute. Ich neige oft dazu, zu sehen, was nicht geht. Ich kann den Fortschritt oft nicht selbst sehen und hadere eher damit, dass etwas noch nicht funktioniert. Einerseits gut, denn Ungeduld treibt mich an, es wieder und wieder zu versuchen. Andererseits darf ich akzeptieren, wo ich stehe.

Es ist ja keine Prüfung, sondern es ist mit einem Haus vergleichbar. Jeder Tag, jedes Training ist wie ein Baustein. Ziegel um Ziegel baue ich auf und es dauert lange, bis das Haus steht.

Rehabilitation wie Hausbau

Meine Rehabilitation ist wie ein Haus bauen. Und vorrangig ist und bleibt es: Habe ich mich heute dafür gewürdigt? Habe ich erkannt, dass mich jeder Tag vorwärtsbringt, was es auch ist. Habe ich, wenn auch nur einen kleinen Ziegel, aufgebaut fürs Leben.

Die Fortschritte können langsam sein

Die Fortschritte in der Neurologie, besonders was die Nerven betrifft, können sehr langsam sein, fast nicht erkennbar. Für mich als Betroffenen ist das oft frustrierend. In solchen Momenten heißt es zu akzeptieren und zu würdigen, dass es so ist. Nicht darüber jammern, was nicht geht. Dann geht es allen, inklusive mir, besser.

Motivation aus Zeitschriften

Freude Trailrunning

Ich sehe mir gerne Trailrunning - Zeitschriften an. Seit ich aus dem Krankenhaus bin, habe ich mir jede Ausgabe der Trailrunning Szene gekauft. Da ich viel mit der Kraft der Vorstellung arbeite, tun mir die schönen Trail-Bilder gut. Solche Art der Motivation tut gut.

Gerade das Trailrunning hat mir im bisherigen Verlauf sehr geholfen, auch wenn ich es nicht ausüben kann. Es motiviert mich täglich alles dafür zu geben, solche Momente wieder zu erleben.

Zurzeit ist es ja so, dass ich bergauf nur unter großen Anstrengungen gehen kann. Die konditionelle Verbesserung geht nur im Rahmen der neurologischen Möglichkeiten. Es geht nicht so schnell, wie früher im Sport. Es dauert um ein Vielfaches länger. Viel Wissen muss ich erst wieder reaktivieren.

Da helfen mir die Tipps aus der Zeitschrift sehr gut. Im letzten Heft sind gute Beispiele für Visualisierungstechniken angeführt, wie auch für Outdoor Gym. Mein Gedächtnis braucht immer wieder einen Anstupser. Ich vergesse oft innerhalb von Sekunden, was ich eigentlich wollte. Ich arbeite zwar dran, aber ich brauche immer wieder die Erinnerung. In Zeitschriften bekomme ich wertvolle Hinweise, die mir weiter helfen.

Visualisieren - geistige Rehabilitation

Als besonders gut fand ich die Visualisierungstechnik vom Phyisiotherapeuten Florian Reiter: Ein unsichtbarer Faden zieht dich nach oben, zum Beispiel an einem Husky hängend. So trainierte ich kürzlich am Schlossberg in Graz, den ich zum ersten Mal zu Fuß erklimmen konnte. In Gedanken wurde ich von einem Husky hochgezogen.

So finde ich immer wieder viele gute Tipps für meine Reha. Step by Step!

Planen - derzeit nur kurzfristig

Plan

Außerdem habe ich immer gerne geplant. Vieles, vor allem Längerfristiges, geht noch nicht zu denken, weil ich Gedankensprüngen oder einen Gedanken weiter zu denken, noch nicht mächtig bin.

Wann kann ich wieder laufen, wann kann ich wieder Reisen? Es ist da, aber zu weit weg. Noch nicht zu beantworten. Wichtiger sind die kurzfristigen Pläne. Sie sind notwendig, um die Gegenwart besser zu erleben.

Einen Plan fürs Gehen zu erstellen. Einen anderen fürs Lernen am Computer und einen anderen für die Zeit mit der Familie.

Umso besser geplant, umso besser funktioniert alles.

So viel zu "meinem Weg zurück" derzeit, der mit vielen Herausforderungen gespickt ist.


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Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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