Mein Jakobsweg hat ein paar nüchterne Zahlen. Er ist aber mehr als das, denn für mich zählen die unzähligen Erlebnisse und Erfahrungen, die ich mit Handicap dort machen durfte.
Die Zahlen zeigen es nur Nüchtern:
Ich habe noch nie die genauen Kilometer oder die Anzahl der Tage nachgerechnet. Mir war es wichtiger, unterwegs gewesen zu sein.
Es ging los im Wissen, dass ich nichts wusste. Ich musste ausbrechen, aus zweieinhalb Jahren Therapie, Rehabilitation, Training und Üben.
Dazu kamen Probleme in der Beziehung, die die Sache nicht einfacher machten.
Eines wusste ich allerdings. Im Sommer stand mir ein Rehaklinik-Aufenthalt bevor und ein weiteres Jahr, in dem es um meine weitere Wiederherstellung geht.
Innerhalb von zwei Wochen entschied ich mich zum Camino Frances zu fahren. Zu organisieren hatte ich nicht viel. Ausrüstung hatte ich so gut wie alles von früher. Ich verwendete einfach einen Großteil der Sachen vom Trailrunning. Leichtigkeit war wichtig und da hatte ich schon vorgesorgt.
Einzig über die Anreise musste ich mir Gedanken machen. Aber das sah ich alles als Übung für mein Gehirn. Weiterführendes Denken war gefragt. Einfachste Sachen wie, welcher Bus wohin und welcher Bus folgt dann, hatte ich zum Überlegen. Habe ich genug Zeit zum Umsteigen und so weiter.
Damit beschäftigte ich mich tagelang, bis die Route stand. Allein mit dem Buchen hatte ich lange zu tun. Einmal passierte es, dass ich dieselbe Strecke zweimal buchte und bezahlte, weil ich den Überblick verlor.
Also stand gleich am Anfang einmal das Denken am Programm. Ich ließ mir dabei nicht helfen, sondern wollte es alleine schaffen. Diese Erfahrungen wollte ich selbst machen. Wie im Krankenhaus, als ich mir nicht die Zähne putzen lassen wollte. Vom ersten Tag an putzte ich sie mir selbst, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Die Krankenschwestern waren damals froh über meinen Willen, zeigte es doch, dass ich wollte.
Den gleichen Willen zeigte ich jetzt wieder. Es alleine zu schaffen, bedeutete mir viel. Ich wollte meine Selbstbestimmung zurück und daran arbeite ich auch in Zukunft. Es ist mir egal, wenn mir Fehler unterlaufen. In der Regel kann man sie korrigieren. Und wenn nicht, auch gut.
Das Denken und die richtigen Entscheidungen treffen sollte mich die ersten Tage am Weg begleiten.
Später begann ich, mir nicht zu viele Gedanken zu machen. Ich wollte meinen Kopf leer bekommen. Denn wie gesagt, weiterführendes Denken ist mein Problem.
Im Laufe der Zeit sammelten sich viele Fragen an und diese geisterten immer wieder in mir herum. Es blieb aber bei den Fragen, ich konnte keine Antworten finden. Die Fragen drehten sich im Kreis. Oft lag ich ein, zwei Stunden halbwach und die gleiche Frage drehte sich in meinem Kopf im Kreis.
Ich wollte also im Kopf leer werden. Das ging am besten durch Gehen. Denn noch immer muss ich die Bewegung andenken und bin damit ausgelastet. Das sind Erfahrungen, die ich so nicht kannte.
Je länger ich ging, desto größer war die Chance, leer zu werden.
Früher war ich Spezialist für Multitasking. Als Videojournalist eine Grundvoraussetzung. Allerdings lernte ich nun Multitasking auf einer neuen Ebene kennen.
In meinem Fall bedeutet das, während des Gehen mit jemandem zu sprechen oder eben auch, anderes zu denken. Am Anfang des Gehen lernen war Multitasking für mich, mehrere Muskeln gleichzeitig bedienen zu können.
Deswegen verbraucht man zum Denken gleich viel Energie wie für die Bewegung. Das Hirn ist vergleichbar mit einem Hochleistungs-Muskel.
Meine Bewegung gehört somit untrennbar mit dem Denken zusammen. Übe ich das Eine, trainiere ich genauso das Andere. Ich konnte nur durch Erfahrungen lernen, die ich selber machte.
Drei wertvolle Lektionen habe ich am Camino vermittelt bekommen. Der Weg bietet so viel. Er hält für jeden etwas parat. Er spiegelt wider, worum es im täglichen Leben wirklich geht.
Habe ich was zum Anziehen, ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen. Um diese Dinge dreht sich im Wesentlichen alles. Er zeigt weitere Feinheiten des Lebens auf, die wir in unserer schnelllebigen Zeit oft nicht mehr wahrnehmen.
1. Der Weg ist das Ziel
Es war wichtig, die am Weg gewonnenen Erkenntnisse aufzunehmen. Natürlich gibt es am Jakobsweg das Ziel, nämlich Santiago de Compostela oder Finistère zu erreichen.
Dort wollte auch ich hin. Aber meine Ziele lagen nicht im Erreichen eines Ortes, sondern meine waren am Weg.
2. Auf einen Sonnenuntergang folgt ein Sonnenaufgang
Der ewige Kreislauf der Natur, der aber auch der unsrige ist.
