Vier Wochen bin ich wieder auf Reha in Judendorf und noch ist kein Ende der Krankheit, bzw. meiner Defizite in Sicht.
Heute, vor genau einem Jahr, am 23.Juni 2016, wurden mir zwei Zähne gezogen, insgesamt drei. Es waren die Auslöser für das Hirnabszess, neben dem Stress, der die Blut-Hirnschranke öffnen ließ.
Auf die Fortschritte zu Hause macht mich in erster Linie Silvia aufmerksam. Sie schimpft mit mir, wenn ich wieder einmal zu ungeduldig bin und mehr möchte, als ich zu leisten imstande bin. Ich kann es selbst schwer erkennen, da ich sowieso immer am Limit bin. In der Reha in Judendorf ist es Karin, meine Physio-Therapeutin, die mir klar macht, was sich seit meinem letzten Aufenthalt im Dezember getan hat. Sicher, für mich scheint es wenig zu sein, aber in Wirklichkeit hat sich enorm viel getan.
Im Juli 2016 konnte ich keine zwanzig Meter gehen und war rechtsseitig gelähmt. Jetzt, ein Jahr später, bin ich zwar noch immer eingeschränkt, kann aber einigermaßen gehen. Anfang des Jahres stand mir meine Ungeduld im Weg. Ich konnte oder wollte nicht glauben, dass es so lange dauern würde. Umdenken ist angesagt, ich darf keine Maßstäbe von früher anlegen. Laufen wird noch kommen, die Zeit muss ich mir eben geben.
Ich versuchte mich daran, in der Reha, die ersten Meter zu Laufen. Am Laufband. Zwei mal zwei Minuten mit sieben km/h laufen, dazwischen Gehen, mit vier km/h. Das war mehr als genug. Aufkommender Schwindel lässt mich vorsichtig sein. Ich darf nichts übertreiben, der Körper sagt mir sofort wo das Limit liegt.
Noch immer kann nicht gesagt werden, wann es vorbei ist oder ob es werden wird wie früher. Das musste ich erst verstehen lernen. Als Sportler war ich gewohnt auf ein Ziel hinzuarbeiten. Ein Rennen, eine Rundfahrt, eine extreme Unternehmung, Bergsteigen - alles war mit einem fixen Datum versehen, Beginn und Ende.
Mit der Krankheit habe ich erstmals eine Herausforderung bekommen, die kein zeitlich bestimmtes Ende, kein Enddatum hat. Das ist ungewohnt und neu für mich. Ich habe auch keine Erfahrung mit dem Training. Soviel ich auch über Training und Anatomie des Menschen kenne, es hilft mir nur bedingt weiter. Erst in der Reha wurde mir bewusst, wie komplex Gehen ist. Vor allem, wenn man plötzlich gezwungen ist, über die einzelnen Schritte, die zum Gehen notwendig sind, nachzudenken.
Beim Iditabike in Alaska, bei -30 Grad, checkt man in ähnlicher Weise seinen Körper ab. Ständig rotieren die Gedanken um; Wie geht es der Nase? Wie geht es den Fingern? Wie geht es den Zehen?. Dann kommt das Essen dran, dann das Trinken und nebenbei die ständige Konzentration auf den Trial. Und das alles immer und immer wieder. Nur so kann man Erfrierungen oder einem Hungerast vorbeugen, die fatal wären.
Heute geht es mir ähnlich, nur das es um Essentielles geht. Noch kann ich die einzelnen Schritte nur einen nach dem anderen abchecken. Ziel soll es sein, dass zu automatisieren. Die Beinstellung, die Oberkörperneigung, locker in den Händen bleiben, es ist anstrengend alles bewusst zu machen. Gehen und von Hundert runter zählen sind eine gute Übung dafür. Oft vergesse ich weiter zu gehen oder ich höre auf zu zählen.
Noch spießt es sich, aber dafür heißt es üben, üben und nochmal üben. Oder ich versuche auf einer weichen Matte das Gleichgewicht zu halten und jongliere zwei Bälle. Wobei jonglieren übertrieben ist. Ich gebe sie von einer Hand in die andere.
Damit bereite ich mich auf das Gehen vor. Wieder mehr Dinge auf einmal gleichzeitig tun können. Eben auch automatisch und nicht über jeden Schritt nachdenken zu müssen.
Was früher das Unterbewusstsein erledigte, kann ich nur bewusst einzeln denken. Mein Ziel ist es, diese vielen Teile wieder zu einem zusammen zu fügen. Es geht schleppend, aber es geht. Und das Gehen ist nur ein Beispiel für vieles mehr. Es trifft auf alle Lebenslagen zu, egal was ich mache. Kochen, Schreiben, Haushalt - es erleichtert einem viel, wenn alles wieder halbwegs automatisch funktioniert. Es gilt aber, Step by Step. Ich kann nichts erzwingen.
Und an diesen, oft kleinen, Fortschritten muss ich aufbauen. Ein kleiner Schritt nach dem anderen. Mein großes Ziel ist es, wieder Trailrunning ausüben zu können. Ich möchte gerne noch einmal am Eiger Ultra Trail am Start stehen. Ich tue mir leichter mit einem sportlichen Ziel, einem Rennen. Aus diesem Grund habe ich den Stein vom "Eiger Ultra Trail 2014" immer vor Augen. Er zeigt mir die Richtung, wenn es einmal hart auf hart geht.
An die berufliche Zukunft denke ich noch nicht, kann es noch nicht. Allerdings, eines steht fest. Kann ich im Gebirge laufen, kann ich auch wieder arbeiten. Bis dorthin ist aber noch ein weiter Weg zu gehen. Ein Weg, für den ich aber Top motiviert bin.
Es ist so, dass die heutige Gesellschaft eine Geschwindigkeit im Lebens schätzt, die nicht mehr gesund ist. Oft ist man gezwungen zu funktionieren, obwohl man eine Auszeit bräuchte. Hektik, Stress und Termine nehmen immer mehr zu. Die Schnelligkeit des Lebens nimmt zu.
Man steckt in einem Hamsterrad, das zu verlassen unmöglich erscheint. Es muss nicht unbedingt eine Krankheit sein. Besser (gesünder) wäre es, vorher die Veränderung zu wagen. Das traut sich aber fast niemand. Denn Veränderung macht Angst. Und Angst ist lähmend. Deshalb gibt es auch so viel Leid auf der Welt. Deshalb komme ich wieder auf das Denken zurück.
Jeder kann sich immer wieder die Fragen stellen:
Was denke ich gerade? Möchte ich so denken? Komme ich mit diesem Denken an mein Ziel?