Jeden Tag neu anfangen – Mein Leben mit Hirnschädigung

Manchmal fühlt es sich an, als würde ich in einer Endlosschleife leben – wie in dem Film „…und täglich grüßt das Murmeltier!“. Jeden Morgen wache ich auf, und alles beginnt wieder von vorne. Der Hirnabszess brachte eine Hirnschädigung im Körper und im Geist und das macht es so Herausfordernd.

Ich kämpfe immer gegen dieselben Herausforderungen an, ringe mit den gleichen Einschränkungen und starte jeden Tag mit einem Gefühl des Neuanfangs. Jeder Schritt, den ich mache, ist eine bewusste Entscheidung: nicht aufzugeben und das Beste aus diesem Tag herauszuholen.

Meine Hirnschädigung hat mein Leben radikal verändert. Pläne zu schmieden, langfristige Ziele zu verfolgen oder einfach unbeschwert durch den Alltag zu gehen – all das ist nicht mehr selbstverständlich. Jeder Tag verlangt volle Konzentration, jede Handlung braucht ihre Zeit. Kleinigkeiten, die andere Menschen mühelos meistern, kosten mich enorme Anstrengung. Oft wirkt der Alltag dadurch zäh und schwerfällig.

Hirnabszess MRT
Hirnschädigung

Trotzdem habe ich mir eine Haltung bewahrt, die mich immer wieder antreibt: NEVER GIVE UP! Dieser Satz ist für mich mehr als nur ein Motivationsspruch. Er ist ein Versprechen an mich selbst, niemals aufzugeben, egal wie schwer es ist. Auch wenn ein Tag mal im Bett endet und ich gefühlt keinerlei Fortschritte gemacht habe, zähle ich es als Erfolg. Denn das bedeutet, dass ich am nächsten Tag wieder aufstehen und es erneut versuchen werde.

Mit Hirnschädigung auf den Jakobsweg – Ein Weg zu mir selbst

Eine der prägendsten Erfahrungen war für mich der Jakobsweg. Tag für Tag war ich unterwegs – nur mit dem Nötigsten im Rucksack. Das Leben wurde auf drei Dinge reduziert: Gehen, Essen, Schlafen. In dieser Einfachheit liegt eine tiefe Klarheit, die mir geholfen hat, mich selbst besser zu verstehen. Jeder Schritt ist ein kleiner Sieg, jede Etappe ein Erfolg. Oft waren die Wege steinig, die Hitze drückend und der Körper erschöpft. Aber der Camino zeigt mir, dass es nicht darauf ankommt, wie schnell man geht, sondern dass man überhaupt weitergeht.

Mit Hirnschädigung am Jakobsweg
Erschöpft, aber glücklich!

Auf der Strecke habe ich gelernt, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sorgen über die Zukunft oder Gedanken an die Vergangenheit verlieren an Bedeutung. Der Weg zwingt mich, im Hier und Jetzt zu leben. Jeder Sonnenaufgang fühlt sich an wie ein neuer Anfang, jeder Kilometer ist eine Erinnerung daran, dass Fortschritt in kleinsten Schritten entsteht.

Die Einfachheit des Pilgerns hat mir eine Perspektive geschenkt, die ich heute in meinen Alltag integriere: Schritt für Schritt, Tag für Tag - immerhin lebe ich schon seit 9 Jahren mit der Hirnschädigung.

Raubvögeln in der Nähe des Crux de Ferro

Struktur gibt mir Halt

Mein Alltag funktioniert nur mit einer festen Struktur. Routinen sind mein Anker im Chaos, sie geben mir Sicherheit. Der Ablauf des Frühstücks, Zeiten für Pausen, Bewegung und Ruhephasen – das klingt vielleicht eintönig, aber es hilft mir, den Tag zu bewältigen. Diese Struktur ist wie ein Geländer, an dem ich mich entlangtasten kann. Ohne sie wäre ich oft verloren.

Dabei ist es wichtig, kleine Momente der Freude zu schätzen. Ein Spaziergang an der frischen Luft, ein gutes Gespräch, eine warme Mahlzeit – all das sind Dinge, die anderen selbstverständlich erscheinen, für mich aber große Bedeutung haben. Solche Augenblicke helfen mir, auch an schwierigen Tagen positiv zu bleiben, trotz der Hirnschädigung.

Lebe Grenzenlos, mit Hirnschädigung

Fortschritt in kleinsten Schritten

Oft messen wir unseren Erfolg an großen Zielen: Karriere, materielle Erfolge, perfekte Beziehungen. Für mich ist das anders. Fortschritt bedeutet für mich, kleine Schritte zu machen und mir selbst Zeit zu geben.

Manchmal ist das Aufstehen schon ein Sieg, an anderen Tagen schaffe ich es, mich intensiv zu konzentrieren oder eine Aufgabe zu Ende zu bringen. Die schönste Zeit erlebe ich auf meinen Pilger- und Weitwanderwegen, wo ich mein seit langer Zeit auf Alarm gestelltes Nervensystem Schritt für Schritt beruhigen konnte.

Ich lernte Lebendigkeit, Freude und ein Gefühl von Energie, anstatt Müdigkeit, die nicht durch den Schlaf vergeht und der Körper wie aus Blei besteht. Der Hirnabszess schaltete mein Nervensystem ab und ließ es erstarren. Die ersten Jahre nach dem Hirnabszess waren die schwersten. Ich fühlte mich oft als Pflegefall abgestempelt. Deshalb begann ich bald nur mir und nicht den Ärzten zu vertrauen. Das Roboterhafte gehen, bekam ich erst mit der Tanztherapie in den Griff.

Doch es geht nicht immer nur vorwärts. Oft geht es nur darum, den aktuellen Zustand zu halten. Stillstand ist manchmal schon ein Erfolg, denn ein Rückschritt passiert schnell, besonders wenn ich nicht konsequent dranbleibe.

Jede Pause, jeder verlorene Tag macht es schwerer, wieder am Leben anzuknüpfen. Dieser Kampf um den Erhalt meiner Fähigkeiten ist ein ständiger Begleiter. Rückschläge sind Teil des Weges, aber ich habe gelernt, sie anzunehmen und weiterzumachen. Wichtig ist nur, dass ich nicht stehen bleibe.

Training für den Alltag – Eine Parallele zum Radrennsport

Früher war ich Radrennfahrer. Tägliches Training war für mich selbstverständlich: jeden Tag raus, Kilometer um Kilometer abspulen, oft für kleinste Fortschritte, die kaum spürbar oder sichtbar waren. Ich habe gelernt, nicht zu hinterfragen, warum ich es tue, sondern es einfach zu machen. Dieser Ehrgeiz und diese Disziplin prägen mich bis heute.

Crocodile Trophy Australien

Auch jetzt trainiere ich jeden Tag – nicht mehr auf dem Rennrad, sondern im Alltag. Jede Bewegung, jeder Gedanke ist ein bewusster Schritt nach vorne. Es ist wie im Sport: Manchmal fühlt es sich an, als trete man auf der Stelle, doch wenn man weitermacht, sieht man irgendwann die Fortschritte.

Dieses Training hat mir geholfen, nicht aufzugeben, auch wenn es oft nicht einfach ist. Es ist ein täglicher Kampf, aber genauso auch eine tägliche Entscheidung: Schritt für Schritt, Tag für Tag.

NEVER GIVE UP – Schritt für Schritt, Tag für Tag.


27.März 2016 - Ein Hirnabszess stellte vor 9 Jahren alles auf den Kopf

27. März 2016. Ein Datum, das sich tief in mein Leben eingebrannt hat. Ostersonntag. Ein Tag, den viele mit Familie, Freude und Osterbräuchen verbinden. Doch für mich wurde er mit einem Hirnabszess zum Wendepunkt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

Während die Kinder Ostereier suchten, lag ich regungslos im Bett. Schwindel, Übelkeit, ein Gefühl, als würde mein Körper nicht mehr mir gehören. Ich hielt es für eine Grippe. Doch es wurde schlimmer. Ich konnte nicht mehr klar sprechen, Gedanken wurden unmöglich. Mein Gehirn begann, sich selbst aufzugeben.

Der Rettungswagen brachte mich ins LKH Graz. Dort dann die Diagnose: Hirnabszess.

Ein Wort, das mir bis dahin fremd war. Doch in diesem Moment bedeutete es alles. Von einer Sekunde auf die andere war mein altes Leben vorbei.

Hirnabszess
Hirnabszess

Noch wenige Tage zuvor war ich Extremradsportler, Trailrunner, Bergsteiger, Videojournalist – immer auf der Suche nach der nächsten Herausforderung. Nun stand ich vor der größten aller Herausforderungen: Zu Überleben. Neu lernen, was mir einst selbstverständlich war, kam später.

Intensivstation – Ein Körper am Nullpunkt

Die Tage auf der Intensivstation sind in meinem Gedächtnis nur noch als Bruchstücke vorhanden. Ich existierte, mehr nicht. Mein Denken war reduziert auf das absolute Minimum. Der Hirnabszess stoppte alles.

Besuch? Eine Last. Schon zehn Minuten Gespräch laugten mich aus. Mein Gehirn war erschöpft – als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt.

Auf der Intensivstation mit einem Hirnabszess  Bild von https://pixabay.com

Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, was an diesem 27. März die Diagnose mit mir gemacht hatte:

Wortfindungsstörungen – Ich wusste, was ich sagen wollte, doch die Worte waren fort und fanden nicht den Weg nach Draussen.

Lähmung der rechten Körperhälfte – Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, mein Bein war kraftlos, ich war rechtsseitig gelähmt. Dazu neurologische Störungen am ganzen Körper.

Schwindel – Stehen? Unmöglich. Selbst im Sitzen kippte ich zur Seite.

Kein Gefühl für Zeit – Vergangenheit? Zukunft? Beides existierte nicht mehr. Nur das HIER und JETZT blieb.

Ein totaler Systemabsturz. Ich fühlte mich wie ein Computer, der nach einem Reset völlig neu programmiert werden musste.

Von der Reha bis zum ersten Schritt

Nach fünf Monaten Krankenhaus begann die nächste Etappe: die Reha. Hier musste ich mich von Grund auf neu erfinden. Der Hirnabszess brachte mich auf die Stufe eines Kleinkindes.

🔥 Gehen lernen – Zehn bis 50 Meter waren eine Tagesleistung. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich durch Treibsand waten.

🔥 Schreiben lernen – Ein einziges Wort zu Papier zu bringen, dauerte Minuten. Oft verlor ich mitten im Satz den Faden. Allein den Stift zu halten, erforderte eine Konzentration und Kraft, die ich nicht hatte.

🔥 Sprechen trainieren – Gespräche erschöpften mich schneller, als ich es für möglich gehalten hätte.

🔥 Geduld üben – Ich wollte schneller vorankommen, doch mein Körper bestimmte das Tempo. Geduld mit mir selbst haben, war angesagt.

Jeder Tag war eine Herausforderung. Ein mühsames Vorwärtskommen, ein permanenter Kampf um jeden kleinsten Fortschritt. Doch egal, wie langsam es ging – ich bewegte mich vorwärts.

"Step by Step" wurde mein Credo und ja keinen Schritt überspringen.

Monatelang nach dem Hirnabszess noch im Rollstuhl
Monatelang im Rollstuhl

27. März – Ein Jahrestag voller Bedeutung

Jedes Jahr bringt dieser Tag mich zum Innehalten. Kein Geburtstag, kein Feiertag – und doch ist er für mich der einer der wichtigsten Tage im Jahr.

📌 Der Tag, an dem alles zerbrach.

📌 Der Tag, an dem ich überlebt habe.

📌 Der Tag, an dem mein neues Leben begann.

Früher war mein Motto: Höher. Weiter. Schneller. Grenzen waren dazu da, um sie zu verschieben. Doch der 27. März hat mir eine neue Lektion erteilt: Das Wesentliche liegt in den kleinen Dingen. Grenzen verschieben bekam eine neue Bedeutung. Die Jahre als Extremsportler waren nur eine Vorbereitung für die Zeit jetzt.

📌 Das HIER und JETZT ist das Einzige, das zählt. Ich plane nicht mehr weit in die Zukunft. Ich lebe den Moment.

📌 Weniger Multitasking. Mein Gehirn kann sich nur auf eine Sache konzentrieren – doch das tue ich mit voller Aufmerksamkeit.

📌 Sport als mentale Kraft. Auch wenn mein Körper nicht mehr so mitmacht wie früher – in Gedanken laufe ich durch den Wald. Meine Muskeln trainierte ich im Kopf.

Ich musste nicht nur meinen Körper neu aufbauen, ich musste mich selbst neu programmieren. Durch meinen Freund Harry begann ich bereits im Radrennsport mit Bewusstseins-Training.

Dieses gelernte Wissen hat mir am 27.März das Leben gerettet. Es ermöglichte mir das Überleben und bis heute ein Weiterleben.

Pilgern und Weitwandern – Mein Weg zurück ins Leben, nach einem Hirnabszess

So wie meine ersten Schritte nach dem Krankenhaus langsam und unsicher waren, so begann auch mein neuer Lebensweg: Schritt für Schritt.

Ich entdeckte das Pilgern und Weitwandern für mich – nicht als sportliche Herausforderung, sondern als Therapie, auch heute noch.

🚶‍♂️ Am Anfang waren es wenige hundert Meter. Jeder Schritt ein Kampf gegen die Unsicherheit, gegen die Angst, wieder zu stürzen. Ich begann mit der Bewegung auf der Stufe eines Kleinkindes.

🚶‍♂️ Erst nur ein paar Kilometer, dann immer mehr. Ich lernte, meinem Körper wieder zu vertrauen – auch wenn er nicht mehr derselbe war. Dieses Vertrauen in mich selbst übe ich bis heute.

🚶‍♂️ Heute, nach neun Jahren, bin ich Tausende Kilometer gegangen. Einmal zu Fuß rund um die Welt – in Etappen, aber ohne aufzuhören.

"Nur durch Wiederholungen kannst du lernen und dich verbessern. Wiederholungen und Übung sind der Schlüssel."

Dieser Satz veränderte viel in mir. Ich erkannte bald, umso mehr Wiederholungen, umso besser wird die Information im Gehirn verfestigt. So habe ich seit 2016 rund 85 Millionen Schritte gemacht, trotz der verlorenen Automatik.

Deshalb auch mein Weitermachen. Mein Geist entscheidet über Pflegefall oder nicht. Die verlorene Automatik kam bisher nicht wieder.

"Du erwächst jeden Morgen mit der Gelegenheit zu wachsen, etwas zur Stärke deines Charakters beizutragen, dein Wissen zu vermehren.

Der Wille, jene Kraft, jene Energie, die uns dazu brachte, zu kriechen und dann aufzustehen und dann die ersten wackeligen Schritte zu tun, ist das, was uns die ganze Zeit aufrechterhalten hat."

Diese Wanderungen haben mich gerettet. In der Natur finde ich zu mir selbst. Das Gehen ist nicht nur Bewegung, es ist Meditation, Therapie und Herausforderung zugleich. Der Wald und die Natur sind meine Therapeuten.

Denn meine Propriozeption, das Gefühl für meinen eigenen Körper, ist bis heute eingeschränkt. Lasse ich das Training schleifen, merke ich es sofort: Der Schwindel kehrt zurück, das Körpergefühl schwindet. Ich muss gehen. Jeden Tag.

Deshalb bin ich immer wieder auf den Wegen unterwegs – ob in den heimischen Wäldern oder auf den großen Pilgerpfaden Europas. Jeder Schritt bringt mich weiter, körperlich wie mental.

Pilgern nach dem Hirnabszess
Km 0, in Finesterre

Vom Patienten zum Blogger

Der 27. März war der Tag, an dem mein Leben in tausend Teile zerbrach. Doch er war auch der Tag, an dem etwas Neues begann.

Irgendwann kam der Punkt, an dem ich meine Geschichte aufschreiben wollte. Bloggen? Hatte mich nie interessiert. Doch plötzlich wurde es zu einem wichtigen Werkzeug – eine Möglichkeit, meine Krankheit zu verarbeiten.

Mit jedem geschriebenen Wort ordnete ich meine Gedanken. Schreiben wurde Therapie.

Der Wunsch, ein Buch zu schreiben, ist bis heute in mir. Die Handicaps sind allerdings derzeit noch größer. Es wurde wichtig, in meiner Mitte zu bleiben und mich gut zu fühlen, Buch hin und her.

Schreiben und Denken beginnen, nach dem Hirnabszess
Schreiben beginnen

Heute? Ich bin noch nicht dort, wo ich sein will. Aber ich bin auch nicht mehr bei NULL. Ich habe mir ein zweites Leben aufgebaut. Nicht ein anderes – sondern ein verändertes.

Und jedes Jahr, wenn der 27. März kommt, erinnere ich mich daran, wie weit ich gekommen bin.

🚶‍♂️ Als Überlebender, vom ersten wackeligen Schritt bis zu 50.000 Kilometern zu Fuß.

📖 Vom Patienten, der kaum sprechen konnte, zum Blogger, der seine Geschichte erzählt.

💡 Vom Mann, der nicht wusste, ob er überlebt, zu jemandem, der seinen eigenen Weg (bisher) gefunden hat.

Leben nach dem Hirnabszess
LEBEN!!!

27. März – Der Tag, an dem mein Leben neu begann. Und der Tag, an dem ich mir immer wieder aufs Neue beweise: Ich gehe weiter.


„Bleib auf deinem Weg“

„Bleib auf deinem Weg“ – nach meinem Hirnabszess bekam diese Aussage eine völlig neue Bedeutung. Früher war mein Weg geprägt von Leistung und Höchstform – sei es im Extremsport, im Trailrunning oder im Beruf.

Doch nach meiner Erkrankung stand ich bei null. Alles, was selbstverständlich war, musste ich neu lernen: Gehen, Sprechen, Schreiben, Denken. Mein Weg war nun ein anderer. Allerdings musste ich ihn erst finden.

Camino Frances, mein Weg
Manchmal verschwindet mein Weg im Nebel

Der alte Weg: Leistung, Geschwindigkeit, Erfolg

Am Anfang wollte ich schnell wieder „der Alte“ sein, zurück in mein altes Leben. Doch ich musste erkennen, dass es nicht darum geht, zurückzugehen, sondern einen neuen Weg zu finden. Erst in den Jahren danach wurde es mir bewusst, dass nichts mehr so sein wird, wie zuvor.

Das Gehen wieder zu erlernen, hatte für mich oberste Priorität – es war der Schlüssel zu einem Stück Freiheit. Doch erst mit der Zeit wurde mir klar: Allein das Gehen bedeutete nicht, dass meine Einschränkungen verschwunden waren.

Küstliche Strukturen zum Trainieren
Die Tiefensensibilität trainieren

Der neue Weg: Geduld, Akzeptanz, Vertrauen

"Das Leben ist wie eine Reise, die manchmal im Licht und manchmal im Schatten unternommen wird."

Joseph M. Marshall

Geduld, Akzeptanz, Vertrauen – Werte, die meinen neuen Weg prägen. Auf meinen Weitwander- und Pilgerwegen übe ich mich darin, lerne, sie anzunehmen und besser damit umzugehen. Heilung bedeutet nicht nur, die äußeren Einschränkungen zu überwinden, sondern auch die inneren. Vielleicht ist gerade dieses Innere der entscheidende Schlüssel – damit das Äußere folgen kann.

Joseph M. Marshalls Buch „Bleib auf deinem Weg“ beschreibt genau das. Er erzählt von einem Großvater, der seinem Enkel Weisheiten über das Leben mitgibt. Eine der wichtigsten Lektionen: Es geht nicht darum, schnell ans Ziel zu kommen, sondern darum, mit Würde, Beständigkeit und in Einklang mit sich selbst zu gehen.

Mein Neuer Weg bedeutet, im Einklang mit mir selbst zu bleiben. Es bedeutet, jeden noch so kleinen Fortschritt zu sehen und nicht aufzugeben, auch wenn es Rückschläge gibt oder sie nicht sofort erkennbar sind.

Mein eigener Weg der Heilung

Der Einschnitt durch den Hirnabszess: Zurück auf null

Nach meiner Krankheit verstand ich, dass mein Weg jetzt ein anderer sein muss. Ich kann nicht mehr mit Kraft und Willen alles erzwingen. Achtsam muss ich auf meinen Körper hören, mein Tempo akzeptieren. Mein Weg ist langsamer geworden, aber bewusster. Die Zukunft ist für mich nicht planbar, deshalb ist es so wichtig, im Hier und Jetzt zu leben.

Gelassenheit und Akzeptanz sind entscheidend. Dieses "akzeptieren, wie es ist" bedeutet nicht, dass es so bleiben muss. Ich tue viel dafür, dass es anders wird. Besonders die Eigenverantwortung war und ist essenziell. Denn eines habe ich schnell verstanden: Verlasse ich mich auf unser Gesundheitssystem, bin ich verlassen.

Seit ich das Krankenhaus verlassen habe, nehme ich mein Leben selbst in die Hand. Anfangs nutzte ich die Therapien und Reha-Angebote der Krankenkasse, doch bald merkte ich, dass sie mich nur begrenzt voranbrachten. Später sagte ein Arzt zu mir, ich könne mich glücklich schätzen – denn meine Art des Hirnabszesses endet normalerweise im Pflegefall.

Mittlerweile ist mir das nur allzu bewusst. „Bleib auf deinem Weg“ – ist allerdings leichter gesagt als getan. Unser System ist darauf nicht ausgelegt. Doch außerhalb dieses Systems meinen eigenen Weg zu gehen, gibt mir eine Selbstständigkeit, die zwar anstrengend, aber umso wertvoller ist. Liegenzubleiben, wäre der einfache Weg – aber der einfache Weg wäre kein lebenswertes Leben.

Der Einschnitt durch den Hirnabszess, ein langer Weg danach.
Der Einschnitt durch den Hirnabszess, ein langer Weg danach.

Was „Bleib auf deinem Weg“ für mich bedeutet:

  • Nicht aufgeben, auch wenn es schwer ist.
  • Nicht vergleichen, sondern meinen eigenen Fortschritt sehen.
  • Dem Prozess vertrauen, auch wenn ich nicht weiß, wohin er führt.
  • Im Moment leben und das Beste aus jedem Tag machen.

Bleib auf deinem Weg – und warum das oft schwerer ist, als es klingt

"Bleib auf deinem Weg." - Vier einfache Worte, die so viel bedeuten können. Eine Ermutigung zur Beständigkeit, eine Erinnerung daran, sich nicht beirren zu lassen – und doch ist genau das oft die größte Herausforderung.

Besonders in einer Gesellschaft, die Behinderungen nur dann anerkennt, wenn sie sichtbar sind.

Wenn man kämpfen muss, um ernst genommen zu werden

Es gibt Behinderungen, die sofort ins Auge fallen. Ein Rollstuhl, eine Gehhilfe – sie sprechen für sich. Doch was ist mit denen, die man nicht auf den ersten Blick sieht?

Behinderung mit Rollstuhl wird leichter wahrgenommen
Behinderung mit Rollstuhl wird leichter wahrgenommen

Neurologische Einschränkungen, chronische Erschöpfung, sensorische Überempfindlichkeiten – sie existieren, auch wenn sie für andere unsichtbar bleiben. Und genau das macht das Leben oft schwerer.

Weil man erklären muss. Weil man sich rechtfertigen muss. Weil man immer wieder beweisen muss, dass die eigene Realität nicht bloß Einbildung ist.

Warum "Bleib auf deinem Weg" so viel Mut erfordert

Auf dem eigenen Weg zu bleiben bedeutet in diesem Kontext mehr als nur Durchhaltevermögen. Es bedeutet, sich nicht von den Zweifeln anderer aus der Bahn werfen zu lassen. Es bedeutet, für sich selbst einzustehen, auch wenn man immer wieder auf Unverständnis trifft. Es bedeutet, eigene Grenzen zu akzeptieren – selbst dann, wenn andere sie infrage stellen.

Und manchmal bedeutet es auch, sich gegen Erwartungen zu wehren. Gegen den Druck, so zu funktionieren, wie es von einem verlangt wird. Gegen das Gefühl, nicht genug zu sein, nur weil man anders ist.

Die Kraft, die im Weitermachen liegt

Trotz all dieser Hürden lohnt es sich, den eigenen Weg nicht zu verlassen. Denn nur wer ihn geht, kann herausfinden, wohin er führt. Vielleicht ist es nicht der leichte Weg, nicht der gerade und schon gar nicht der, den die Gesellschaft für einen vorgesehen hat. Aber es ist der eigene. Und das allein macht ihn wertvoll.

Der eigene Weg ist nicht immer eben und geradeaus
Der eigene Weg ist nicht immer eben und geradeaus

Mein Fazit: Schritt für Schritt mit Herz und Überzeugung

Und genau das möchte ich weitergeben: Jeder hat seinen eigenen Weg. Wichtig ist, dass wir ihn mit Herz und Überzeugung gehen – Schritt für Schritt.

Das Geheimnis des Glücks ist Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist Mut im Leben. Du musst handeln, wenn du Freiheit erleben willst.

Du musst das Leben genießen, während du Probleme löst. Du kannst entweder im Sturm weinen oder im Regen tanzen.


Wenn Bewegung mehr sagt als Worte: Mit Tanztherapie zurück ins Leben

Vor neun Jahren hat ein Hirnabszess mein Leben aus der Bahn geworfen. Ein Einschnitt, den ich mir als Radsportler, Trailrunner und Videojournalist nie hätte vorstellen können.

Doch nach diesem Umbruch fand ich eine neue Art, Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen: das therapeutische Tanzen. Seit sechs Jahren begleitet es mich – und hat sich als eine der wirkungsvollsten Methoden in meiner Rehabilitation erwiesen.

Tanztherapie
Ich habe kaum Fotos von der Tanztherapie

Vom Stillstand zur Bewegung

Nach dem Hirnabszess war nichts mehr, wie es war. Die rechte Körperseite gelähmt, Worte oft unerreichbar, Erschöpfung allgegenwärtig. Gehen, Greifen, Sprechen – alles musste ich neu lernen. Jeder kleinste Fortschritt war ein Sieg. Doch es gab einen Moment, der alles veränderte: Ich spürte, dass Bewegung der Schlüssel ist.

Sport war immer ein Teil von mir gewesen, aber an Laufen oder Radfahren war lange nicht zu denken. Also begann ich mit sanften Bewegungen, mit physiotherapeutischen Übungen, mit ersten vorsichtigen Schritten zurück in den Alltag. Später begann ich zu Pilgern und hatte gerade meinen zweiten Jakobsweg beendet, den Camino Norte.

Im Wartezimmer meines Trauma-Therapeuten war ein Aushang an der Wand, wo therapeutisches Tanzen angeboten wurde. Mein Leben lang hatte ich Tanzen abgelehnt, aber da war etwas, was mich magisch anzog. Es wurde mein Wendepunkt, nach drei Jahren herkömmlicher Therapie: nämlich die Tanztherapie.

Tanztherapie – ein unerwarteter Durchbruch

Zunächst klang es ungewohnt. Tanz als Therapie? Doch schon nach den ersten Bewegungen wurde mir klar: Es geht um mehr als Schritte. Es geht um Rhythmus, um Musik, um das Spüren des eigenen Körpers. Um Gleichgewicht und Koordination, um Beweglichkeit – und vor allem um Freude.

Anfangs war es eine enorme Herausforderung. Mein Körper fühlte sich fremd an, jede Bewegung war unsicher, jeder Takt forderte vollste Konzentration. Dazu fand es im Gruppentraining statt, das eine große Herausforderung für mich darstellte.

Auch gemalt wird in der Tanztherapie

Doch dann kam der Rhythmus. Der Körper begann sich zu erinnern und ich lernte mich im Rhythmus zu bewegen. Bewegungen wurden fließender, das Zusammenspiel zwischen Kopf und Körper harmonischer. Schritt für Schritt fand ich in die Bewegung zurück. Selbst nach sechs Jahren verlasse ich jede Stunde mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen.

Konnte ich am Anfang nicht einmal zu Boden blicken, geschweige denn hinunterbeugen, ohne schwindlig zu werden, besserte sich das langsam. Heute, nach sechs Jahren des Übens und wertvoller Erfahrungen in der Therapie, habe ich Fortschritte erzielt, die vorher undenkbar gewesen wären. Bereits nach einem halben Jahr Therapie konnte ich die Verbesserungen auf meinem ersten Winter-Camino kurz vor der Pandemie umsetzen.

Tanztherapie in der Pandemie

Warum Tanztherapie so viel bewirkt

  • Ganzheitliches Training: Tanz fordert den ganzen Körper – Muskeln, Gleichgewicht, Koordination.
  • Emotionale Verbindung: Musik berührt, weckt Erinnerungen, kann heilsam sein.
  • Spielerisches Lernen: Anders als monotone Übungen in der Physiotherapie bringt Tanz Kreativität und Freude.
  • Neuroplastizität fördern: Rhythmus und neue Bewegungsabläufe stärken und formen neuronale Verbindungen.
  • Traumabearbeitung: Trauma ist steckenbleiben, durch gezielte Bewegung Trauma bearbeiten.

Sechs Jahre Tanz – ein neues Körpergefühl

Heute, fast sechs Jahre nach meiner ersten Tanztherapie-Stunde, weiß ich: Es war nicht eine, sondern es war die beste Entscheidung auf meinem Weg der Heilung. Mein Körpergefühl hat sich verändert, meine Bewegungen sind geschmeidiger, meine Koordination stabiler. Und vor allem: Tanzen und Bewegung gibt mir ein Gefühl von Freiheit.

Was mir früher der Extremsport gab – das Spüren des eigenen Körpers, das Erleben von Bewegung – finde ich heute im Tanz wieder. Die Musik trägt mich, der Rhythmus führt mich. In diesen Momenten bin ich einfach da. Trotzdem kann mich eine Tanzstunde absolut ans Limit bringen, körperlich wie geistig.