Oft werden wir von vermeintlich schlimmem Schicksal getroffen. Aber alles hat auch was Gutes in sich. Wir können es oft nur nicht gleich erkennen.
3. Achtsamkeit
Achtsamkeit wurde seit dem Hirnabszess ein Teil von mir. Ohne Achtsamkeit geht gar nichts. Ich bin voll und ganz dort, was ich mache. UND NUR dort.
Achtsames Gehen ist am Camino mein bevorzugtes Training gewesen.
Thich Nhat Hanh, Zen Meister und Vater der Geh-Meditation sagte: "Stellt euch vor, dass dort, wo eure Füße den Boden berühren, Blumen wachsen!"
Für mich eine schöne Vorstellung:
Vor mir gehen gerade viele Menschen. Es wäre ein lustiges buntes Bild, wenn jeder einen Blumenteppich auf seinem Weg zurücklassen würde.
Ein Beispiel am Camino: Ich war während des Gehens nicht bei mir und dachte gerade an eine mich belastende Situation. Ich knöchelte um und stürzte. Ich war nicht beim Gehen. Wenn uns etwas passiert, dann sind wir mit den Gedanken meist woanders. Beobachtet das einmal?
Darum, alles Achtsam ausführen und versuchen Achtsamkeit ins Leben zu bringen. Eile mit Weile!
Für den zweiten Teil, nach der Reha, hatte ich mir mehrere Aufgaben gestellt. Eine war davon, dass ich mich mehr mit den Menschen auseinandersetzen wollte. Diese Erfahrungen konnte ich nur Step by Step machen.
Am Anfang probierte ich es, musste aber bald einsehen, dass es mich noch immer zu sehr belastete. So blieb ich bald wieder für mich alleine und suchte kaum Bekanntschaften oder Gespräche am Weg.
Ich musste einsehen, dass ich noch nicht so weit war. Es ließ mich halt wieder nur einen Teil des Camino erleben.
Denn hier hat jeder Mensch eine Geschichte im Hintergrund, die ihn hergeführt hat. Krankheit, Beziehungen, der Weg zu sich selbst oder sich einer Herausforderung zu stellen, sind nur ein paar davon. Und mit manchen teilt man seine Geschichten. Das ist das Einzigartige am Camino.
Für mich ein bedeutendes Erlebnis war das Aufeinander treffen mit Heather, einer Kanadierin und Schriftstellerin. Wir unterhielten uns stundenlang beim Gehen am Camino. Sie verarbeitete ihre Krankheit in einem Buch und ermutigte mich, dasselbe auch zu tun. Immerhin kam sie damit in Kanada auf die Amazon Bestenliste.
Solche und andere Begegnungen machen den Camino so besonders.
Die Städte waren erneut eine große Herausforderung. Ursprünglich wollte ich in Astorga ein oder zwei Tage bleiben, um mich nach der Reha wieder ans Freie zu gewöhnen.
Aber ich merkte schnell, dass es mehr Stress bedeutete, als das es mir was brachte. So übernachtete ich dort nur und zog gleich am nächsten Tag in der Früh los. Der Camino hatte mich wieder. Auf manche Erfahrungen musste ich eben noch verzichten.
Meine Haut wurde in der Reha wieder sehr dünn. Wahrscheinlich war es der wochenlange Aufenthalt, in dem ich kaum ins Freie kam. Am Camino spürte ich innerhalb weniger Tage eine Verbesserung. Man konnte mir sofort ansehen, dass mir das Gehen hier guttat.
Leider wurde es auch diesmal nichts mit Sightseeing. Städte durchwanderte ich und schlief in einsamen Herbergen am Land. Oft war ich nur zu zweit oder dritt in einer Herberge. Das tat gut.
Das sollte sich allerdings ab Sarria ändern. Es kommen hier mehrere Wege zusammen und es starten auch viele hier ihren Weg.
Von einem auf den anderen Tag waren Horden von Pilger-Touristen unterwegs. Vorbei war es mit der Einsamkeit. Erst zu Mittag ließ es nach und ich hatte den Nachmittag wieder für mich.
Die Berge flößten mir Respekt ein. Ging es doch in Höhen von 1.500 Metern. Allerdings begann ich bereits in 800 Meter Seehöhe.
Bei Tagesanbruch, um 8 Uhr, musste man die Herberge verlassen. Ich startete langsam, denn meine Nerven brauchen Wärme. So trödelte ich den Vormittag meist dahin und begann zu Mittag meinen Weg, wenn es heiß wurde.
Es war entgegen dem Rhythmus der anderen Pilger, die meist schon am späten Mittag ihr Ziel erreichten.
Für mich war es gut, alleine zu sein. Denn ich konnte nur langsam die Berge hochgehen. Step by Step, war mein Motto und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Alle paar hundert Meter machte, ich pause. Gleich einer Schnecke kroch ich die Berge rauf und runter.
Die Langsamkeit hatte aber einen Nebeneffekt. Das Gleichgewichtsgefühl hatte in der Langsamkeit seine Schwierigkeiten. Ich ließ mich aber nicht beirren und ging wirklich achtsam Schritt für Schritt. Bergab war es dann das Gleiche.
Jeder Tag bot mir die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen!