Meine Therapie ist allgegenwärtig, denn quasi nebenbei, soll ich auch wieder Leben lernen. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Denn jede Aktivität ist ein Tun, um Körperlich weiter zu kommen. Es ist jedoch entscheidend, alles im richtigen Bereich zu machen. Eine 24/7 Vorbereitung auf das Leben.
Meine Rehabilitation hat Ähnlichkeit mit dem Leistungssport. Nur arbeite ich in einem anderen Leistungsbereich und habe ein anderes Ziel. Der Aufwand ist derselbe.
Geht es bei einem Sportler um eine Punktgenaue Abrufung von Leistung, geht es bei mir darum, die Abrufung der Basics zu lernen. Einfachste Dinge möchten wieder gekonnt werden. Vom Sport habe ich das Dranbleiben mitbekommen. Das hilft mir jetzt sehr, um an meiner Rehabilitation dran zu bleiben. Rückschläge möchte ich vermeiden.
Das erfordert Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen. Es ist ein Vorteil, dass ich mich gut spüre. Durch die Muskelschwäche darf ich mich nicht überfordern. Für das Fitnessstudio heißt das, ich darf mit maximal 60% meiner Maximalkraft trainieren. Alles darüber macht keinen Sinn und könnte den Muskel schädigen.
Dabei immer die genaue Belastung zu finden, ist das Kunststück. Nach dem Krankenhaus war ich noch guter Dinge und hatte eine Steigerung. Kein Wunder, begann ich doch mit 10 kg Beindrücken. Bald war ich auf 30 kg, aber jeder weitere Kilo bedeutete in Folge viel Arbeit.
Heute, nach vier Jahren, stehe ich bei 40 - 50 Kilogramm Beindrücken, je nach Befinden. Durch die Muskelschwäche stockt die Vorbereitung etwas.
Dabei heißt es aufpassen. Es fehlt mir noch immer die Koordination dafür und zweitens tut es mir nicht gut. Alles was mit Schnellkraft zu tun hat, ist mit Vorsicht zu behandeln. Es gab in den letzten Jahren nahezu keine Veränderung. Von einem Sessel zu steigen ist fast nicht möglich.
Besonders beim Gang-ABC muss ich nach wie vor aufpassen, um meinen Körper nicht zu überfordern.
Die Finger und Beine kann ich nur begrenzt lange trainieren, denn es ist eine Kombination aus gestörter Tiefensensibilität, verzögerter Reizweiterleitung und Muskelschwäche, die der Hirnabszess ausgelöst hat.
Spezielle Rezeptoren in den Muskeln und Gelenken, vermitteln die Information an das Gehirn über die Bewegung, die Haltung und die Position des Körpers im Raum, indem sie auf Druck oder Verformung reagieren.
Diese Reize entscheiden über die notwendige Positionsanpassung des Körpers über das Gehirn und senden wiederum entsprechende Befehle an die Muskeln.
Ich habe zwar wieder Greifen und Gehen gelernt, aber das Gefühl für die Feinmotorik fehlt. Es ist vergleichbar mit Alkoholkonsum. Oftmals ein Torkeln beim Gehen, im Stehen aus dem Gleichgewicht geraten oder den Abstand zwischen Füßen und Boden falsch wahrnehmen, sind die Folge. Ich kann auch eine Gangunsicherheit beobachten, deshalb bin ich auf der Strasse sehr vorsichtig.
Das sind nur die körperlichen Auswirkungen in der Bewegung, es gibt aber weitere im seelisch-geistigen Bereich, die einer eigenen Vorbereitung bedürfen.
Der Thalamus hat einen großen Aufgabenbereich. Er ist das Steuersystem für den Körper, Geist und Seele. Eine Schlüsselbedeutung hat er für Denk- und Entscheidungsvorgänge im Gehirn.
Im Thalamus wird gefiltert und Weitergeleitet. Er arbeitet unbewusst und wird nicht vom eigenen Willen beeinflusst. Alle Signale und Reize, die auf den Körper treffen, müssen vorverarbeitet werden. Der Thalamus entscheidet, welche weitergeleitet werden und welche blockiert werden.
Im Krankenhaus gab es keine Filter, ich war komplett durchlässig für alle Reize. Über drei Jahre waren bisher notwendig, den Ist-Zustand zu erreichen. In manchen Bereichen ist es besser geworden, aber die Stadt mit ihrem Lärm und zahlreichen Reizen setzt mir noch immer zu. Kleinste Schritte sind erforderlich, um mich wieder daran zu gewöhnen.
Mit dem bisher Erreichten bin ich auf einem guten Weg. Trotzdem wird es noch lange dauern, bis ich manche Reize wieder vertrage. Grelles Licht oder Feuerwerk, wie zu Silvester, mag ich noch nicht.
Die Krankheitszeichen sind ineinander verflochten. Ich habe an so vielen Baustellen gleichzeitig zu arbeiten, dass meine Rehabilitation meine ganze Aufmerksamkeit fordert. Da bleibt nur wenig Zeit dafür, auch wieder zu Leben. Nach drei Jahren Therapie, Training und Üben, ist die Zeit gekommen, auch wieder zu Leben. Das muss allerdings wieder gelernt werden.
Ein Großteil der Tages-Energie geht fürs (An-)Denken der Bewegung drauf. Es ist heuer eines meiner Ziele, dass ich gerne verbessern möchte, auch wenn's nur um Nuancen geht.
Im Moment ist alles Training für eine Vorbereitung auf mein neues Leben und die Vorbereitung auf den Camino im Winter, der eine Therapie im Alltag darstellt.