Bewegung als Sprache des Körpers

Ein Hirnabszess verändert alles. Doch durch Bewegung, durch das bewusste Wiederentdecken des eigenen Körpers, kann man sich ein Stück Lebensqualität zurückholen – und vielleicht sogar eine neue gewinnen. Mein Pilgern und die Weitwanderwege haben mir in Kombination mit dem therapeutischen Tanzen eine Qualität in das Leben gebracht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

Es war oft nicht einfach auf meinen Reha-Aufenthalten, mit dem Denken und den Aussagen anderer, darunter auch Ärzte, klarzukommen. Sie meinten es sicherlich gut, doch alles lief darauf hinaus, als Pflegefall betrachtet zu werden. Stark zu bleiben und diesem Bild entgegenzuwirken, erforderte enorm viel Energie und Durchhaltevermögen.

Tanztherapie ist weit mehr als körperliches Training. Es ist ein Weg zu sich selbst. Denn manchmal braucht es keine Worte – manchmal reicht es, sich zu bewegen. Und das unter der sachkundigen Führung meiner Therapeutin Hanna Treu, die genau erkennt, wo es gerade hakt oder worum es geht.

Unbegreiflicher weise wird diese Tanztherapie nicht von der Krankenkasse übernommen. Dabei hat sie mich davor gerettet, ein Pflegefall zu bleiben.

Tanztherapie

Tanztherapie und Trauma

Therapeutisches Tanzen und Bewegung spielen eine zentrale Rolle in der Traumabearbeitung, da traumatische Erlebnisse oft nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich gespeichert werden. Der Körper erinnert sich an belastende Erfahrungen, selbst wenn sie nicht bewusst abrufbar sind.

Durch gezielte Bewegungen und improvisiertes Tanzen können diese gespeicherten Emotionen und Spannungen ausgedrückt und verarbeitet werden. Bewegung ermöglicht eine direkte Verbindung zwischen Körper und Psyche, indem sie hilft, erstarrte oder unterdrückte Emotionen ins Fließen zu bringen.

Tanztherapie bietet dabei einen sicheren Raum, um Körperempfindungen wahrzunehmen, neue Bewegungsmuster zu erproben und so innere Blockaden zu lösen. Dies kann das Selbstbewusstsein stärken, das Nervensystem regulieren und dabei helfen, traumatische Erlebnisse schrittweise zu integrieren.

Kurz gesagt: Durch Tanz und Bewegung kann das, was im Trauma erstarrt oder abgespalten wurde, wieder in einen lebendigen Ausdruck gebracht werden – ein wesentlicher Schritt in der Heilung.

Leichtigkeit im Freien in der Tanztherapie lernen

Zurück ins Leben - rein ins Leben

Mein „Zurück ins Leben“ ist mehr und mehr einem kraftvollen „rein ins Leben“ gewichen – ein Wandel, zu dem die Tanztherapie in den letzten Jahren wohl am meisten beigetragen hat. Gerade während der Pandemie, als alle anderen Therapieformen wegfielen, war das therapeutische Tanzen für mich eine wertvolle Stütze.

So ist sie ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, neben dem Pilgern und Weitwandern.


9 Jahre oder 3.240 Tage – Die Suche nach Identität seit dem Hirnabszess

Neun Jahre sind vergangen – 3.240 Tage, um genau zu sein. Eine Zeit voller Herausforderungen, voller Wandel. Seit meiner Diagnose Hirnabszess hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich musste mich neu finden, meine Identität immer wieder hinterfragen.

Der Walkabout durch Austria war ein erster Schritt auf diesem Weg, ein Erfolg, der mich näher zu mir selbst brachte. Ausgestattet mit Werkzeugen der Tanztherapie, gaben mir immer mehr Leichtigkeit im Leben. Doch auch heute noch frage ich mich oft: Wer bin ich eigentlich?

Identität durch Leichtigkeit finden
Identität am Walkabout finden

Mein Gehirn funktioniert nicht mehr wie früher. Der Hirnabszess und die anschließende, fünfmonatige Antibiotikatherapie im Krankenhaus haben mehr hinterlassen, als ich anfangs dachte. Bis heute setze ich nur einzelne Bruchstücke zusammen – doch ein vollständiges Bild ergibt sich daraus noch lange nicht.

"I had to trust more and to do less."

Was ist Identität überhaupt?

Identität ist nichts Starres, sie verändert sich mit Erfahrungen, Beziehungen, Werten und Überzeugungen. Ein Puzzle, das sich mit jedem neuen Erlebnis weiterentwickelt. Doch nach meiner Erkrankung fühlt es sich oft an, als würden einige Teile fehlen – oder als würden sie nicht mehr dorthin passen, wo sie einmal waren.

Mit der Zeit kam die Erkenntnis: Ich bin irgendwie nicht mehr dieselbe Person wie vor dem Hirnabszess. Körperliche Einschränkungen, emotionale Höhen und Tiefen, soziale und kognitive Veränderungen – all das fordert mich Jahr für Jahr aufs Neue heraus. Ich muss ein neues Selbstbild entwickeln, ein neues Ich zulassen.

Identität

Warum ist die Identitätssuche nach einer Krankheit so schwierig?

Eine schwere Erkrankung stellt viele Aspekte der eigenen Identität infrage:

Körperliche Veränderungen: Mein Körper, einst ein verlässliches Werkzeug, wurde zur Quelle von Unsicherheit. Muskelschwäche und Schwindel ließen mein Vertrauen in mich bröckeln. Doch mit jedem Schritt auf meinen Pilger- und Weitwanderwegen kämpfe ich es mir zurück.

