Vor neun Jahren hat ein Hirnabszess mein Leben aus der Bahn geworfen. Ein Einschnitt, den ich mir als Radsportler, Trailrunner und Videojournalist nie hätte vorstellen können.
Doch nach diesem Umbruch fand ich eine neue Art, Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen: das therapeutische Tanzen. Seit sechs Jahren begleitet es mich – und hat sich als eine der wirkungsvollsten Methoden in meiner Rehabilitation erwiesen.
Nach dem Hirnabszess war nichts mehr, wie es war. Die rechte Körperseite gelähmt, Worte oft unerreichbar, Erschöpfung allgegenwärtig. Gehen, Greifen, Sprechen – alles musste ich neu lernen. Jeder kleinste Fortschritt war ein Sieg. Doch es gab einen Moment, der alles veränderte: Ich spürte, dass Bewegung der Schlüssel ist.
Sport war immer ein Teil von mir gewesen, aber an Laufen oder Radfahren war lange nicht zu denken. Also begann ich mit sanften Bewegungen, mit physiotherapeutischen Übungen, mit ersten vorsichtigen Schritten zurück in den Alltag. Später begann ich zu Pilgern und hatte gerade meinen zweiten Jakobsweg beendet, den Camino Norte.
Im Wartezimmer meines Trauma-Therapeuten war ein Aushang an der Wand, wo therapeutisches Tanzen angeboten wurde. Mein Leben lang hatte ich Tanzen abgelehnt, aber da war etwas, was mich magisch anzog. Es wurde mein Wendepunkt, nach drei Jahren herkömmlicher Therapie: nämlich die Tanztherapie.
Zunächst klang es ungewohnt. Tanz als Therapie? Doch schon nach den ersten Bewegungen wurde mir klar: Es geht um mehr als Schritte. Es geht um Rhythmus, um Musik, um das Spüren des eigenen Körpers. Um Gleichgewicht und Koordination, um Beweglichkeit – und vor allem um Freude.
Anfangs war es eine enorme Herausforderung. Mein Körper fühlte sich fremd an, jede Bewegung war unsicher, jeder Takt forderte vollste Konzentration. Dazu fand es im Gruppentraining statt, das eine große Herausforderung für mich darstellte.
Doch dann kam der Rhythmus. Der Körper begann sich zu erinnern und ich lernte mich im Rhythmus zu bewegen. Bewegungen wurden fließender, das Zusammenspiel zwischen Kopf und Körper harmonischer. Schritt für Schritt fand ich in die Bewegung zurück. Selbst nach sechs Jahren verlasse ich jede Stunde mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen.
Konnte ich am Anfang nicht einmal zu Boden blicken, geschweige denn hinunterbeugen, ohne schwindlig zu werden, besserte sich das langsam. Heute, nach sechs Jahren des Übens und wertvoller Erfahrungen in der Therapie, habe ich Fortschritte erzielt, die vorher undenkbar gewesen wären. Bereits nach einem halben Jahr Therapie konnte ich die Verbesserungen auf meinem ersten Winter-Camino kurz vor der Pandemie umsetzen.
Heute, fast sechs Jahre nach meiner ersten Tanztherapie-Stunde, weiß ich: Es war nicht eine, sondern es war die beste Entscheidung auf meinem Weg der Heilung. Mein Körpergefühl hat sich verändert, meine Bewegungen sind geschmeidiger, meine Koordination stabiler. Und vor allem: Tanzen und Bewegung gibt mir ein Gefühl von Freiheit.
Was mir früher der Extremsport gab – das Spüren des eigenen Körpers, das Erleben von Bewegung – finde ich heute im Tanz wieder. Die Musik trägt mich, der Rhythmus führt mich. In diesen Momenten bin ich einfach da. Trotzdem kann mich eine Tanzstunde absolut ans Limit bringen, körperlich wie geistig.
Ein Hirnabszess verändert alles. Doch durch Bewegung, durch das bewusste Wiederentdecken des eigenen Körpers, kann man sich ein Stück Lebensqualität zurückholen – und vielleicht sogar eine neue gewinnen. Mein Pilgern und die Weitwanderwege haben mir in Kombination mit dem therapeutischen Tanzen eine Qualität in das Leben gebracht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Es war oft nicht einfach auf meinen Reha-Aufenthalten, mit dem Denken und den Aussagen anderer, darunter auch Ärzte, klarzukommen. Sie meinten es sicherlich gut, doch alles lief darauf hinaus, als Pflegefall betrachtet zu werden. Stark zu bleiben und diesem Bild entgegenzuwirken, erforderte enorm viel Energie und Durchhaltevermögen.
Tanztherapie ist weit mehr als körperliches Training. Es ist ein Weg zu sich selbst. Denn manchmal braucht es keine Worte – manchmal reicht es, sich zu bewegen. Und das unter der sachkundigen Führung meiner Therapeutin Hanna Treu, die genau erkennt, wo es gerade hakt oder worum es geht.
Unbegreiflicher weise wird diese Tanztherapie nicht von der Krankenkasse übernommen. Dabei hat sie mich davor gerettet, ein Pflegefall zu bleiben.
Therapeutisches Tanzen und Bewegung spielen eine zentrale Rolle in der Traumabearbeitung, da traumatische Erlebnisse oft nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich gespeichert werden. Der Körper erinnert sich an belastende Erfahrungen, selbst wenn sie nicht bewusst abrufbar sind.
Durch gezielte Bewegungen und improvisiertes Tanzen können diese gespeicherten Emotionen und Spannungen ausgedrückt und verarbeitet werden. Bewegung ermöglicht eine direkte Verbindung zwischen Körper und Psyche, indem sie hilft, erstarrte oder unterdrückte Emotionen ins Fließen zu bringen.
Tanztherapie bietet dabei einen sicheren Raum, um Körperempfindungen wahrzunehmen, neue Bewegungsmuster zu erproben und so innere Blockaden zu lösen. Dies kann das Selbstbewusstsein stärken, das Nervensystem regulieren und dabei helfen, traumatische Erlebnisse schrittweise zu integrieren.
Kurz gesagt: Durch Tanz und Bewegung kann das, was im Trauma erstarrt oder abgespalten wurde, wieder in einen lebendigen Ausdruck gebracht werden – ein wesentlicher Schritt in der Heilung.
Mein „Zurück ins Leben“ ist mehr und mehr einem kraftvollen „rein ins Leben“ gewichen – ein Wandel, zu dem die Tanztherapie in den letzten Jahren wohl am meisten beigetragen hat. Gerade während der Pandemie, als alle anderen Therapieformen wegfielen, war das therapeutische Tanzen für mich eine wertvolle Stütze.
So ist sie ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, neben dem Pilgern und Weitwandern.
Neun Jahre sind vergangen – 3.240 Tage, um genau zu sein. Eine Zeit voller Herausforderungen, voller Wandel. Seit meiner Diagnose Hirnabszess hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich musste mich neu finden, meine Identität immer wieder hinterfragen.
Der Walkabout durch Austria war ein erster Schritt auf diesem Weg, ein Erfolg, der mich näher zu mir selbst brachte. Ausgestattet mit Werkzeugen der Tanztherapie, gaben mir immer mehr Leichtigkeit im Leben. Doch auch heute noch frage ich mich oft: Wer bin ich eigentlich?
Mein Gehirn funktioniert nicht mehr wie früher. Der Hirnabszess und die anschließende, fünfmonatige Antibiotikatherapie im Krankenhaus haben mehr hinterlassen, als ich anfangs dachte. Bis heute setze ich nur einzelne Bruchstücke zusammen – doch ein vollständiges Bild ergibt sich daraus noch lange nicht.
"I had to trust more and to do less."
Identität ist nichts Starres, sie verändert sich mit Erfahrungen, Beziehungen, Werten und Überzeugungen. Ein Puzzle, das sich mit jedem neuen Erlebnis weiterentwickelt. Doch nach meiner Erkrankung fühlt es sich oft an, als würden einige Teile fehlen – oder als würden sie nicht mehr dorthin passen, wo sie einmal waren.
Mit der Zeit kam die Erkenntnis: Ich bin irgendwie nicht mehr dieselbe Person wie vor dem Hirnabszess. Körperliche Einschränkungen, emotionale Höhen und Tiefen, soziale und kognitive Veränderungen – all das fordert mich Jahr für Jahr aufs Neue heraus. Ich muss ein neues Selbstbild entwickeln, ein neues Ich zulassen.
Eine schwere Erkrankung stellt viele Aspekte der eigenen Identität infrage:
Körperliche Veränderungen: Mein Körper, einst ein verlässliches Werkzeug, wurde zur Quelle von Unsicherheit. Muskelschwäche und Schwindel ließen mein Vertrauen in mich bröckeln. Doch mit jedem Schritt auf meinen Pilger- und Weitwanderwegen kämpfe ich es mir zurück.
Dieses Jahr auf dem Hexatrek in den französischen Alpen – die Herausforderung technischer Passagen, das Überwinden von Hindernissen, das Wachsen mit jeder Hürde. Und doch, zurück zu Hause, muss ich mich zwingen in der Mitte einer Treppe hinunterzugehen, statt am Rand, entlang des Geländers. Diese Widersprüche führen mir vor Augen: Meine Behinderung ist und bleibt ein Teil meines Lebens.
Emotionale Achterbahn: Nach der Krankheit gab es nur Extreme – null oder hundert Prozent Emotionen. Das zu verstehen, dauerte lange. Es zu kontrollieren, beschäftigt mich bis heute. Viele Emotionen sind tief verwurzelt, Muster aus der Kindheit, die sich immer wieder zeigen. Sie zu erkennen und umzuwandeln, ist ein Prozess, der nur in kleinen Schritten gelingt.
Soziale Veränderungen: Beziehungen veränderten sich, Rollen mussten neu definiert werden. Nicht jeder konnte mit dem umgehen, was meine Krankheit mit sich brachte – ich selbst am wenigsten. Tiefgreifende Krisen stellen Beziehungen auf die Probe. Sie erfordern ein Umdenken, nicht nur von mir, sondern auch von meinem Umfeld.
Kognitive Beeinträchtigungen: Denken, Erinnern, die Verbindung zwischen Erlebnissen und Gedanken – oft fühlt sich das brüchig an. Die Welt um mich herum wirkt hektisch und überwältigend. Struktur fällt mir schwer, Konzentration ebenso. Seit acht Jahren lerne ich täglich, besser damit klarzukommen. Doch es bleibt ein Kampf.
In all den Jahren habe ich eines gelernt: Die Natur heilt. Das Gehen, die Stille, die Verbindung zur Umgebung – es ist, als würde ich Schritt für Schritt eine Brücke zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Ich bauen. Ob auf den Caminos in Spanien, auf Weitwanderwegen in Europa oder auf Wegen in meiner Heimat – die Natur hilft mir, mich selbst zu spüren, neue Puzzleteile zu finden und langsam ein Bild entstehen zu lassen.
Eine weitere Säule meiner Identitätsfindung ist das Schreiben. Gedanken ordnen, reflektieren, neue Perspektiven gewinnen. Noch bevor ich mich an ein Buch wagen kann, ist das therapeutische Schreiben mein Werkzeug, um Klarheit zu schaffen. Doch, mit meinen kognitiven Einschränkungen ist es ein langsamer Prozess – allein an diesem Blogartikel habe ich Wochen gearbeitet.
Trotz aller Fortschritte bleibt oft das Gefühl: Da fehlt noch etwas. Vielleicht wird die Suche nie abgeschlossen sein – und vielleicht ist genau das in Ordnung. Identität ist kein Ziel, sondern eine Reise. Mit jedem Schritt, jedem Wort, jeder neuen Erfahrung setze ich das Puzzle ein wenig weiter zusammen.
Nach all diesen Jahren kann ich eines sagen: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf eine Reise geschickt, auf der ich mich selbst neu entdecken darf.
Und ich bin gespannt auf die nächsten Schritte, die nächsten Herausforderungen. Denn auch wenn nicht alle Puzzleteile an ihrem Platz sind – ich bin auf dem Weg. Und das zählt.
Auch die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen spielt eine Rolle auf diesem Weg – etwas, das ich besonders beim Gehen erfahre.
Professionelle Unterstützung: Ein Therapeut kann helfen, die Krankheit zu verarbeiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Für mich ist das therapeutische Tanzen die wertvollste Unterstützung.
Tagebuch schreiben: Gedanken und Gefühle aufzuschreiben hilft mir, mich selbst besser zu verstehen.
Achtsamkeit: Achtsamkeitsübungen lassen mich im Hier und Jetzt ankommen und mich bewusster wahrnehmen.
Neue Aktivitäten: Durch das Ausprobieren neuer Dinge entdecke ich immer wieder neue Seiten an mir selbst.
Zielsetzung: Kleine, realistische Ziele geben mir das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit.
Spirituelle Aspekte: Die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Identitätsfindung. Besonders beim Gehen finde ich Antworten.
Kreativität: Kunst, Musik oder Schreiben helfen mir, meine Gefühle auszudrücken und neue Perspektiven zu gewinnen.
Natur: Sie ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und des Trostes. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg. Was für den einen funktioniert, muss nicht für den anderen passen. Das Wichtigste ist, diesen Weg zu finden – und sich dabei Unterstützung zu holen, wenn es nötig ist.
Nach neun Jahren, nach 3.240 Tagen, bleibt eines sicher: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf einen Weg geschickt, der kein klares Ziel hat – doch vielleicht ist genau das der Punkt.
Identität ist kein fertiges Bild, sondern ein Puzzle, das sich ständig verändert. Manche Teile passen sofort, andere brauchen Zeit, um ihren Platz zu finden. Manche gehen verloren, neue kommen hinzu. Und mit jedem Schritt, jeder Begegnung, jeder Herausforderung entsteht ein vollständigeres Ich.
Ich weiß nicht, was die nächsten Jahre bringen, welche Puzzleteile sich noch fügen werden. Aber ich bin bereit, weiterzugehen – mit Neugier, mit Mut und mit der Gewissheit, dass der Weg selbst die Antwort sein könnte.
Denn auch wenn nicht alles vollständig ist, zählt vor allem eines: Ich bin auf dem Weg.
Pilgern und Weitwandern – ich liebe es, mich auf lange Wege zu begeben, mich von der Natur umarmen zu lassen und den Rhythmus des Gehens zu spüren. Dort lerne ich seit meinem Hirnabszess die Kunst des Lebens, die ich im Alltag brauche.
Diese Reisen haben mir so viel gegeben: Klarheit, Freiheit und die Möglichkeit, tief in mich hineinzuhören. Doch je mehr ich pilgere, desto mehr wurde mir eines bewusst: Die größte Herausforderung meines Lebens liegt nicht auf den Wegen da draußen, sondern in meinem Alltag zu Hause. Für die "Kunst des Lebens" bildet das Pilgern und Weitwandern die Grundlage dafür.
Wenn ich mich auf einen Weitwanderweg begebe, habe ich ein Ziel vor Augen. Es gibt Etappen, eine Route, eine Struktur. Doch zurück im Alltag scheint vieles weniger klar. Kein ausgeschilderter Weg, keine festgelegten Kilometer, die ich gehen muss.
Der Alltag fühlt sich manchmal an wie ein Labyrinth ohne Karte. Hier finde ich die wahre Herausforderung: In den täglichen Anforderungen zu Hause ist es nur allzu leicht, die Verbindung zu mir selbst zu verlieren.
Das Pilgern hat mir Werkzeuge in die Hand gegeben, die mir helfen, auch den Alltag zu meistern. Auf den Wegen habe ich alles gelernt, was ich fürs Leben brauche. Es geht nicht darum, große Strecken zurückzulegen, sondern Schritt für Schritt voranzukommen, egal wie weit ich gehen möchte. Diese Haltung versuche ich in meinen Alltag mitzunehmen. Jeder Augenblick zählt, und jede kleine Aufgabe ist ein Schritt.
Doch der Alltag verlangt mehr von mir. Er fordert Geduld, Selbstdisziplin und die Fähigkeit, mich immer wieder selbst zu motivieren, auch wenn die Aufgaben manchmal weniger inspirierend erscheinen als die Aussicht auf einen Gipfel oder die Schönheit der Natur. Auch zu Hause ist es allerdings wichtig, mit Freude jeder Tätigkeit nachzugehen.
Nach meinem Hirnabszess vor neun Jahren habe ich nicht nur das Gehen wieder erlernen müssen – ich bin noch immer dabei, das Leben selbst neu zu lernen. Und genau das ist es, was den Alltag so herausfordernd macht: Er ist nicht selbstverständlich. Jede noch so kleine Aufgabe, sei es ein Gespräch, das Planen eines Tages oder das Bewältigen von scheinbar banalen Dingen, kann für mich ein Abenteuer sein.
Der Thalamus Abszess hat mir alle Filter im Gehirn genommen. Diese Hochsensibilität ist nur schwer zu händeln und zu verbessern, dass habe ich nach 9 Jahren einsehen müssen. Es ist nicht getan daran, mich einfach nur Schritt für Schritt daran wieder zu gewöhnen.
Und genau das macht es auch lohnend. Denn jeder gemeisterte Tag ist ein Erfolg. Jeder Moment, den ich bewusst erlebe, ist ein Schritt hin zu mehr Erfüllung. Mein Gehirn lässt vieles nicht zu, was ich gerne machen würde. Zu leicht verliere ich dann die Verbindung zu mir selbst, weil ich zu viel von dem möchte, was nicht funktioniert. Ich freue mich im Gegenzug über alles, was geht.
Pilgern und Alltag – sie könnten unterschiedlicher kaum sein, und doch gehören sie zusammen. Auf den Wegen tanke ich auf, finde Kraft und Inspiration. Zu Hause wird diese Kraft auf die Probe gestellt. Es ist ein ständiges Wechselspiel, ein Tanz zwischen der Ruhe der Wege und der Unruhe des Alltags.
Für mich liegt die Kunst darin, beide miteinander zu verbinden: Die Gelassenheit, die ich auf meinen Wanderungen finde, in den Alltag mitzunehmen. Und die Stärke, die ich im Alltag gewinne, auf den Wegen einzusetzen.
Vielleicht ist der Alltag tatsächlich mein größtes Abenteuer. Er ist unberechenbar, fordert mich jeden Tag aufs Neue heraus und gibt mir immer wieder die Möglichkeit über mich hinauszuwachsen. Anders als wie auf einem Weitwanderweg gibt es keine klare Karte, keinen fertigen Plan, dem ich folgen kann. Der Alltag verlangt, dass ich flexibel bin, dass ich im Moment lebe und mich den Gegebenheiten anpasse. Das habe ich auf den Weitwanderwegen Europas und beim Pilgern gelernt.
Und vielleicht liegt genau darin der Reiz: die Kunst, das Besondere im scheinbar Gewöhnlichen zu entdecken. Es sind keine spektakulären Gipfel oder weiten Ausblicke, die mir im Alltag begegnen – es sind die kleinen, unscheinbaren Momente, die oft viel tiefer wirken, ich muss es nur zulassen. Ein Lächeln, ein Gespräch, ein Augenblick der Ruhe zwischen den Aufgaben – all das sind kleine Perlen, die der Alltag bereithält, wenn ich bereit bin, sie zu sehen, was nicht immer gelingt.
Es erfordert ein anderes Maß an Achtsamkeit, diese Momente wahrzunehmen. Wo der Weitwanderweg mich mit seiner Schönheit fast überwältigt, muss ich im Alltag genauer hinschauen, feiner spüren.
Aber gerade das macht es zu einem so besonderen Abenteuer. Es ist eine Übung darin, jeden Tag aufs Neue Sinn zu finden, in dem, was ich tue. Die Schönheit in den einfachsten Dingen zu entdecken – in der Tasse Kaffee am Morgen, in der Struktur des Tages oder in der Zufriedenheit, eine Aufgabe bewältigt zu haben. Oft macht es aber auch Sinn, den ganzen Tag einfach dazuliegen. Das darf ich mir zugestehen.
Seit Wochen therapiere ich mich zu Hause, mit all den Dingen, die mir zur Verfügung stehen. Nach einer Zeit das Leben zu finden, steht wieder einmal die Therapie im Vordergrund. Magnetfeldtherapie, Dehnen und Kraftübungen, auf die Ernährung schauen, mit Unterstützung von Nahrungsergänzungen, Tanztherapie und manch so anderem, ist es oft nicht leicht für mein Gehirn, alles im Überblick zu behalten und in allem, was ich mache, Sinn zu finden.
Vielleicht ist es aber genau das, was den Alltag zu einem Abenteuer macht: Er ist wie eine verborgene Schatzkarte, die ich erst entziffern muss. Und wenn ich das tue, erkenne ich, dass die wahre Magie nicht immer in der Ferne liegt, sondern genau hier – in den kleinen Augenblicken meines täglichen Lebens.
Die Diskrepanz zwischen dem Weitwandern oder Pilgern und der notwendigen Therapie ist für mich manchmal wie der Unterschied zwischen Freiheit und Disziplin – zwei scheinbar gegensätzlicher Pole, die doch beide Teil meines Lebens sind.
Beim Weitwandern oder Pilgern erlebe ich eine Leichtigkeit, die mich tief erfüllt. Ich bin in Bewegung, draußen in der Natur, frei von den Zwängen des Alltags. Der Weg gibt mir Struktur, aber auch Raum für Selbstbestimmung. Jeder Schritt ist ein Stück Selbstentfaltung, eine Verbindung zu mir selbst und zur Welt um mich herum. Es ist eine Form des Seins, die von Klarheit und Einfachheit geprägt ist.
Die notwendige Therapie hingegen hat eine ganz andere Dynamik. Sie ist oft von Routine bestimmt und erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Hier geht es nicht um Weite, sondern um Detailarbeit – darum, gezielt an mir zu arbeiten, an meinen Fähigkeiten, an meiner Stärke. Während ich auf dem Pilgerweg vor allem nach innen horchen kann, fordert die Therapie meine aktive Mitgestaltung: Ich muss bewusst üben, reflektieren und Schritt für Schritt an meinen Fortschritten arbeiten.
Diese beiden Welten fühlen sich manchmal wie Gegensätze an. Das Pilgern ist befreiend, fast mühelos, obwohl es körperlich anstrengend sein kann. Die Therapie hingegen kann ermüdend sein, gerade weil sie so zielgerichtet und präzise ist. Auf dem Weg verliere ich mich in der Weite, in der Therapie fokussiere ich mich auf die kleinsten Fortschritte.
Doch genau in dieser Diskrepanz liegt auch eine Verbindung. Beide Welten haben mir gezeigt, dass Fortschritt nur durch Bewegung möglich ist – sei es die physische Bewegung auf einem Wanderweg oder die innere Bewegung, die durch Therapie entsteht.
Auch wenn die Therapie oft herausfordernder ist als das Weitwandern, weiß ich, dass sie mir die Grundlage gibt, um überhaupt pilgern und wandern zu können. Sie ist das Fundament, das mich auf meinen Wegen trägt. Und umgekehrt gibt mir das Pilgern die Kraft, die Therapie anzunehmen und weiterzumachen, auch wenn die Fortschritte manchmal nur langsam sichtbar werden.
Am Ende ergänzen sich diese beiden Welten – so unterschiedlich sie auch scheinen. Beide fordern Geduld, Hingabe und die Bereitschaft, jeden Tag aufs Neue einen Schritt zu gehen. Und beide zeigen mir auf ihre Weise, was es bedeutet, das Leben als eine Reise zu begreifen – mit all seinen Höhen, Tiefen und der Freude, Schritt für Schritt weiterzukommen.
Vor neun Jahren änderte sich mein Leben schlagartig. Ein Hirnabszess, eine Krankheit, die ich mir nie hätte vorstellen können, zog mir den Boden unter den Füßen weg, von einem Tag auf den anderen. Doch was wie das Ende wirkte, war in Wirklichkeit der Beginn einer Reise – einer Reise, die mich durch tiefe Täler, über weite Wanderwege und zu mir selbst führte.
Heute, 9 Jahre später, möchte ich eine Zusammenfassung meiner Geschichte mit euch teilen. Nicht, um Mitleid zu erregen, sondern um zu zeigen, wie man selbst in der Dunkelheit Licht finden kann. Und wie das Weitwandern und Pilgern mich gerettet hat.
Ein Hirnabszess – das klingt wie ein medizinischer Albtraum, und das war es auch. Die Schmerzen, die Unsicherheit, die Operation. Mein Körper und mein Geist wurden auf eine Art geprüft, die ich nie für möglich gehalten hätte. Nach Monaten im Krankenhaus und einer langen Reha fühlte ich mich verloren, ich wusste nicht, wer oder was ich bin.
Überlebt zu haben war das Eine, aber den Sinn darin zu finden, überlebt zu haben, den musste ich erst finden. Die Erfahrung hat meine Augen geöffnet. Ich habe gelernt, dass ein Leben mit Behinderung nicht nur von Einschränkungen geprägt ist, sondern auch von großer Stärke und Lebensfreude.
Eines Tages begann ich, mich zu fragen: Was, wenn dieser Kampf nicht das Ende ist, sondern ein neuer Anfang?
Ich begann klein, so klein wie es kaum jemand glauben kann: Nach drei Monaten im Krankenhaus konnte ich erstmals die etwa zehn Schritte zur Tür meines Krankenzimmers zurücklegen, wo ich ohnmächtig zusammengebrochen bin. Am Boden kriechend gelangte ich im Anschluss daran zurück zum Bett, an dem ich mich hochzog und mich hineinplumpsen ließ.
Viele Monate später, eigentlich über ein Jahr später, wurde es ein Spaziergang hier, eine kurze Wanderung dort. Bald wurde das Gehen zu mehr als nur die Bewegung zu lernen – es wurde meine Therapie – Gehen als Therapie. Mit jedem Schritt eroberte ich mir, Stück für Stück, meine Selbstständigkeit zurück, allerdings eine andere wie früher.
Dann kam der Moment, der alles veränderte: Ich las von Menschen, die auf Weitwanderungen ihre Leben transformiert hatten. Der Pacific Crest Trail, der Jakobsweg – das schien wie eine Welt, die mir nie mehr zugänglich war. Doch etwas in mir flüsterte: Warum nicht du?
Zweieinhalb Jahre nach meiner Diagnose stand ich am Start des Jakobswegs. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, aber ich wusste, dass ich es versuchen musste.
Die ersten Tage und Wochen waren hart. Mein Körper war nicht so stark wie früher, und die Narben, physisch und mental, schmerzten. Doch dann passierte etwas Magisches: Die Begegnungen mit anderen Pilgern, die Stille der Landschaft, das Gefühl, nur mit einem Rucksack und meinen Gedanken unterwegs zu sein – all das begann mich auf eine Weise zu heilen, die ich nicht erklären kann.
Ich lernte, loszulassen. Alte Ängste, alte Vorstellungen davon, wer ich war oder sein sollte. Der Weg zeigte mir, dass es in Ordnung ist, unvollkommen zu sein – solange ich weitergehe. Seit 2016 bin ich rund 50.000 Kilometer zu Fuß gegangen, darunter zahlreiche Pilger- und Weitwanderwege. Die Automatik habe ich weiterhin verloren, aber damit das Leben von einer anderen Seite kennengelernt.
Die Rehabilitation nach meinem Hirnabszess war und ist ein langer Weg, den ich Schritt für Schritt, Wanderung für Wanderung, mehr oder weniger gemeistert habe. Ob auf dem Camino Frances, den ich achtmal besuchte, beim JOGLE in England, dem Walkabout durch Österreich oder dem Hexatrek in Frankreich – jede Tour war ein Meilenstein meiner Genesung. Jeder Weg bot mir die Möglichkeit, Körper und Geist auf eine neue Art herauszufordern und zu stärken.
Heute, 9 Jahre nach dem Hirnabszess, bin ich nicht mehr dieselbe Person wie damals – und eigentlich doch noch. Ich bin allerdings stärker, freier und dankbarer. Das Weitwandern und Pilgern haben mir gezeigt, dass das Leben kein Sprint ist, sondern ein langer und schöner Weg sein kann. Überlebt zu haben, ergibt Sinn!
Natürlich gibt es Rückschläge. Narben, die schmerzen. Momente der Zweifel. Aber dann erinnere ich mich an die Lektion, die mir der Jakobsweg lehrte: Der Weg ist das Ziel. Und auf diesem Weg lerne ich zu mir selbst zu kommen.
Wenn du selbst vor einer Herausforderung stehst, die unüberwindbar erscheint, möchte ich dir sagen: Es gibt einen Weg. Vielleicht beginnt er mit einem kleinen Schritt vor die Tür, vielleicht mit einer großen Entscheidung. Aber er beginnt – wenn du bereit bist.
Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder träumst du davon, eines Tages deinen eigenen Weg zu gehen, sei es auf einem Pilgerpfad oder im Alltag? Das Geheimnis ist es ANZUFANGEN, egal wo du stehst!
Früher habe ich oft gedacht: 'Ich kann nicht, weil…'. Heute weiß ich, dass das nur eine Ausrede war. Der Hirnabszess hat mir gezeigt, dass ich stärker bin, als ich dachte. Und dir? Dir kann auch nichts im Weg stehen, glaub an DICH!
ANFANGEN und NEVER GIVE UP!!!
Lass uns gemeinsam die Welt ein Stückchen heller machen!
Ja, ich war wieder unterwegs. Nach meinem zehnten Camino und inzwischen neun Jahren Rehabilitation nach meinem Hirnabszess ist es an der Zeit, Rückschau zu halten und ein (Zwischen-) Resümee zu ziehen.
Diesmal begleitete mich kein Social Media, und auch das Telefon kam nur selten zum Einsatz. Dieser Weg war ganz für mich allein – ein Moment, um nachzudenken und Bilanz zu ziehen, um zu erkennen, wo ich heute stehe.
Vor neun Jahren stand mein Leben still. Der Hirnabszess kam unerwartet und zog mir den Boden unter den Füßen weg. Monatelang fast nur liegend im Krankenhaus, eine Operation und eine langwierige Rehabilitation prägten mein Leben seither.
Die einfachsten Dinge – sprechen, gehen, denken – waren plötzlich eine Herausforderung und wollten neu gelernt werden. Es dauerte Monate, bis ich wieder ein Messer beim Essen verwenden konnte. Noch heute ist es mir unangenehm mit mehreren Menschen am Tisch zu essen, denn ich brauche die volle Konzentration für die Beherrschung des Besteck.
Der Gedanke an den Camino, gab mir Hoffnung. Nur drei Monate vor der Krankheit, wollte ich eine Dokumentation darüber drehen. Der Camino war so stark in mir und wurde danach zu einem Ziel: Einem Symbol für Stärke, Heilung und Leben.
Das ist eine schwierige Frage, denn es ist eigentlich leichter zu beschreiben, was noch nicht geht, als was funktioniert. Heilung bedeutet nicht, dass alles wie vorher sein muss. Die Definition laut Wikipedia lautet:
"Heilung ist der Prozess der Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Integrität."
Für Außenstehende mag mein Zustand gar nicht so schlecht aussehen, was im Vergleich zur Krankheit auch tatsächlich stimmt. Dennoch gibt es noch so vieles, das nicht funktioniert. All das in Worte zu fassen, fällt mir nach wie vor schwer und ist auch nicht sichtbar.
Immerhin kann ich gehen – und das ist mittlerweile mein zehnter Camino in sieben Jahren. Aber was dieses „Gehen können“ wirklich bedeutet, ist für viele kaum nachzuvollziehen und oft auch widersprüchlich zu dem, was man sieht. Ich habe viel erreicht, aber das Verhältnis zur Zeitdauer, die ich dafür gebraucht habe, lässt sich nicht mit vor dem Hirnabszess vergleichen.
Einfachste Dinge können sich unglaublich schwer anfühlen, weil mein Gehirn mit so vielen anderen Prozessen überfordert ist. Würde ich den ganzen Tag nur im Bett liegen, ohne mich zu bewegen, könnte mein Gehirn – besser gesagt, mein Denken – wahrscheinlich besser funktionieren. Aber mein Gesundheitszustand wäre dann ein völlig anderer.
Deshalb bleibe ich in Bewegung, so lange ich kann, auch wenn das bedeutet, dass mein Denken oft eingeschränkt ist. Ich möchte es nicht riskieren, es auszuprobieren, denn selbstbestimmt und auf eigenen Beinen aufs Klo zu gelangen, steht über allem. Es bekommt erst eine Wichtigkeit, wenn man es nicht mehr kann.
Außerdem ist mein Kurzzeitgedächtnis verloren, und auch nach all den Jahren Training hat sich das kaum verbessert. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Wie andere damit und mit mir umgehen, kann ich nicht beeinflussen, und ich kann es auch nicht jedem erklären.
Bewegungen müssen nach wie vor sehr bewusst ausgeführt werden. Mein Gehirn ist so damit beschäftigt, dass für anderes nur wenig Platz bleibt. Single Tasking statt Multi Tasking. Mein Buch zu schreiben ist ein gutes Beispiel. Ich schreibe oft, komme aber nur langsam voran, weil mir der Überblick fehlt. Mein Gehirn ist kaum in der Lage, zusammenhängend zu denken.
Das macht alles nicht leichter, besonders wenn es um frühere Erlebnisse geht. Deshalb gehe ich am liebsten und lebe im Hier und Jetzt. Es fühlt sich oft noch an wie im Krankenhaus, als ich nur auf direkte Fragen an mich antworten konnte. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle.
Die Vorbereitung auf diesen 10. Camino war nicht viel anders als bei den vorherigen. Die Entscheidung dazu viel erst kurz davor. Da ich im Sommer am HexaTrek in Frankreich unterwegs war, wollte ich meine dort neu gewonnene Stärke überprüfen.
Ich konnte damals zwar nichts an der Muskelschwäche ändern, aber ein großer Erfolg war es, dass mir danach der Puls bei Anstiegen und Stufen steigen nicht mehr so hoch schnellte. Das wollte ich unter anderem am Camino überprüfen, da ich die Wege und mein Befinden dort kenne.
In den letzten Jahren hatte ich zu lernen, dass mein Körper nicht mehr derselbe ist. Er funktioniert so anders und ich kann oft nie vorher sagen, wie genau er sich verhalten wird. Deshalb lerne ich noch immer täglich dazu, um ihn verstehen zu lernen.
Dieser Camino sollte nicht nur ein Jubiläum sein, sondern auch eine Überprüfung, wo ich stehe.Ich wollte diesmal nur für mich selbst gehen, deswegen verzichtete ich auf eine Begleitung durch Social Media und konnte mich so zu 100% auf mich einlassen, um zu sehen, wie es mir ergeht. Durch das weglassen von Social Media hatte ich täglich mehr Zeit für mich und wurde nicht abgelenkt.
Trotzdem war auch ein wehmütiges Auge dabei, denn immerhin begleitet mich der Blog, Facebook und Instagram seit 2017, wo ich über meine Rehabilitation berichte und was ich bisher machte, um wieder ins Leben zu gelangen. Das hantieren mit dem Handy diente außerdem meiner Feinmotorik, ob beim Bearbeiten von Fotos oder dem kreieren von Beiträgen. Das fiel alles diesmal weg.
Die ersten Schritte auf dem Camino fühlten sich an wie eine Rückkehr nach Hause. Egal ob auf Weitwanderwegen oder Caminos, der Aufenthalt in der Natur tut meinem Körper, wie auch dem Geist unglaublich gut. Kann ich gehen, fühle ich mich wohl. Draußen auf dem Weg fühle ich mich lebendig.
Es hat etwas Magisches, sich der Natur auszusetzen. In der Energie der Natur zählt in dieser Zeit nichts anderes. Keine Fristen, kein Drama, nur ich und die Natur. Deshalb verweile ich auch nicht lange in Städten und Dörfern, am liebsten bin ich am Trail unterwegs.
Doch die Schritte waren auch schwer. Mein Körper erinnerte mich an seine Grenzen, vor allem an steilen Anstiege, wenn es finster war oder auf langen Tagesetappen. Doch mit jedem Schritt ist immer mehr Leichtigkeit zurück gekommen. Gerade das therapeutische Tanzen hilft mir sehr dabei und viele Übungen von meiner Therapeutin Hanna Treu bilden einen wesentlichen Grundstein für mein jetziges Leben.
Meine Pilgerreise führte mich von Saint Jean Pied del Port, 570 km auf dem Camino Francés bis nach Ponferrada. Dort entschied ich mich, erstmals den Camino Invernio zu nehmen, den sogenannten Winterweg nach Santiago de Compostela.
Die Begegnungen mit anderen Pilgern waren diesmal seltener – besonders auf dem weniger frequentierten Camino Invierno. Doch genau diese Stille eröffnete mir Raum für tiefere Reflexionen und ein tiefes Eintauchen in mir selbst.
Wenn ich mit einigen der wenigen Pilger ins Gespräch kam, teilte ich meine Geschichte offen. Nicht aus Selbstmitleid, sondern um zu zeigen, dass Heilung möglich ist und was Heilung überhaupt bedeutet. Die Reaktionen, die eigenen Geschichten der anderen und die Verbindungen, die dabei entstanden, waren für mich ein weiterer Schritt auf meinem Heilungsweg.
Die Zeit bis Burgos verbrachte ich größtenteils mit Dan aus Seattle. Kontakte knüpfen und Kommunikation standen im Vordergrund.
Ab der Meseta war ich wieder alleine. Gehen, gehen, gehen - im Gehen kann ich meine Gedanken ordnen oder aber auch nichts denken. Das Gehirn leer werden lassen. Einen Teil Denken brauche ich trotzdem noch für das Gehen. Alles andere loszulassen, Gedanken sein lassen zu können, tut gut.
Vielleicht ist es gerade diese Einfachheit, die die Meseta für viele Pilger auf dem Jakobsweg so besonders macht. Sie wird oft als eintönig beschrieben, aber in ihrer Schlichtheit steckt eine Einladung, das "Zuviel" loszulassen und sich im Gehen selbst zu finden. Für viele ist das zuviel, diese Konfrontation mit sich selbst. Sie überspringen die Strecke lieber mit dem Bus.
Auf der Meseta genoss ich das Gehen, ohne über jeden Schritt so viel nachzudenken, wie zuvor am HexaTrek. Es wurde zu einer Erholung für den Geist.
In Ponferrada entschied ich mich für den Camino Invierno, weil ich ihn noch nie gegangen war. Außerdem reizte mich die Idee, eine alternative Route zu wählen – eine, die besonders in den Wintermonaten oft still und einsam ist.
Mir war bewusst, dass ich auf diesem Weg weniger Begegnungen mit anderen Pilgern haben würde, das nahm ich aber in Kauf. Die Interaktion mit Menschen, die das Pilgern so besonders macht, hatte ich im ersten Teil. Tatsächlich hatte ich auf dem Camino Francés bis Burgos interessante Gespräche, besonders mit Dan, einem Amerikaner aus Seattle. Ab der Meseta war ich jedoch wieder alleine unterwegs und traf nur mehr auf wenige Menschen.
Erst in Ponferrada fiel die Entscheidung für den Invierno. Am Morgen ging ich von der Herberge, die knapp außerhalb der Stadt liegt, in die Stadt hinein, um zu frühstücken. Während ich danach losging, beschloss ich spontan, diesen neuen Weg zu erkunden.
Der Camino Invierno forderte mich auf eine besondere Weise heraus. Neue Wege zwingen mich, meine Komfortzone zu verlassen. Sie verlangen mehr Aufmerksamkeit und Kreativität – eine echte Herausforderung für Körper und Geist.Doch gerade das machte diesen Weg für mich so besonders.
Ich bin überzeugt, dass mich genau diese Herausforderungen weiter bringen – nicht nur als Pilger, sondern auch als Mensch und dass, besonders nach dieser Krankheit.
Auf dem Camino Invierno waren Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen selten. In den acht Tagen auf dieser Strecke sprach ich nur kurz mit zwei Pilgern und sah insgesamt lediglich fünf weitere auf dem Weg.
Doch diese Ruhe war für mich kein Nachteil. Im Alleinsein fand ich die Möglichkeit, tiefer über mein eigenes Sein nachzudenken. Mein Fokus lag darauf, persönliche Einsichten zu gewinnen: Wie hat sich mein Gehen verändert? Wie gehe ich mit Herausforderungen um? Und wie kann ich meine Gedanken ordnen, wenn ich allein mit mir selbst bin?
Besonders spannend war es, Lösungen für unvorhergesehene Herausforderungen zu finden. Die langen Distanzen zwischen den Herbergen erforderten eine gute Planung und oft auch Improvisation. Doch erstaunlicherweise fügte sich alles immer wieder, vor allem dann, wenn ich Vertrauen hatte.
Vertrauen ist einer der Grundpfeiler meines neuen (Lebens-)Weges – nicht nur auf dem Camino, sondern auch im täglichen Leben. Es hilft mir, ruhig zu bleiben, wenn ich mit Unsicherheiten oder Herausforderungen konfrontiert bin. Doch so einfach das klingt, gelingt es mir nicht immer, in diesem Zustand zu bleiben.
Wenn ich jedoch Gelassenheit und Vertrauen in solchen Momenten der Herausforderung finde, fühlt sich alles leichter an. Diese innere Balance ist für mich ein Schlüssel, um mit schwierigen Situationen klarzukommen, gerade wenn der Verstand manchmal mit zu vielen Gedanken ringt.
Auf dem Camino Invierno wurde ich oft von der spärlichen Infrastruktur überrascht. Es war keine Seltenheit, dass ich Etappen von 20 bis 30 Kilometern zurücklegen musste, ohne die Möglichkeit, Verpflegung einzukaufen oder einfach einen Kaffee mit Croissant in einem Café zu genießen.
Das war eine deutliche Umstellung im Vergleich zum Camino Francés, wo alle 20 bis 25 Kilometer – oder spätestens nach 40 bis 50 Kilometern – eine offene Herberge zu finden ist und dazwischen wesentlich mehr Cafés geöffnet haben. Hier auf dem Invierno war das anders.
Doppeletappen, die ich auf dem Francés problemlos hätte planen können, wären hier schlicht unmöglich. Oft folgte nach einer 30-Kilometer-Etappe erst nach weiteren 30 Kilometern die nächste offene Herberge – ohne Alternativen wie Hotels dazwischen. Dadurch war ich auf Übernachtungen in größeren Orten angewiesen, was meine Flexibilität einschränkte, aber auch eine neue Herausforderung mit sich brachte.
Trotz vieler Herausforderungen war die Landschaft des Camino Invierno für mich ein echtes Highlight. Sie ist völlig anders als auf dem Camino Francés: Der Weg führt häufig entlang eines Flusses durch die Berge, mit malerischen Ausblicken und der Ruhe der Natur. Immer wieder steigt der Weg steil an, um weite Flussschleifen über einen Berg abzukürzen, was für einige Höhenmeter sorgt – eine gute Herausforderung für Körper und Geist, mit diesen Veränderungen klarzukommen.
Besonders beeindruckend waren die Weinberge, durch die ich vor allem in Galicien wanderte. Die Hügel und die kultivierten Reben sorgten für eine ganz eigene Atmosphäre. Oft leuchtete der Hang in Rot oder Gelb, von den Blättern der Weinreben. Und mit dem Wetter hatte ich unglaubliches Glück: Einzig am zweiten Tag, zwischen Roncevalle und Pamplona regnete es. Danach hatte ich keinen einzigen weiteren Regentag, außer am letzten Tag, wo ich zwischen und in Gewitterfronten nach Santiago ging.
Die lange Zeit der Einsamkeit störte mich nicht, im Gegenteil – sie gab mir Raum für Reflexion und Achtsamkeit. Doch manchmal hoffte ich trotzdem auf eine offene Bar in einem der vielen kleinen Dörfer, um für einen Moment auszurasten. Viele dieser Orte wirkten jedoch wie ausgestorben, beinahe wie Geisterstädte. Diese Leere hinterließ einen eigentümlichen Eindruck – melancholisch, aber zugleich faszinierend.
Da ich eigentlich immer der einzige Pilger in der Herberge war, bin ich schon zeitig aufgebrochen. Ich brauchte mich nicht darum zu sorgen, jemanden durch mein frühes Aufstehen zu stören.
Noch im Dunkel des Morgen, die Dämmerung bricht erst gegen 8h30 an, suche ich eine offene Bar und nehme Kaffee mitToast und Marmelade zu mir. Danach gehe ich meist noch eine weitere Stunde im Dunkeln und werde danach fast immer mit einem wunderschönen Sonnenaufgang draußen in der Natur belohnt.
Die Tiere haben es mir besonders angetan. Mein Pilgerfreund Dan hat sich den Spaß gemacht, den Ruf von Raubvögeln, wie Bussard oder Milan, mit meinem Namen zu verbinden. Schwebte wieder einmal einer über uns, rief er langgezogen meinen Namen. Für einen Amerikaner ist das "ö" schwer auszusprechen, so nennt er mich York, dass dem Ruf der Vögel ähnlich ist.
Dan imitierte mit seinen Armen das Gleiten des Vogels durch die Luft und vermittelte mir Leichtigkeit. Immer wenn ich einen Bussard höre, wird mir diese Leichtigkeit bewußt gemacht. Es vermittelt mir, mit Leichtigkeit über die Trails und Wege zu laufen!
Auf dem Weg, besonders am Invernio, befinden sich viele alte Kirchen, aber die meisten sind geschlossen. Von Außen sind sie allerdings auch sehr schön. Nur wenige sind renoviert und die alten Steingemäuer sind oft Moosbewachsen und schimmern in Grün.
Jedes noch so kleine Dorf hat seine Kirche, die zumeist auch der Mittelpunkt ist. Umgeben von Kinderspielplätzen und Bänken luden sie zur Rast ein.
Da der Abstand von Herberge zu Herberge im Verhältnis groß ist, kann man nicht oft eine Doppeletappe einlegen. Wenn doch, hätte man oft über 50 Kilometer zu gehen, meist sogar über 60, ohne dazwischen wo einkehren zu können. Da es im November/Dezember nicht solange Tageslicht hat, ist man limitiert damit, bei Tageslicht weit gehen zu können.
In manchen Orten war die Herberge ganz geschlossen, aber für 20 Euro bekam ich ein Einzelzimmer im Hotel, dass aus diesem Grund oft für Pilger günstiger angeboten wird.
Hin und wieder ging ich essen. Das war nicht oft möglich, da in Spanien erst spät zu Abend gegessen wird. Das sagt mir aber überhaupt nicht zu und deswegen jausne oder koche ich in der Herberge meist selbst.
In Navarette war die Herberge geschlossen und so wichen Dan und ich in ein Hotel aus. Ein Doppelzimmer um 40 Euro war günstig zu bekommen. Es ist um diese Zeit kaum was los und so geben die Wirte ihre Zimmer im Winter an Pilger billiger her, vor allem, weil die Herbergen zu haben.
Der Wirt war ein Brasilianer, der hier im Ort hängen geblieben ist. Zum Hotel dazu eröffnete er ein kleines Restaurant, dass er als ehemaliger Haubenkoch installierte. Das Hotel kam eigentlich eher zufällig dazu. An diesem Abend speiste ich wohl wie noch nie zuvor am Camino und trank zur Abwechslung auch ein Glas Wein.
Der November zählt bereits zum Winter und man sollte auf alles vorbereitet sein. Von Regen und Sturm, bis Kälte und Schnee, aber auch Wärme, kann man alles erwarten. Trotzdem war ich nur mit einem 20 Liter Laufrucksack unterwegs, der mit seinen Außentaschen allerdings mehr fasste.
Ich war für jedes Wetter gerüstet, auch Kälte und Schnee. Wegen meines kleinen Rucksacks sahen andere in mir einen Tageswanderer, der sein Gepäck jeden Tag vorausschickte. In den Herbergen war manch einer verwundert, was ich alles hervor zauberte.
Ich war Leichtgewichtig unterwegs, aber trotzdem mit ein wenig Komfort. Anbei ist mein Link zur Ausrüstungsliste auf lighterpack. Mein Basisgewicht lag übrigens bei etwa dreieinhalb Kilo.
https://lighterpack.com/r/q7p070
Meine Winterausrüstung im November/Dezemberz
Im Endeffekt hatte ich sogar zuviel mit, den das Wetter meinte es gut mit mir. Nur zwei richtige Regentage in den über drei Wochen war weit weniger, als ich erwarten durfte und es war niemals Schnee.
Wie immer hatte ich zusätzlich zur Regenjacke einen Poncho mit, eigentlich unnötig, zwei dieser Dinge zu tragen, aber für mich ist es Komfort, mit allen möglichen Schichten wechseln zu können.
Wichtig war, dass ich alles Gewand im Rucksack verstauen konnte. An einigen Tagen war es so warm, dass ich nur mit dem T-Shirt ging. Der Rest musste dann alles auf und in den Rucksack, der damit am Limit war. Dazu erhöht sich das Gewicht.
Beim Schlafsack ist mir ein Fehler unterlaufen. Beim Packen zuhause wollte ich nur den Unterschied sehen, zwischen dem SEA to Summit Spark I und II. Ich vergaß vor der Abfahrt sie wieder auszutauschen und nahm den wesentlich wärmeren Spark II mit, der auch um etwa 200g schwerer ist.
Dieser Schlafsack war überdimensioniert. Ich wollte ja nur Herbergen nutzen und nicht im Freien übernachten. Er war zwar oft zu warm, aber dafür kuschelig.
Der Camino gibt einem Zeit zum Nachdenken. Ich reflektierte über die letzten neun Jahre – die Herausforderungen, die Ängste, aber auch die kleinen und großen Erfolge. Der Hirnabszess war ein Einschnitt, der mich verändert hat, aber er hat mir auch gezeigt, wie stark ich bin.
Auf diesem 10en Camino spürte ich erneut, wie wichtig Dankbarkeit ist. Dankbarkeit für meinen Körper, der nach allem, was er durchgemacht hat, immer noch mit mir geht. Dankbarkeit für die Menschen, die mich in meiner dunkelsten Zeit unterstützt haben. Und Dankbarkeit für den Camino selbst, der mir immer wieder neue Perspektiven schenkt.
Das Weitwandern hat mich wieder ins Leben gebracht, wenn auch etwas anders, als gedacht. An die Stadt versuche ich mich nur mehr soviel wie nötig zu gewöhnen. Das wichtigste ist es, mich gut zu fühlen. Da mich die Stadt auch nach Jahren des Trainings noch stresst, muss ich mich nicht mit aller Macht daran gewöhnen.
Am Ende des Weges, in Santiago de Compostela, stand ich vor der Kathedrale und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Es war ein Moment der Erleichterung, des Stolzes und der tiefen Freude.
In solchen Momenten kann ich meine Gefühle nicht im Zaume halten. Szenen aus den letzten Jahren spielen sich vor meinem geistigen Auge ab.
Zunächst war es aber ein flüchten vor dem Gewitter mit starkem Regen.
Die ersten krampfhaft Gehversuche kommen mir immer wieder in den Sinn. Ja, es ist nicht leicht hier zu gehen, nach wie vor nicht. Andererseits, als Pflegefall im Bett zu liegen, ist sicher noch schwerer. Um das hier zu erleben, nehme ich gerne das Überwinden von Herausforderungen in Kauf, als von vornherein aufzugeben.
Dieser 10. Camino war für mich nicht nur eine Wanderung, sondern ein Spiegel meines Lebens. Er zeigte mir, dass Rückschläge uns formen, aber nicht definieren müssen. Dass Heilung Zeit braucht, aber möglich ist. Und dass jeder Schritt, egal wie klein, uns weiterbringen kann.
Durch meine Geschichte hoffe ich, andere zu inspirieren, eine schwierige Phase in ihrem Leben überwinden zu können. Der Weg zeigt sich, wenn wir bereit sind, ihn zu gehen.
"Never give up!", wurde zu meinem Leitsatz.
In Viviers, welches an der Rhone liegt, beginnt der 4. Abschnitt des Hexatrek. Der Süden Frankreichs, mit der Ardeche und den Cevennen, warten auf mich.
Die Alpen liegen hinter mir und ich überlege kurz, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Ich habe meine Ziele erreicht, allerdings überwiegt die Freude hier zu sein und den Hexatrek vielleicht zu vollenden. So gehe ich nach einem Ruhetag in Le Chateaneuf weiter und freue mich auf die Ardeche.
Vor 12 Jahren war ich schon einmal hier, damals für Filmaufnahmen. In Erinnerung hatte ich einen Weg durch die Schlucht, aber was ich hier vorfinde, ist mir bald zu viel. Nach etwa 30 Kilometern stehe ich vor dem Abstieg nach ganz unten und ich freue mich zunächst noch über den bevorstehenden Weg.
Auf dem Wasser sind viele Kajaks und Rafting Boote unterwegs und geben ein buntes Bild ab. Der Fluss wird rechts und links von hohen Felswänden eingerahmt und ein Durchkommen zu Fuß erscheint unmöglich. Ich finde Markierungen und kämpfe mich Meter für Meter vorwärts. Und Kämpfen ist der richtige Ausdruck. Tiefe, sandige Passagen wechseln mit dem Springen von Stein zu Stein ab.
Seit dem Hirnabszess versuche ich es zu vermeiden zu Kämpfen, alles soll mit einer Leichtigkeit passieren und einfach sein. Hier stoße ich aber an Grenzen, die für mich zu hoch sind. An einer Stelle steht auf den Fels geschrieben: "Ab hier müssen sie klettern". Allerdings ist mir nicht klar, wohin?
Eine etwa drei Meter hohe senkrechte Stelle führt hinunter zum Fluss, auf eine nächste Felsebene und ebenso steil geht es nach oben, ohne zu sehen wohin. Für mich unüberwindbar. Ich gehe auf und ab und kann mich nicht entscheiden, also gehe ich zurück. Über riesige Felsblöcke, durch Brennnessel, mit Gestrüpp und ausgesetzte Stellen versuche ich diese Kletterstelle zu umgehen und gelange wirklich an die Stelle darunter, wo ich vorher oben umdrehte.
Es geht weiter durch ausgewaschene Felswände, ich klettere über Felsbrocken und wate durch tiefen Sand. Meine Füße und Knöchel sind derart beansprucht, wie noch nie in den Wochen zuvor am Hexatrek. Dazwischen sind immer wieder ausgesetzte Stellen, auf denen man auf Eisenklammern zehn Meter über dem Fluss dahin steigt. Ich habe so viel am Hexatrek bisher geschafft, aber hier bin ich mit meiner Propriozeption am Ende. Zusätzlich das Wasser unter mir bereitet mir die größte Angst. Außerdem spüre ich, es tut mir nicht gut, aber ich muss weiter.
In einer Stunde komme ich nicht einmal zwei Kilometer vorwärts und es sind noch sechs bis zum nächsten Campingplatz. Es hat über 30 Grad und meine Wasservorräte sind bald erschöpft. Schritt für Schritt kämpfe ich mich vorwärts, jeden Schritt muss ich genau wählen, wo ich ihn hinsetze. Für die nächsten Kilometer würde ich so noch drei bis fünf Stunden brauchen.
Zu Biwakieren wäre eine Möglichkeit, allerdings müsste ich dann zu lange ohne Wasser auskommen, also verwerfe ich es. Der Fluss ist zwar nur wenige Meter entfernt, aber ich erreiche ihn nicht. Außerdem ist das Biwakieren in der Schlucht verboten, da es ein strenges Naturschutzgebiet ist.
Ich entscheide mich dafür, bei der nächsten Möglichkeit zur Straße aufzusteigen. Ein kaum erkennbarer Pfad schlängelt sich wie eine Schlange steil nach oben und verliert sich im Nichts. Einem Höhenbergsteiger ähnlich steige ich langsamen Schrittes nach oben. Die Erinnerung an die Krankheit bleibt mein stummer Begleiter, doch die Schönheit der Wildnis gibt mir Kraft und Stärke. Meine superleichten Wanderstöcke aus Carbon unterstützen mich, so kann ich Steilstufen leichter überwinden, wenn ich Kniehoch nach oben steige muss.
Die Muskelschwäche wird mir dabei oft bewusst gemacht, trotzdem ich die Alpen hinter mir habe. Das bisherige Gehen und Steigen war gutes Training und ich fühlen mich stärker als nie zuvor. Trotzdem ist steiles Gelände noch immer eine Herausforderung und bringt mich schnell an die Belastungsgrenze. Gerade rechts, wo ich die Lähmung hatte, verweigert ein zu starkes Abwinkeln des Beines, dass ich mich aufrichten kann. Aus der Hocke aufstehen, gar mit Rucksack, ohne mich wo anzuhalten, kann ich noch heute nicht.
Plötzlich türmt sich eine Felswand unüberwindbar vor mir auf. Ich pendle darunter nach rechts und links und wieder zurück, um einen Ausweg zu finden. Zum ersten Mal fühle ich mich erschöpft. Anfangs noch euphorisch, wandeln sich meine Gefühle in "...ich möchte nur mehr nach oben kommen!". In dieser steilen Wand suche ich lange nach dem Ausstieg auf die Straße. Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich endlich oben.
Der Schweiß rinnt in Strömen, im wahrsten Sinn des Wortes. T-Shirt und kurze Hose sind klatschnass. Oben angelangt werfe ich mich und den Rucksack müde in den Staub. Nach einer kurzen Pause steht mir ein langer Fußmarsch auf der Straße bevor, was aber immer noch besser ist, als über die ausgesetzten Stellen am Fluss zu klettern. Atemberaubende Tiefblicke in die Schlucht lenken vom eintönigen Gehen auf der Straße ab.
Kurz vor La Combe, wo das Ende der Schlucht ist, nimmt mich eine Familie mit dem Auto mit, da es hier durch mehrere Tunnel geht. Am Fußweg außen herum, käme ich heute nicht mehr zum Campingplatz, abgesehen vom schon dringend benötigten Wasser. Vom Auto aus sehe ich den Pont d'Arc ein bisschen wehmütig und vermisse es, nicht zu gehen. Andererseits hätte ich ihn nur gesehen, wenn ich mit dem Kajak gefahren wäre.
In Le Comb springe ich aus dem Auto, bedanke mich und gehe zum Campingplatz. Ein riesiger Stellplatz erwartet mich dort, sogar mit Stromanschluss, trotzdem bezahle ich nur als Wanderer. Es ist bereits das Ende der Ferien und viel Platz. Da merke ich wieder, dass ich bereits den ganzen Sommer unterwegs bin und der Herbst vor der Tür steht. Die Annehmlichkeiten des Platzes nutze ich, besonders eine heiße Dusche bringt Erholung.
Es scheint, dass die Gegend zum Meer hin, von Nord nach Süd, mit zahlreichen Flüssen gespickt ist, die tiefe Furchen gezogen haben. Da ich von Ost nach West quere, ist ein Auf und Ab vorprogrammiert. Drei bis fünfhundert Meter, meist steil, im Auf und Abstieg, sind es jedes Mal.
Die traumhafte Gegend wechselt von Hochebenen auf Wege entlang des Flusses tief unten, unterbrochen von kleinen Ortschaften, die oft verlassen wirken. Der steile Trail fordert mich körperlich heraus, aber die Belohnung ist der atemberaubende Ausblick, der sich mir jedes Mal eröffnet, wenn ich oben ankomme. Nie hätte ich gedacht, dass mich die Gorges de Tarn so fordern würden.
Die eigentümlichen Knieschmerzen trüben meine Freude ein wenig. Nach den Alpen, wo ich mich so fit gefühlt habe, ist das eine echte Überraschung. Ich frage mich, ob es an der unterschiedlichen Beschaffenheit des Untergrunds liegt oder ob ich vielleicht eine Überlastung habe.
Eine muskuläre Dysbalance kann von den Schuhen kommen, da ich aufgrund meiner gestörten Propriozeption und Muskelschwäche eine lange Eingewöhnungszeit auf neue Modelle habe. Ein Wechsel kann dazu führen, dass meine Knie einer anderen Stoßbelastung ausgesetzt sind, was zu Schmerzen führen kann. Deshalb verwende ich seit Jahren nur zwei Modelle, an die sich die Füße gewöhnt haben. Hier war ich aber gezwungen auf ein anderes Modell umzusteigen.
Diese Region ist Heimat einer Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten, darunter seltene Vögel, Schmetterlinge und Blumen. Vor einigen Jahrzehnten waren Geier in dieser Region ausgestorben. Dank einem erfolgreichen Wiederansiedlungsprojekt sind sie wieder heimisch, besonders der Gänsegeier. Von Ihnen geht eine Faszination aus und es ist ein Erlebnis, sie in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten.
Mich selbst erfahren bekommt jetzt immer öfter Sinn. Die letzten Wochen musste ich so konzentriert gehen, dass fürs Nachdenken nichts übrig blieb. Es wurde zu einseitig und die psychischen Erfahrungen kamen zu kurz. Die größten Erfahrungen sind dann möglich, wenn ich geistige Erfahrungen realisiere und umgekehrt, körperliche vergeistige.
Bewege ich mich zu einseitig im Physischen, besteht die Gefahr, dass ich mich selbst zerstöre. Bewege ich mich im Gegensatz dazu zulange im Psychischen Grenzbereich, ist ebenfalls Selbstzerstörung die Folge. Die Balance zwischen beiden ist das Beste.
Aufgrund der Wege in den Alpen war es mir aber nicht möglich, öfter auch das Psychische einzubeziehen. Zu sehr musste ich aufpassen, wohin ich trete. Eigentlich bin ich dauernd damit beschäftigt. Das Physische hat überhand genommen.
Seit dem Hirnabszess mache ich täglich neue Erfahrungen. Mache ich keine, stagniere ich. Was mir am Hexatrek gut gelingt ist, die Bereitschaft und Fähigkeit zu haben, möglichst viel bewusst zu erleben. Ich, als Mensch, kann mich verwirklichen. Dieses Gefühl ist Gold wert. Auch unter Belastung, ruhe ich in mir. Vermeidung von Stress ist nicht nur hier, sondern seit Jahren, mein oberstes Prinzip. Außerdem sauge ich die Natur in mir auf.
Wenn der Trail es zulässt, versuche ich die Erfahrungen der letzen Wochen zu vergeistigen. Das gelingt nur selten, denn der Weg lässt es kaum zu. Dieses einseitige, in diesem Fall physisch, artet in Stress aus und ist in Folge schädlich. Immer öfter denke ich an einen ruhigen Camino in Spanien und das so etwas jetzt ideal wäre. Am Camino lernte ich gehen und denken, auf ruhige Art. Daher schwanke ich zwischen aufhören und heimfahren oder doch weitergehen und den Hexatrek beenden.
Die Erfahrungen in den Alpen waren so intensiv, dass ich eigentlich heimfahren kann und auf diesen in der Tanz-Therapie aufbauen kann. Auf der anderen Seite fühle ich mich so wohl hier, dass ich den Hexatrek beenden möchte. Es stehen ja nur mehr die beiden Stage 5 und 6 durch die Pyrenäen aus. Wie ich weiter mache, werde ich in den nächsten Tagen entscheiden.
Es passt eigentlich alles, bis auf die Schuhe. Da ist der Wurm drinnen. Es ist ein etwas schwererer Wanderschuh und kein Laufschuh. Diese Veränderung beschert mir Knieschmerzen, dass ich so bisher nicht kenne. Der Schuh ist zwar von meiner Lieblingsmarke Hoka und fühlt sich eigentlich auch gut an, aber verändert mein Gehen doch zu sehr. Ich hätte doch einen Laufschuh nehmen sollen, dachte mir aber nichts schlimmes dabei.
Der Weg führt mich an Sehenswürdigkeiten vorbei, wie einer Templerburg und einem Felsbogen. Die Landschaft ist traumhaft und ich genieße es hier gehen zu dürfen.
Schon am Morgen, als ich losgehe, meldet die Wetter-App für den Nachmittag heftige Gewitter. In einem kleinen Städtchen gehen ich einkaufen und setze mich in ein Cafe. Bis zum nächsten Campingplatz sind es nur noch 10 Kilometer und daher lasse ich mir Zeit. Der Pfade windet sich rauf und runter. Dann, etwa zwei Kilometer vor einem Dorf, beginnt es zu regnen. Aber was für ein Regen. Er prasselte wie tausend kleine Nadeln auf mich herab und wird immer stärker.
Innerhalb Minuten stürzt ein Sturzbach auf mich herab, wo auch der Poncho nicht mehr hilft. Ein Unterstand ist weit und breit nicht zu sehen. Das Wasser kommt mir Knöcheltief auf der Straße wie ein Fluss entgegen. Das Handy gibt seinen Geist auf und reagiert nicht mehr, so feucht und nass ist es. Der Campingplatz ist nirgends angeschrieben und somit weiß ich nicht wohin.
Unter einem dürren Baum suche ich verzweifelt nach Schutz. Der Wind peitscht den Regen gegen mich und ich fröstle am ganzen Körper. Endlich entdecke ich einen Hauseingang, der mir einen kleinen Unterschlupf bietet. Nach vielen Versuchen bekomme ich das Handy trocken und starte es.
Meine Feinmotorik ist in den vom Wasser aufgeweichten Fingern ungeschickt. Kurz sehe ich auf der Hexatrek-App wohin ich muss, da schaltet es sich schon wieder ab. Im ersten Moment wie der Regen nachlässt, mache ich mich auf den Weg. Nach weiteren zwei Kilometern erreiche ich den Campingplatz. Es hat mittlerweile stark abgekühlt und es ist bitterkalt geworden.
Meine Hände gehorchen mir nicht mehr. Da es wieder schüttet, macht es keinen Sinn das Zelt aufzubauen. Ich dusche und setze mich unter ein Vordach. Praktisch alles was ich dabei habe, lege und hänge ich rund um mich auf, damit es wenigstens trocken wird.
In einer kurzen Regen Pause versuche ich das Zelt aufzustellen. Der Regen ist aber schneller als ich und im vom Himmel stürzenden Wasser gelangt Wasser ins Zelt, bevor ich es schaffe, daß Überzelt überzuwerfen. Zum zweiten Mal erwischt mich ein Unwetter und bringt mich ans Limit.
Nass und durchgebeutelt gehe ich weiter. Innerhalb weniger Tage hat der Herbst Einzug gehalten. Da ich mich für die Pyrenäen nicht ausgerüstet fühle, werde ich von Carcassonne heimfahren.
Mein Telefon spinnt und funktioniert wegen der Feuchtigkeit kaum noch. Dazu werden die Berghütten in den Pyrenäen ab 15.Septmber größtenteils geschlossen, was die Folge hat, mehr zu tragen. Mein Entschluss steht damit fest, aufzuhören. Wegen dem Telefon habe ich auch kaum Bilder vom Schluss, was mir sehr leid tut.
Mein Fazit fällt durchwegs positiv aus. Nie hätte ich gedacht soweit zu kommen. In den Alpen hat ein neuer Zeitabschnitt begonnen, auf dem ich aufbauen kann. Mein Ziel, für das ich acht Jahre gearbeitet habe, konnte ich verwirklichen.
Mit dem Erreichen dieses Ziel ist es aber nicht vorbei. Die Behinderung und die Handicaps bleiben. Dranbleiben wird auch weiterhin mein Motto bleiben. Mich mehr in der Natur aufzuhalten und weniger in der Stadt, kann ich akzeptieren. Die Hochsensibilität bleibt und lässt sich kaum verbessern.
Die gewonnenen Erfahrungen werde ich in den nächsten Wochen und Monaten in mein Leben integrieren lernen und weiterhin an mir arbeiten. Da habe ich genug zu tun. An erster Stelle steht, ein neues Ziel zu finden. Besonders wichtig ist es, die richtige Formulierung zu finden.
"Alles, was ich verarbeiten kann, schafft mir ein Fundament"
Die Pyrenäen mit Stage 5 und 6, über 900 km des Hexatrek, nehme ich mir für nächstes Jahr vor. In Hendaye ins Meer zu springen, ist nach wie vor mein Ziel!
Nachdem ich die majestätischen Nordalpen hinter mir gelassen habe, stehe ich nun am Beginn der dritten Etappe des HexaTrek - einer Route, die mich tief in die Südalpen führen wird.
Die Berge vor mir sind wild, rau und wunderschön. Ich bin gespannt, was mich in den kommenden Tagen erwartet. Der Start ist frostig, aber voller Vorfreude gehe ich los.
Mein Tag beginnt auf 2000 Metern Seehöhe, und die Kälte macht sich deutlich bemerkbar. Der Boden ist feucht vom Nebel, der sich in der Nacht bildete und meine Schuhe sind im feuchten Gras schnell nass. Der Start fühlt sich zunächst düster und bedrückend an, denn die Sonne schafft es noch nicht über die Berghänge.
Mein Weg führt an der Schattenseite eines Berges entlang. Bei jedem Schritt bremst mich die Kälte, die mich daran erinnert, wie zerbrechlich ich noch bin, trotzdem ich am Hexatrek unterwegs bin.
Im Moment habe ich mit mir selbst zu tun, denn zum ersten Mal, seit ich am Hexatrek unterwegs bin, hat die Kühle des Morgens einen großen Einfluss auf die Funktion meiner Nerven. Steif und unkoordiniert gehe ich los, mit der Hoffnung, dass es bald besser wird. Ich kann es nur abwarten.
Die gegenüberliegenden Berge liegen bereits in der Sonne und so nehme ich mir vor, erst dann zu frühstücken, wenn ich in der Sonne bin, vorher ist es mir zu kalt.
Dann passiert es. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen mich und tauchen die Landschaft in ein sanftes, goldenes Licht. Die Kälte wird weniger und ich nutze diesen Moment, um eine Pause einzulegen. Schnell ist der Kocher bereit und ich setze Wasser für einen Kaffee auf. Dazu gibt es das übliche, Brot mit Käse. Umgeben vom Rauschen des Windes und dem fernen Rufen von Krähen, genieße ich es, hier in der Einsamkeit mitten in den Bergen zu sitzen.
Nach dieser Stärkung gehe ich gestärkt los. Der Pfad führt entlang eines steilen Berghangs, und der Abhang zu meiner rechten erfordert volle Konzentration. Jeder Schritt muss wohlüberlegt sein. In diesen Momenten fühle ich, wie ich eins werde mit der Natur. Jeder Schritt, jeder Atemzug wird bewusster. Der Weg ist wieder einmal anspruchsvoll, aber genau das suche ich und macht diesen HexaTrek für mich so wertvoll. Step by Step verbessere ich meine Wahrnehmung und wie schnell ich etwas erfassen kann.
Seit Jahren konnte ich mich von Jakobswegen, bis hin über Fernwanderungen, gesundheitlich steigern. Es half mir, mich mit verbesserter Wahrnehmung in der Stadt besser zu bewegen und ich entdeckte auch das Fernwandern für mich. Die Natur bekam einen immer größeren Stellenwert.
Rehabilitation ist eigentlich nicht mehr das richtige Wort dafür. Man spricht eher von einer Langzeitversorgung oder chronischer Versorgung. Regelmäßige Therapien sind trotzdem erforderlich, um meinen Gesundheitszustand beizubehalten oder zu verbessern.
Der schmale Pfad windet sich den Berghang entlang. An den absturzgefährdeten Stellen bieten mir eiskalte Ketten Halt. Jeder Schritt ist bedacht, jede Bewegung muss präzise ausgeführt werden. Fehler sind hier nicht erlaubt. Erinnerungen an meine ersten Schritte kommen mir hoch. Auch damals durfte ich nicht stürzen, denn meine Reaktion war so langsam, dass ich umfiel wie ein Holzklotz. Heute genieße ich die Herausforderung, die Berge zu bezwingen, umso mehr, auch wenn die Anstrengung nicht weniger geworden ist.
Bald gehe ich in einem Tal leicht aufwärts, es sind ein paar Hundert Höhenmeter zu überwinden. Auf der anderen Seite des Wildbachs sehe ich neben einer Almhütte mehrere Zelte stehen. Es ist halb Neun, aber sie liegen noch im Schatten, während ich bereits in der Sonne gehe. Ich kann ihnen nachfühlen, wie kalt und feucht es ist und auch sie auf die Sonne warten.
Im noch einigermaßen flachen Teil gerate ich unter eine Rinderherde. Sie kommen von hinten und gehen etwas schneller als ich. Sie haben junge Kälber bei sich, was eine ungute Situation ist, denn es wird immer davor gewarnt, sich Kühen mit Kälbern zu nähern. Aufgrund von Wölfen haben sie einen besonderen Beschützerinstinkt, den sie auch gegenüber Menschen wahrnehmen. Daher bin ich dementsprechend vorsichtig und versuche so schnell es geht, ins steilere Gelände zu kommen. Das laute, aggressive brüllen einiger Kühe schreckt ab.
Plötzlich stehe ich einer stattlichen Rinderherde gegenüber. Ihre großen Augen fixieren mich, während sie gemächlich auf mich zukommen. Die Kälber trotten dicht bei ihren Müttern. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Der Instinkt dieser Tiere ist unberechenbar, besonders wenn sie ihren Nachwuchs schützen. Ich versuche, einen Bogen um sie zu machen, aber ihr tiefes, bedrohliches Brüllen lässt mich unwillkürlich innehalten. Die Natur zeigt hier ihre ungezähmte Kraft, und ich fühle mich klein und verwundbar, selbst gegenüber Kühen.
Nach dem Pass windet sich ein steiniger Pfad wie ein schmaler Grat durch die Landschaft. Jeder Schritt ist ein Balanceakt, denn die losen Steine geben unter meinen Füßen nach. Alles an Steinen fällt in den Weg und sammelt sich dort, dementsprechend schwer ist das Gehen darauf.
Ich fühle mich wie in einem Gemälde, umgeben von kräftigen Farben und weichen Formen. Ich wandere durch ein Meer aus Blau und Grün, umgeben von schroffen Felswänden und grünen Almwiesen. Schon bald treffe ich auf den ersten See, der in einem tiefen, satten Blau schimmert. Mal mehr, mal weniger steil geht es nach unten, von einem See zum nächsten, jeder in einem anderen Blauton leuchtend.
Zu Mittag erreiche ich die nächste Ortschaft, nachdem ich die letzten Kilometer im Eilschritt zurücklege. Ich komme aber um wenige Minuten zu spät, der dortige rustikale Gasthof schließt gerade, wie ich ankomme. Ich versuche den Wirt noch zu bitten, eine Ausnahme zu machen. "Tut mir leid, mein Freund", sagt er und verschwindet im Haus. Der Gastgarten ist mit Ketten verschlossen, obwohl er noch voll ist. Niemand wird mehr eingelassen.
Wieder einmal keine französische Küche, mit der ich seit Beginn ein Problem habe. Essen im Restaurant konnte ich erst ein paar Mal genießen, da die Restaurants für Fernwanderer wie mich, keine guten Öffnungszeiten haben. Es widerstrebt mir allerdings, meine Wanderung danach zu richten. Im Gegensatz dazu ist es auch anstrengend, ständig nach Alternativen suchen zu müssen, wenn die geplanten Einkehrmöglichkeiten ausfallen.
So werde ich doch noch zum Bergziegen-Gourmet. Käse und Wurst sind schließlich die Grundnahrungsmittel aller echten Wanderer, und dazu koche ich mir einen Kaffee. Und wer weiß, vielleicht entwickel ich ja noch eine Vorliebe für französische Küche – wenn ich sie denn jemals zu Gesicht bekomme.
So setzte ich mich auf eine nahe Bank hinter der geschlossenen Kirche und diniere wieder einmal das Übliche. Als Nachspeise genehmige ich mir ein Stück Nuss-Schokolade. Dabei habe ich mich so auf eine Abwechslung gefreut und bin deswegen die letzten Kilometer besonders schnell gegangen.
Zunächst geht es ein breites Tal hinaus, auf einem schönen Wanderweg. Aber ehe ich mich versehe, bin ich wieder steil hinauf, auf einem schmalen Steig. Ich folge der Markierung und gehe immer weiter.
Zunächst schlängelt sich der Weg gemächlich durch ein breites Tal. Doch je weiter ich komme, desto mehr verschwindet der Pfad in dichtem Gebüsch. Unachtsam bin ich dem Hauptweg gefolgt, dabei hätte ich einer kaum sichtbaren Abzweigung folgen sollen. Immer und jederzeit die Karte am Handy zu kontrollieren, ist mir aber zu viel. Das Navigieren wird mir am Hexatrek wieder zum Verhängnis.
Diesmal habe ich mich zu sehr treiben lassen und finde mich nun an einem Punkt, an dem ein Umkehren kaum mehr in Frage kommt. Ich studiere die Karte und komme zum Schluss, weiterzugehen. Es ist um wenige Kilometer weiter, dafür sind aber einige hundert Höhenmeter mehr zu überwinden. Und diese haben es in sich.
Ein schmaler Pfad windet sich immer steiler werdend einen Hang hinauf. Auf 2500 Metern Höhe erreiche ich endlich den Pass und es eröffnet sich mir ein atemberaubender Blick über die darunter liegende Landschaft. Auf der anderen Seite geht es gleich steil hinunter, nur nicht so weit. Bald darauf stoße ich wieder auf den Original-Trail, wo weitere 1400 Meter Abstieg ins Bergdorf Vallouise auf mich warten.
Der Abstieg fühlt sich endlos an und ich erreiche Vallouise am späten Nachmittag. Der große, am Ortrand liegende Campingplatz ist beeindruckend, aber der Bereich für kleine Zelte ist bei einem jüngsten Hochwasser komplett zerstört worden. Enttäuscht stehe ich da und werde von den Betreibern auf den nächsten Platz verwiesen, ganze fünf Kilometer weiter, ein kleines Tal aufwärts.
Nach kurzer Pause mache ich mich auf den Weg Eine weitere Stunde, auf einen vom Hochwasser zerstörten Weg. Dort angekommen, stellt sich heraus, dass es sich um einen spartanischen Platz handelt, ohne jegliche Infrastruktur oder Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Mein Gehirn kann die Situation kaum fassen. Irgendwie fühlt sich alles falsch an, denn mir fehlt es an allem, was ich für die nächsten Tage brauche.
Es wächst die Erkenntnis: Dieser Weg, der vor mir liegt, ist mit meiner Ausrüstung nicht zu beschreiten. Der Gedanke, noch weitere Tage so zu verbringen, ist unerträglich. Mit hängenden Schultern packe ich meine Sachen zusammen. Die Entscheidung zum Umkehren fällt mir schwer, aber die Vernunft siegt. Die fünf Kilometer ins Dorf zurück, ziehen sich, aber um acht Uhr morgens bin ich dort. Im Wasch-Saloon des Campingplatzes wasche ich meine gesamten Sachen, dusche mich und atme danach tief durch. In Regenhose und Regenjacke sitzend, alles andere ist in der Wäsche und bei einem selbst gekochten Kaffee mit frischem Crossant, schaut die Welt wieder anders aus.
Heute werde ich einen Ruhetag einlegen und ich treffe auf die beiden Neuseeländer, Sam und Matt. Sie laden mich ein, mein Zelt neben ihres aufzuschlagen. Heute ist Sonntag und viele Plätze wurden wegen der Abreise anderer frei. Hätte ich das nur gestern schon gewusst? Beim gemeinsamen Essen schmieden wir Pläne für die kommenden Tage. Matt hat noch etwas zu erledigen und wird in einigen Tagen nachkommen. Am nächsten Morgen brechen Sam und ich auf, um unser Abenteuer fortzusetzen.
Wir bleiben auf der linken Seite des reißenden Flusses. Nach wenigen Kilometern stoßen wir auf ein unüberwindliches Hindernis: Die Brücke, die das gegenüberliegende Ufer verbinden sollte, ist spurlos verschwunden. Das Hochwasser hat sie mitgerissen. Jeder Versuch hinüberzukommen scheitert. Ein Umweg würde uns zu viel Zeit kosten, deshalb beschließen wir, den Fluss trotzdem ein wenig weiter abwärts zu überqueren. Wir suchen eine nicht so tiefe Stelle, wo es gelingt.
Mit Sam überquere ich die L'Argentière-la-Bessée, durch eine Atemberaubende Landschaft, die dem Mond ähnelt. Ich übernachte auf einer Hütte, die zum Glück noch ein freies Bett hat. Auch am nächste Tag bleiben die überlangen An- und Abstiege, wo es erforderlich ist, in meiner Konzentration zu bleiben. Nur so kann ich diese Anstrengung bergauf händeln, mit den Gedanken ausschließlich beim nächsten Schritt zu bleiben.
Tja, daß das Leben in den Bergen seine Tücken hat, durfte ich bald erfahren. Nachdem ich den ganzen Tag über Felsbrocken und lange Steilhänge geklettert war, bekomme ich im Refuge de Souffle keinen Platz mehr, alles ist ausgebucht. Keine guten Aussichten für mich, da es in der Nacht Gewitter geben soll. Mit ein paar anderen schlage ich in der Nähe das Zelt auf.
Von 21 Uhr bis 2 Uhr morgens tobt ein Unwetter, aus Donner, Blitz und Regen. Von überall her kriecht das Wasser ins Zelt und meine ganze Ausrüstung ist nass oder zumindest feucht. Besonderes Glück habe ich mit meiner Isomatte, die ist sechs Zentimeter hoch und ich liege damit knapp über dem nassen Boden.
Die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Müde und durchnässt schleppe ich mich aus dem Zelt. Ich bin nur mehr froh, die Nacht überstanden zu haben. Ich kämpfe mich durch das Chaos meiner nassen Ausrüstung. Jede Bewegung kostet Überwindung, aber ich möchte nicht noch mehr Zeit verlieren. Den Treffpunkt mit Sam, der in der Hütte schläft, verpasse ich dennoch.
Endlich, nach gefühlten Stunden, bin ich um Acht startklar und mache mich auf den Weg. Bis zum nächsten Dorf sind es zwar nur zehn Kilometer, allerdings über 800 Meter im Aufstieg und 1300 Meter Abstieg. Der Weg ist vom nächtlichen Gewitter stark ausgewaschen und besonders die Wasserquerungen fordern mich heraus. Der Aufstieg ist rutschig und ein paar Bereiche sind sogar mit Stahlstangen gesichert.
Diese andauernd übermäßige Konzentration kostet mir viel Energie. Mit jedem Schritt muss ich befürchten auszurutschen, was fatale Folgen hätte. Eine solche Herausforderung hatte ich seit dem Hirnabszess noch nie und habe ich in diesem Ausmaß nicht erwartet. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, meine Grenzen zu respektieren. Diese Herausforderung treibt mich an meine absoluten Grenzen, körperlich und geistig, trägt aber auch dazu bei, mich als Person weiterzuentwickeln.
Am Pass angekommen, steht mir jetzt ein langer Abstieg bevor. Über steile, steinige und teilweise nasse Pfade springe ich nach unten.
Der Hexatrek ist ein ständiges Auf und Ab, bei dem Höhenunterschiede von über 1000 Metern keine Seltenheit sind. In Le Bourg d'Oisans finde ich mich bereits auf der Suche nach meinem dritten Paar Schuhe wieder – ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie stark das Material auf dieser anspruchsvollen Strecke beansprucht wird.
Es sind nicht nur die anspruchsvollen Wege, die ihren Tribut fordern – auch mein spezieller Gehstil trägt erheblich dazu bei. Jeder Schritt ist darauf ausgerichtet, Stabilität zu bewahren und ein Umkippen oder Stürzen unbedingt zu vermeiden. Diese konzentrierte und oft ungewöhnliche Belastung beansprucht meine Schuhe weit mehr als üblich.
Erst im zweiten Geschäft finde ich etwas Passendes: keinen Trailrunning-Schuh diesmal, sondern einen Wanderschuh von Hoka. Unter den getesteten Modellen scheint er die beste Alternative zu den Altra- oder Hoka-Speedgoat-Schuhen zu sein, die leider in meiner Größe nirgendwo verfügbar sind.
Die neuen Schuhe tragen sich zwar recht gut, sind jedoch keine Laufschuhe. Sie sind deutlich schwerer, bieten dafür aber durch den höheren Lederanteil mehr Stabilität – ein klarer Vorteil für den weiteren Weg. Was ich jedoch nicht bedacht habe, ist die nötige Umgewöhnung. Schnelle Schritte oder gar Laufen sind mit diesen Schuhen schlichtweg nicht möglich.
Gerade bergab versuche ich oft zu laufen, da das langsame Gehen für mich zu viel Kraft kostet. Ich habe eine Technik entwickelt, die es mir trotz Muskelschwäche ermöglicht, bergab zu laufen. Mit den neuen Schuhen gestaltet sich das jedoch schwierig, da sie dafür ungeeignet sind. Um die unterschiedlichen Muskelgruppen anzupassen und zu trainieren, wäre gezieltes Üben notwendig – etwas, das während des Hexatreks kaum machbar ist.
So werden speziell die Abstiege zu einer eigentlich unnötigen Erschwernis. So versuche ich das beste daraus zu machen, trotzdem gerate ich in einen Zustand, den ich immer schwerer Händeln kann. Das mich nach so vielen zurückgelegten Kilometern der letzten Jahre so etwas noch außer Tritt bringen kann, hatte ich nie gedacht.
Zunächst merke ich die körperliche Veränderung aufgrund der neuen Schuhe noch nicht stark, das sollte sich aber bald ändern. Ich übernachte selten unter 1800 Meter Seeehöhe und das meist bei schönstem Sonnenunter- oder Aufgang.
Der Hexatrek ist mehr als nur eine Wanderung für mich. Es ist eine Reise zurück ins Leben und ein Beweis dafür, dass auch nach Rückschlägen wieder neue Wege entstehen können.
Der Hexatrek fordert mich körperlich und mental heraus. Ich verlasse meine Komfortzone immer wieder, denn nur so kann ich wachsen. Auch nach acht Jahren ist das Gehen für mich die größte Übung. Jede Bewegung, jeder Schritt schult meine Wahrnehmung und erweitert meine Grenzen und dafür bin ich dankbar, denn diese Grenzen sind nach wie vor da.
Nach dem Jura bin ich mit dem Boot über den Genfer See gefahren, nach Thonon Les Bains (Beginn des HexaTrek Stage 2, die Nordalpen). Es geht durch das Herzstück der Alpen, die für mich allerdings die größte Herausforderung darstellen. Es war ein jahrelanges herantasten und Training, um diese durchgängig langen Anstiege bewältigen zu können. Die Muskelschwäche und neurologischen Probleme sind ja nach wie vor da.
Vor den hier beginnenden Nordalpen habe ich gehörig Respekt, denn es beginnen für mich die größten Schwierigkeiten in Bezug auf Ausgesetztheit und die große Höhenlage. Im geheimen überlege ich mir, manche dieser Abschnitte zu umgehen, wobei es allerdings auch die Schönsten sind. Alleine traue ich mich aber noch nicht darüber.
In Thonon finde ich auch Shops für neue Schuhe. Der Hexatrek forderte das Material bisher sehr stark, besonders die Schuhe, die bereits nach 700 km total hinüber sind. Am Camino war ich gewohnt, die Schuhe erst nach 1200 bis 1400 Kilometer zu wechseln, hier sind sie schon nach 550 km fast hinüber und nach 700 km total am Limit.
Neue Schuhe sind jetzt vonnöten. Erst im dritten Shop von Thonon werde ich fündig. Mein bisheriger, ein Hoka Speedgoat 5 in der Wide Version, war mein bisher bester Schuh. Allerdings werde ich die Wide Version hier kaum bekommen. Ich probiere alle möglichen Modelle durch, aber keiner ist auf den ersten Versuch bequem genug.
Mein alter Schuh schaut zwar optisch noch gut aus, aber die Sohle und die Dämpfung ist bereits sehr in Mitleidenschaft gezogen. Bereits nach 400 km begann sich die Sohle zu lösen und ich musste sie immer wieder mit Superkleber ankleben. Nach 700 km war nur mehr ein dünner Belag, zuwenig für die Alpen.
In einem Ausrüster Shop entscheide ich mich für den Altra Olympus 5, den ich bereits in England verwendete und mir daher vertraut ist. Seine breite Zehenbox ist bequem und er hat eine zwar gute, aber geringere Dämpfung, als der Speedgoat. Die beste Alternative zu allen anderen angebotenen ist er allerdings.
In den Alpen geht es dauernd rauf und runter, ähnlich wie in den Vogesen davor, nur sind die Auf- und Abstiege wesentlich länger. Mit 1000 Höhenmetern komme ich gerade mal 10 Kilometer weit. So heißt es einen neuen Rhythmus finden, der es mir ermöglicht am Tag mehr Höhenmeter zurückzulegen. Am Campingplatz de l´Essert werde ich einen Ruhetag einlegen.
Nach meinem Ruhetag gehe ich früh los und hole später am Tag den tags zuvor gestarteten Willy mit seiner Katze Jamy ein. Wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Jamy, seine Katze, aufmerksam die Umgebung während des Gehens studiert, während sie gemütlich auf Willys Rucksack ruht.
Als uns Regen überrascht, finden wir Unterschlupf unter dem Vordach einer geschlossenen Hütte und warten das Ende des Schauers ab. Wir werden von Kühen bedrängt, die ebenso unter dem Vordach Schutz suchen wollen.
Auf dem nächsten Abschnitt werde ich von Sam und Matt, zwei Thruhikern aus Neuseeland, eingeholt. Sie gehen ein flottes Tempo, und ich beschließe, ihnen zu folgen. Ihre Führung spart mir viel Energie, die ich lieber ins Gehen investiere, als mich selbst um die Navigation kümmern zu müssen.
Am Nachmittag, als der Regen und ein angekündigtes Gewitter näherkommen, erreichen wir das Refuge de Chesery gerade rechtzeitig, um uns vor dem Unwetter zu schützen. Da es andauert, beschließen wir, hier zu übernachten.
Am folgenden Tag stellt sich mir die Frage: Soll ich mit Sam und Matt den schwierigen Weg versuchen oder eine Abkürzung nehmen, um die steilsten und gefährlichsten Passagen zu vermeiden? Ich entscheide mich bewusst dafür, auf dem Hexatrek zu bleiben und nehme die Herausforderung der Cheval Blance an – einem anspruchsvollen Abschnitt, der nicht nur physische, sondern auch mentale Stärke erfordert.
Die Cheval Blance ist bekannt für ihre ausgesetzten Stellen, steilen Anstiege und technisch anspruchsvollen Passagen. Um es klarzustellen, wir reden hier vom Weitwandern und nicht vom Klettern, allerdings reicht das schon für mich, wenn die Hände des öfteren zu gebrauchen sind. Schon beim ersten Blick auf den felsigen Grat wird mir klar, dass dies keine einfache Etappe wird. Der Trail ist oft schmal, und ein falscher Schritt könnte fatale Folgen haben.
Die größte Frage ist für mich, wie werde ich all das Wahrnehmen? Diese Gedanken begleiten mich während des gesamten Aufstiegs. Sam und Matt, die sicher und zielstrebig vorgehen, geben mir das Selbstvertrauen, mich auf diesem schwierigen Weg zu bewegen.
Die steilen Passagen sind besonders fordernd. Die Hände kommen oft zum Einsatz, um den Fels zu greifen und mich sicher weiterzubewegen. An manchen Stellen führt der Pfad so nah an den Rand, dass der Abgrund tief unter mir zu sehen ist. Hier hilft es mich voll und ganz auf die Bewegungen und Schritte der Neuseeländer zu konzentrieren, die mir als erfahrene Thruhiker Sicherheit geben.
Diese Etappe fordert mir mental alles ab. Vor allem das Überwinden der ausgesetzten Stellen, bei denen es keinen Spielraum für Fehler gibt, verlangt höchste Konzentration. Es ist nicht nur die physische Anstrengung, die mich fordert, sondern auch die ständige Präsenz der Angst vor einem Sturz, die ich Schritt für Schritt überwinden muss. Wenn ich daran denke, dass ich vor zwei Jahren noch an einigen Brücken Probleme hatte, speziell beim Walkabout oder auch noch am JOGLE?
Rückblickend ist die Überquerung der Cheval Blanche einer der intensivsten Momente meiner Reise und zugleich der Höhepunkt seit meiner Rehabilitation. Noch vor zwei Jahren hätte ich mich nicht imstande gefühlt, solche Passagen zu bewältigen. Der Gedanke an schwankende Brücken, exponierte Grate und schwindelerregende Tiefblicke hätten mich zurückgehalten. Diese Wahrnehmung zu verbessern, ist seit vielen Jahren mein Ziel.
Hier, inmitten der Alpen, habe ich mich dieser Herausforderung gestellt und sie gemeistert. Ich bemerke es zwar, es dauert aber einige Tage, bis mir das alles bewusst wird. Zu groß ist meine Anspannung, die ja auch die nächsten Tage halten soll, wo noch einige schwierige Passagen auf mich warten.
Die Überquerung der Cheval Blanche markiert für mich nicht nur den physischen Höhepunkt dieser Wanderung, sondern auch einen emotionalen Meilenstein. Noch vor zwei Jahren hätte mich der bloße Gedanke an solche Herausforderungen vor unlösbare Probleme gestellt. 2021, beim Walkabout durch Austria, scheiterte ich beinahe am Arlberg, weil es links vom Wanderweg steil zum Bach abfiel. Diesen Ausblick konnte mein Gehirn nicht verarbeiten und ich musste die Augen schließen, um nicht schwindlig zu werden.
Brücken, egal ob klein oder groß, bereiten mir immer wieder immense Schwierigkeiten. Das Schwanken und die tiefen Abgründe lassen mich oft wegen Schwindel innehalten. Doch heute, nach acht Jahren harter Arbeit daran und kontinuierlicher Rehabilitation, habe ich diese Hürden zum größten Teil überwunden. Trotzdem kann ich mir nicht sicher sein, dass es hier und da auftritt.
Dank der Unterstützung von Sam und Matt, sowie meiner eigenen eisernen Willenskraft, habe ich einen Traum wahr gemacht, der lange Zeit unerreichbar schien: Die Besteigung der Cheval Blanche war der krönende Höhepunkt bisher, einer Reise durch die Alpen, die mein Leben für immer verändert. Nach acht langen Jahren habe ich mein Ziel, dass ich mir noch im Krankenhaus gesetzt hatte, erreicht – ein Moment, der mich mit tiefer Dankbarkeit und unbeschreiblicher Freude erfüllt. Gleichzeitig schwingt aber auch die Angst mit - was jetzt?
Meine Handicaps sind damit nicht weg. Trotzdem heißt es jetzt ein neues Ziel zu definieren und zu finden.
Fragen, die mich in letzter Zeit immer öfter beschäftigen, denn trotz der Behinderungen möchte ich noch etwas tun. Dass ich nicht arbeiten kann, ist mir inzwischen bewusst geworden. Jetzt heißt es etwas anderes kreieren, dass meinen derzeitigen Fähigkeiten entspricht. Körperlich wird es das Weitwandern bleiben, aber auch der Geist möchte beschäftigt sein.
Das Wandern spielt in meiner Zukunft eine besondere Rolle. Auf jeden Fall sehe ich meine Handicaps mit neuen Augen. Ich konnte meine Wahrnehmung verbessern und stabilisieren. Mein automatisches Gehen ist allerdings trotz der vielen Kilometer nicht wiedergekommen. Das habe ich hier besonders gemerkt. Der HexaTrek ist besonders für das Gehirn eine so große Herausforderung, denn die Wege sind schlecht (für mich), sodass ich mit dem Gehirn und dem Denken aktiv bei jedem Schritt dabei sein muss.
Es muss einfach jeder Schritt und Tritt sitzen. Einen Fehltritt darf und kann ich mir nicht erlauben. Das erfordert eine besondere Achtsamkeit und Wachsamkeit. Die Schwierigkeiten an der Cheval Blance, wie eigentlich auch am gesamten Hexatrek, liegt in den oftmals ausgesetzten und steilen Stellen. Ein Bergsteiger würde lächeln darüber, für mich stellt der Hexatrek aber die ultimative Herausforderung dar. Wobei ich noch nicht ahne, dass mir ähnliche Schwierigkeiten am weiteren Weg bleiben.
Von den schwersten Stellen habe ich keine Bilder, da das Fotografieren für mich unmöglich war. Ich wollte durch nichts abgelenkt sein und machte in höchster Konzentration Schritt um Schritt.
Meine Dankbarkeit ist grenzenlos, diesen Abschnitt doch in Angriff genommen zu haben und dieser Dank gilt auch Sam und Matt, ohne die ich es nicht gewagt hätte. Auf einem teilweise mit Seilen gesicherten Steig geht es in Richtung Chamonix. Ich bewege mich ständig in etwa 2100 m Seehöhe.
In Chamonix besorge ich mir in einem der vielen Sportgeschäfte ein neues T-Shirt, Heringe für das Zelt und ersetze den Spritus-Kocher durch einen Gas-Kocher. Mit meiner schlechten Feinmotorik ist der Umgang damit leichter. Am Campingplatz in Le Houches repariere alles was kaputtgegangen ist und bereite ich mich auf die nächsten Etappen vor. Größere Ortschaften werde ich in den nächsten Tagen keine haben, deswegen muss ich mehr an Lebensmitteln tragen.
Mit Le Houches verbinde ich gute Erinnerungen. 2002 filmte ich die Radzwillinge auf ihrer Nonstop Tour von Graz auf den Mt.Blanc. Ich kreuzte auch den Weg, den wir damals beim Aufstieg auf den Mt.Blanc nahmen. Mit diesen Erinnerungen nehme ich die nächsten Kilometer in Angriff, die zum Teil zur Tour de Mt.Blanc gehören, die teilweise der gleiche Weg ist.
Schön langsam realisiere ich, was ich geleistet habe. Das Gehen bereitet mir viel Freude und jeden Morgen kann ich es kaum erwarten, wieder am Trail unterwegs zu sein. Mein Tagesablauf in den Alpen bekommt eine Routine. Diese Routinen helfen mir, nicht so stark mein Gehirn zu belasten. Im Moment fühle ich mich wohl und alles funktioniert.
Ich gewöhne mich zwar immer besser an die langen An- und Abstiege, allerdings verbessert sich meine Muskelschwäche kaum. Gehe ich in die Hocke, kann ich nicht aufstehen, ohne mich irgendwo aufzuziehen oder anzuhalten. Das schaut in Supermärkten komisch aus, kann ich aber nicht ändern. Dafür hat sich mein Atmen geändert, ich gerate nicht mehr bei jeder kleinsten Steigung außer Atem.
Ab jetzt geht es immer in Richtung Süden. Hin und wieder Schneefelder, auf denen ich besonders aufpassen muss. Das Gehen auf Schnee ist nach wie vor nur schwer möglich. Die Schwierigkeit am HexaTrek sind auch die oft von Steinen und Felsen übersäten Wege.
Achtsam jeden Schritt setzen, ist die Voraussetzung, daß kostet aber viel Konzentration und Energie. Ausblick in die Gegend erhalte ich nur, wenn ich stehen bleibe. Sonst muss mein Gehirn bei jedem Schritt bleiben. Es ist um vieles anstrengender, als jeder Camino bisher.
Die größten Bedenken hatte ich ja darin, wenn ich in schwierigem Gelände unterwegs bin, womöglich Doppelbilder zu bekommen. Deswegen möchte ich stabiler werden, was mir nicht nur am Berg, sondern in Zukunft auch in der Stadt und überhaupt helfen wird. Die Kunst ist es, mich an der Grenze zu bewegen und diese immer weiter hinaus zu schieben.
Am letzten Tag der Nordalpen gehe ich Nachmittags den Col du Galibier hoch. Der genaue Weg der GPS Daten ist nicht anzufinden, so gehe ich die ersten Kilometer die Straße hoch. Es ist ein eigenartiges Gefühl diesen Geschichtsträchtigen Berg zu Fuß zu erklimmen und nicht mit dem Rad. Diese Tage sind geprägt von der Tour de France, denn immer wieder quere ich bekannte Pässe, die ich großteils nur vom Fernsehen kenne.
Nach 5 Kilometern auf der Straße, wechsle ich auf den Bergpfad. Der weitere Aufstieg ist zäh. Ein kaum begangener und noch wenig sichtbarer Weg führt nach oben und oft geht es durch steiles Geröll, wo der Weg überhaupt nicht zu sehen ist. Mit dem Handy navigiere ich mich hier durch, wobei es oft kerzengerade den steilen Hang hoch geht. Den Pass erreiche ich hoch über dem Tunnel und der Straße und klettere vorsichtig über die steilen Schotterwände ab.
Das erste Gasthaus an der Straße hat geschlossen, so mache ich mich auf den Weg ins Tal, wo eine Herberge eingezeichnet ist. Aber auch die ist zu und sogar für immer geschlossen, so bleibt mir nur weiterzugehen in Richtung Col de Lauteret.
Mit dem Erreichen des Col du Lauteret habe ich die Nordalpen geschafft. Es ist schon 18 Uhr und ich treffe auf ein offenes Restaurant auf der Passhöhe. Ich genehmige mir ein Essen und suche dann in der Nähe einen Biwakplatz.
Am bisher kältesten Morgen am Hexatrek beginne ich die Südalpen. Der Col du Lauteret bildet die Grenze dazu, immerhin 2050 m hoch. Zuerst noch im Schatten, beginne ich mit der aufkommenden Sonne die Südalpen.
Mehr dazu im nächsten Blogbeitrag.
Die ersten 700 km des Hexatrek in Frankreich liegen hinter mir. Der erste Teil ist somit geschafft, mit den Vogesen und dem Jura.
Ich bin am Genfer See angelangt und jetzt warten die Alpen. Es ist sehr anstrengend und mir fehlt die Tastatur zum Schreiben, so gibt es nur einen kurzen Überblick.
Die Vogesen sind bereits ein absolutes Highlight meiner Reise. So viel Kultur und so viele Burgruinen wie hier habe ich noch nie erlebt. Obwohl ich eigentlich für mein Gehirn ein Sparprogramm verfolge, tut es unglaublich gut, mich intensiver mit der Geschichte und den Sehenswürdigkeiten dieser Region auseinanderzusetzen. Interessanterweise hatten auch die Habsburger hier ihre Finger im Spiel.
Die Wanderungen führen bergauf und bergab, oft durch dichte Wälder, die einen angenehmen Schutz vor der Sonne bieten. Ich biwakiere fast die ganze Zeit, was bedeutet, dass ich immer genug Wasser für die Nacht dabei haben muss. Dadurch ist mein Rucksack oft ziemlich schwer – meistens um die 10 kg und mehr.
Nach den Vogesen folgt der Fluss Doubs. Der Regenwald Neuseelands wirkt fast wie ein Vergleich in Sachen Schönheit.
Die unzähligen Grüntöne, die das Auge erfreuen, sind wahrhaft heilend. Moose und Flechten hängen von den Bäumen, und man fühlt sich wie in einem verzauberten Land.
Allerdings ist alles stets feucht und nass, besonders am frühen Morgen. Die Wahl des Zeltplatzes ist zwar entscheidend, bietet aber kaum Schutz vor der allgegenwärtigen Feuchtigkeit.
Im Jura entscheide ich mich längere Distanzen zurückzulegen,aber dafür mehr Wasser zu tragen. Es kommen mindestens 3 Liter zusammen, wodurch sich das Gewicht meines Rucksacks auf über 10 kg erhöht. So viel habe ich seit meinem Hirnabszess kaum noch getragen.
Mit etwa 1600 Metern erreiche ich den höchsten Punkt im Jura. Von hier aus bietet sich eine atemberaubende Aussicht auf den Genfer See und die dahinterliegenden Alpen, mit dem majestätischen Mont Blanc im Hintergrund.
Meine Schuhe haben mittlerweile ihr Limit erreicht, und ich weiß, dass ich vor den Alpen neue brauche. Die Sohle ist stellenweise so dünn, dass sie sich bereits ablöst. Das zusätzliche Gewicht macht sich bemerkbar – sowohl an meinen Füßen als auch an den Schuhen.
Diese letzten acht Jahre, jeder einzelne Jakobsweg, das viele Gehen und das ständige Training für mein Gehirn – ich möchte keines dieser Erlebnisse missen. Manchmal mag mich vielleicht jemand schief anschauen wegen meiner Besessenheit, zu gehen. Doch jeder Schritt war notwendig, um an den Punkt zu kommen, an dem ich heute stehe.
Natürlich spüre ich noch immer die Auswirkungen der Halbseitenlähmung, den verlorenen Automatismus und die Muskelschwäche. Aber mittlerweile habe ich gelernt, damit zu leben. Ich gehe viele Dinge anders an, und oft wundere ich mich selbst, wie ich in vielem auf eine neue Weise funktioniere. Das einzige, was mir bleibt, ist, mich an ein Sprichwort zu halten:
„Es ist, wie es ist, weil es IST – und nicht, weil es gut ist.“
Mein anderes Schicksal, ein Pflegefall zu bleiben, war nur einen winzigen Schritt entfernt. Doch mein unbeugsamer Wille und die klare Entscheidung, zu leben, hielten mich davon ab, auf einen Rollstuhl angewiesen oder gar im Bett liegen zu bleiben.
Allmählich spüre ich wieder, was es heißt zu leben. ❤️🍀🙏
Im nächsten Teil werde ich dann über die Alpen berichten! Bis dahin auf Facebook und neuerdings auch wieder auf Instagram.
Vor acht Jahren änderte sich mein Leben schlagartig. Ein Hirnabszess brchte mich an den Rand des Lebens. Plötzlich musste ich alles neu lernen. sprechen, denken, die Bewegung und vor allem, Gehen.
Die Rehabilitation war lang und oft mühsam. aber sie lehrte mich auch, das Leben und jede einzelne Bewegung zu schätzen.
Heute, viele Jahre später, beginnt für mich eine neue Herausforderung. Dieses Abenteuer bringt mich, im Idealfall, 3000 km durch die atemberaubenden Landschaften der Vogesen, der Alpen und Pyrenäen – der Hexatrek, durch Frankreich.
Dieser Weitwanderweg durch Frankreich wurde 2022 gegründet und ich möchte euch einen Einblick in meine Vorbereitung geben, von der Ausrüstung bis zur mentalen Einstellung. Das ist nicht nur eine Reise durch wunderschöne Landschaften, sondern auch ein wichtiger Teil meiner Rehabilitation und meiner persönlichen Entwicklung.
Die Entscheidung den Hexatrek zu wandern, kam mir über Nacht. Nach Jahren intensiver Therapie und vieler kleiner Fortschritte fühle ich mich bereit für ein neues Abenteuer.
Meine bisherigen Caminos und Wanderungen in den letzten Jahren hatten jede ihren eigenen Zweck, so auch diese. Ich leide unter bleibenden Behinderungen, die mein Nervensystem, mein Gleichgewicht und meine Merkfähigkeit beeinträchtigen. Ich versuche was geht, Verbesserungen zu erzielen.
Rehabilitation und Leben unter einen Hut zu bringen, stellt eine enorme Herausforderung dar. Präferiere ich eines, leidet darunter das Andere und ich gerate aus meiner Mitte, daher soll beides sein. Es ist ein langer Prozess, in dem ich langsam Vertrauen in meinen Körper zurückgewinne.
Seit meinem Hirnabszess hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich kann nicht mehr arbeiten, was für mich eine enorme Herausforderung darstellte. Ich musste lernen, dass die Arbeit, die ich ja gerne machte, nicht alles im Leben ist. In dieser schweren Zeit habe ich jedoch eine Leidenschaft entdeckt, die mir hilft, wieder Lebensmut zu fassen und die mir Sinn gibt: das Wandern, Pilgern und Weitwandern.
Der Hexatrek, ein wenig bekannter Weitwanderweg durch Frankreich, ist jetzt genau das Richtige. Er ist Herausforderung, aber auch eine Chance, meine Fortschritte unter Beweis zu stellen und weiter zu festigen.
Das Wandern hat mich auf eine Weise zurück ins Leben geführt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Anfangs war es einfach ein Mittel, um gehen zu lernen, aus dem Haus zu kommen und meinen Körper zu bewegen. Es ist noch immer die beste Rehabilitation - Gehen als Therapie.
Doch bald merkte ich, dass das Wandern viel mehr ist, als nur eine körperliche Betätigung. Es wurde zu einer Therapie für die Seele und einer Möglichkeit, den Geist zu beruhigen und den Kopf freizubekommen.
Mit jedem Schritt den ich mache, fühle ich mich der Natur und mir selbst näher. Die sanften Hügel, die rauschenden Bäche und die weiten Felder – sie alle haben eine beruhigende Wirkung auf mich und therapieren meinen Körper.
Das alles erinnert mich daran, dass das Leben auch außerhalb meiner eigenen vier Wände weitergeht und dass es überall Schönheit und Freude zu finden und erleben gibt. Die Natur ist meine Medizin und mit jedem Weg finde ich mehr und mehr Vertrauen in mich.
Das Wandern bietet mir die Möglichkeit, mich wieder lebendig zu fühlen und das mit oder trotz Behinderung. Ich kann den Alltag hinter mir lassen und lebe im Moment. Diese Präsenz im Hier und Jetzt ist für mich von unschätzbarem Wert und kann ich in der Natur noch besser ausleben.
Noch habe ich Probleme damit, an die Vergangenheit oder in die Zukunft zu denken. Den Moment zu leben, ist für mich die einzige, aber auch die beste Möglichkeit.
Das Wandern rückt die innere Ruhe in den Vordergrund, die sich nur dann einstellt, wenn ich im Einklang mit mir selbst und meiner Umgebung bin. Durch den Hirnabszess habe ich gelernt, dass das Leben aus vielen kleinen Schritten besteht. Jeder einzelne mag unscheinbar erscheinen, doch in ihrer Gesamtheit ergeben sie einen Weg, der mich weiterbringt.
Manchmal ist es ein steiniger Pfad, manchmal eine sanfte Wiese – jeder Weg kann eine Metapher sein, für den eigenen Weg. Jeder Weg hat seine eigene Schönheit und seinen eigenen Wert. Das Wandern hat mir geholfen, wieder Vertrauen in mich selbst und in das Leben zu finden.
Wandern hat mir gezeigt, dass es immer einen Weg gibt, auch wenn er nicht immer geradeaus führt. Diese Erkenntnis gibt mir Kraft und Zuversicht, auch die Herausforderungen des Alltags zu meistern, so wie ich sie auf meinen Weitwanderwegen meisterte.
Eine so lange Wanderung erfordert eigentlich eine sorgfältige Planung, besonders mit meiner Vorgeschichte. Mein Gehirn lässt aber seit dem Hirnabszess kein detailliertes Planen mehr zu. Die Erfahrung aus den letzten Jahren lässt mich leichter damit umgehen.
Die Entscheidung, es zu versuchen, kam mir erst vor 14 Tagen. Die Hexatrek-App und ein paar YouTube-Videos, in denen Wanderer ihre Tipps und Erfahrungen teilen, haben mir geholfen, mich auf diesen Weg vorzubereiten.
Der Hexatrek ist kaum mit meinen bisherigen Wegen vergleichbar. Die oft große Höhenlage, Ausgesetztheit und das oftmalige Zelten machen es für mich unberechenbar, gleichzeitig aber auch interessant, wie mein Körper reagieren wird. Die optimale Ausrüstung wird eine wichtige Rolle spielen.
Die Wahl der richtigen Ausrüstung ist entscheidend. Ich achte darauf, dass meine Ausrüstung leicht und funktional ist, um meinen Körper nicht unnötig zu belasten. Es geht durch viele verschiedene Höhenlagen und Klimazonen, daher lege ich auf die Ausrüstung einen besonderen Augenmerk.
Das Basisgewicht beträgt 5 kg. Dazu kommen Nahrungsmittel und Wasser, die immer variieren.
Hier eine Liste der wichtigsten Gegenstände, die ich mitnehmen werde:
Zur Ausrüstungsliste auf lighterpack geht's hier.
Ein 3000 km langer Trek erfordert eine gute körperliche Verfassung. In den letzten Monaten, nach der Via de la Plata in Spanien, habe ich mein Training, bzw. meine Rehabilitation intensiviert. Regelmäßige Wanderungen und Gleichgewichtstraining haben meinen Körper auf die bevorstehenden Herausforderungen (hoffentlich) vorbereitet.
Seit meinem Hirnabszess und den folgenden Jahren der Rehabilitation habe ich unermüdlich daran gearbeitet, Kraft und Ausdauer aufzubauen. Allerdings mehr Ausdauer, denn durch die Muskelschwäche bin ich in der Kraft limitiert. Darum werden die vielen langen Anstiege eine Herausforderung.
Im therapeutischen Tanzen konnte ich, wie die Jahre zuvor, interessante neue Aspekte gewinnen, die mir auf diesem Weitwanderweg helfen werden. Ohne die Tanztherapie wäre ich nicht da, wo ich heute bin.
Es ermöglicht mir, mit diesem Leben immer besser zurechtzukommen und hat mir durch die Pandemie geholfen. Ich lernte unter anderem, mich, mit gestörter Tiefensensibilität und Nervensystem, besser zu bewegen. Keine andere Therapie konnte mir bisher so viel vermitteln.
Es ist mir eine Freude, mich im Tanz selbst wiederzuentdecken. Unter Anleitung meiner Therapeutin Hanna Treu, konnte ich in den letzten Jahren enorme Verbesserungen machen, die mir kaum wer zugetraut hätte. Diese neu gewonnene Selbstwahrnehmung hat mir eine Lebensqualität beschert, die ich so nicht erwartet habe.
Es bleibt ein tägliches Arbeiten an mir. Für den Hexatrek wird es besonders wichtig, mich zeitweise an das Tragen eines schweren Rucksacks zu gewöhnen, soweit es eben die Muskelschwäche zulässt. Das war die letzten Jahre noch nicht möglich. Ich werde allerdings wieder im Leicht- oder Ultraleicht Modus unterwegs sein, denn nur so ist es für mich möglich.
Der Hexatrek ist in sechs Abschnitte unterteilt. Diese führen durch verschiedene Landschaften Frankreichs:
Jeder Abschnitt hat seine eigenen landschaftlichen Highlights und Herausforderungen.
Neben der körperlichen Vorbereitung spielt die mentale Vorbereitung eine entscheidende Rolle für den Ausgang eines solchen Unternehmens. Ich habe zu lernen, mit meinen Ängsten umzugehen und Vertrauen in meine Fähigkeiten zu gewinnen. Meditation und Achtsamkeitstraining helfen mir, inneren Frieden und Klarheit zu finden.
Für mich ist das mentale Training genauso wichtig wie das physische, besonders angesichts meiner gesundheitlichen Herausforderungen. Vor kurzem habe ich auf einer Probetour getestet, wie ich mich an ausgesetzten Stellen verhalte. Es ging zum Lugauer, er war das ideale Testgelände dafür.
Vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle noch umgedreht. Die Ausgesetztheit verursachte damals noch Drehschwindel. Es war diesmal zwar noch ein Unbehagen dabei, aber ich meisterte die Stelle, rauf wie runter. So teste ich immer wieder, wie ich auf verschiedene Situationen reagiere.
Eine der größten mentalen Hürden ist das Aufbauen und Bewahren von Selbstvertrauen. Seit meinem Hirnabszess habe ich oft Zweifel an meinen Fähigkeiten und meiner Belastbarkeit.
Durch das Wandern habe ich jedoch gelernt, dass ich mehr erreichen kann, als ich oft glaube. Jeder erfolgreich gemeisterte Abschnitt stärkt mein Vertrauen in mich selbst.
Lange Wanderungen erfordern ein hohes Maß an Durchhaltevermögen. Es gibt Tage, an denen ich müde und erschöpft bin. In solchen Momenten ist es wichtig, die innere Stärke zu finden, um weiterzumachen.
Das Wandern hat mich gelehrt, dass es in Ordnung ist, Pausen einzulegen und sich Zeit zu nehmen, um wieder Kraft zu schöpfen. Diese Erkenntnis hilft mir auch im Alltag, Herausforderungen gelassener anzugehen und Rückschläge als Teil des Weges zu akzeptieren.
Eine Wanderung bietet die perfekte Gelegenheit, Achtsamkeit zu üben. Durch die ständige Bewegung in der Natur und das bewusste Erleben der Umgebung kann ich meine Gedanken beruhigen und mich auf den Moment konzentrieren.
Achtsamkeit hilft mir, Stress abzubauen und die Schönheit des Augenblicks zu genießen. Diese Praxis hat auch meine allgemeine Lebensqualität verbessert und mir geholfen, eine positive Einstellung zu bewahren.
Angesichts meiner gesundheitlichen Situation habe ich manchmal mit Ängsten und Unsicherheiten zu kämpfen. Das Wandern lehrt mich, diese Gefühle zu akzeptieren und ihnen nicht die Kontrolle zu überlassen.
Indem ich mich Schritt für Schritt vorwärts bewege, lerne ich, meine Ängste zu überwinden und mich auf das zu konzentrieren, was ich kontrollieren kann. Diese Fähigkeit überträgt sich auch auf andere Bereiche meines Lebens und gibt mir die Kraft, mich neuen Herausforderungen zu stellen.
Ängste treten vor allem in der Stadt auf und überall wo viele Menschen sind. Ich bin dann in einem Daueralarmzustand, aus dem ich kaum raus kann. Diese erhöhte Anspannung ist natürlich nicht gesund.
Ich möchte deshalb einerseits meinen Körper kontrollieren lernen, andererseits, das Gegenteil von Kontrolle, ist Vertrauen. Beim Gehen in der Natur kann ich beides üben und verbinden, Kontrolle und Vertrauen in mich finden. Die richtige Balance zwischen beidem zu finden, ist mir wichtig. Dann wirds auch in der Stadt für mich leichter.
Während des Wanderns finde ich eine innere Ruhe, die ich im Alltag oft vermisse. Die Natur bietet einen Rückzugsort, an dem mein Körper entspannen kann und das Nervensystem beruhigt.
Ich brauchte fast vier Jahre, bis mein Ruhepuls von 85 im Krankenhaus, auf knapp über 50 heute, gesunken ist. Das viele Gehen und Ausdauertraining hat dazu entscheidend beigetragen.
Der Hexatrek wird sicherlich eine der größten Herausforderungen der letzten Jahre und wird weitere wichtige und lohnende Erfahrungen beinhalten. Er wird mir Erfahrungen bringen, die mich im Leben erneut weiter voranbringen werden.
Abenteurer und Entdecker von mir selbst bin ich seit dem Hirnabszess geworden und dazu verhelfen mir meine Reisen und Pilgerwege. Mit der richtigen Vorbereitung und der notwendigen mentalen Stärke bin ich zuversichtlich, dass ich auch dieses Abenteuer erfolgreich meistern und eine Menge dazulernen werde.
Ich freue mich darauf, meine Erfahrungen und Erlebnisse mit euch zu teilen. Bleibt dran für Updates hier im Blog (abonnieren) und auf Facebook. Folgt mir auf diesem spannenden Weg, der wieder ein wichtiger Schritt für mich ins Leben ist. Das Gehen gibt mir Freude und auf diese Art kann ich wieder zu mehr Kontakt zu meinen Mitmenschen kommen.
Es wird nie mehr wie früher sein, aber wichtig ist, dass ich immer einen Sinn im Leben und damit auch Freude daran finde.