Dieses Jahr auf dem Hexatrek in den französischen Alpen – die Herausforderung technischer Passagen, das Überwinden von Hindernissen, das Wachsen mit jeder Hürde. Und doch, zurück zu Hause, muss ich mich zwingen in der Mitte einer Treppe hinunterzugehen, statt am Rand, entlang des Geländers. Diese Widersprüche führen mir vor Augen: Meine Behinderung ist und bleibt ein Teil meines Lebens.

Emotionale Achterbahn: Nach der Krankheit gab es nur Extreme – null oder hundert Prozent Emotionen. Das zu verstehen, dauerte lange. Es zu kontrollieren, beschäftigt mich bis heute. Viele Emotionen sind tief verwurzelt, Muster aus der Kindheit, die sich immer wieder zeigen. Sie zu erkennen und umzuwandeln, ist ein Prozess, der nur in kleinen Schritten gelingt.

Soziale Veränderungen: Beziehungen veränderten sich, Rollen mussten neu definiert werden. Nicht jeder konnte mit dem umgehen, was meine Krankheit mit sich brachte – ich selbst am wenigsten. Tiefgreifende Krisen stellen Beziehungen auf die Probe. Sie erfordern ein Umdenken, nicht nur von mir, sondern auch von meinem Umfeld.

Kognitive Beeinträchtigungen: Denken, Erinnern, die Verbindung zwischen Erlebnissen und Gedanken – oft fühlt sich das brüchig an. Die Welt um mich herum wirkt hektisch und überwältigend. Struktur fällt mir schwer, Konzentration ebenso. Seit acht Jahren lerne ich täglich, besser damit klarzukommen. Doch es bleibt ein Kampf.

Die Natur als Inspirationsquelle

In all den Jahren habe ich eines gelernt: Die Natur heilt. Das Gehen, die Stille, die Verbindung zur Umgebung – es ist, als würde ich Schritt für Schritt eine Brücke zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Ich bauen. Ob auf den Caminos in Spanien, auf Weitwanderwegen in Europa oder auf Wegen in meiner Heimat – die Natur hilft mir, mich selbst zu spüren, neue Puzzleteile zu finden und langsam ein Bild entstehen zu lassen.

Identität in der Natur finden
Identität in der Natur finden

Therapeutisches Schreiben – Worte als Anker

Eine weitere Säule meiner Identitätsfindung ist das Schreiben. Gedanken ordnen, reflektieren, neue Perspektiven gewinnen. Noch bevor ich mich an ein Buch wagen kann, ist das therapeutische Schreiben mein Werkzeug, um Klarheit zu schaffen. Doch, mit meinen kognitiven Einschränkungen ist es ein langsamer Prozess – allein an diesem Blogartikel habe ich Wochen gearbeitet.

Bin ich nach 9 Jahren komplett?

Trotz aller Fortschritte bleibt oft das Gefühl: Da fehlt noch etwas. Vielleicht wird die Suche nie abgeschlossen sein – und vielleicht ist genau das in Ordnung. Identität ist kein Ziel, sondern eine Reise. Mit jedem Schritt, jedem Wort, jeder neuen Erfahrung setze ich das Puzzle ein wenig weiter zusammen.

Identität

3.240 Tage und immer noch ich

Nach all diesen Jahren kann ich eines sagen: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf eine Reise geschickt, auf der ich mich selbst neu entdecken darf.

Und ich bin gespannt auf die nächsten Schritte, die nächsten Herausforderungen. Denn auch wenn nicht alle Puzzleteile an ihrem Platz sind – ich bin auf dem Weg. Und das zählt.

Fünf Dinge, die mir auf diesem Weg helfen:

  • Geduld haben: Identitätsfindung braucht Zeit.
  • Selbstmitgefühl üben: Freundlich zu mir selbst sein.
  • Kleine Schritte setzen: Realistische Ziele wählen, kleine Erfolge feiern.
  • Unterstützung annehmen: Keine Scheu haben, Hilfe zu suchen.
  • Flexibel bleiben: Offen für Veränderung bleiben.

Auch die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen spielt eine Rolle auf diesem Weg – etwas, das ich besonders beim Gehen erfahre.

Was ich bisher gelernt habe...

  1. Resilienz und Anpassungsfähigkeit Ich habe gelernt, dass ich mich neuen Lebensumständen anpassen und Herausforderungen meistern kann. Krankheit und Rehabilitation haben mich gelehrt, flexibel zu bleiben und meine Ziele immer wieder anzupassen.
  2. Wertschätzung von Achtsamkeit Achtsamkeit hat einen festen Platz in meinem Alltag gefunden. Ich habe gelernt, im Moment zu leben, die kleinen Dinge bewusst wahrzunehmen und ihnen Bedeutung zu schenken.
  3. Die Bedeutung von Bewegung Bewegung ist für mich mehr als nur körperliche Aktivität – sie ist Heilung, mentale Stärkung und Motivation. Sport hilft mir, meinen Körper wieder kennenzulernen und mir Stück für Stück Vertrauen zurückzuerobern.
  4. Soziale Verbundenheit Die Begegnungen auf dem Jakobsweg haben mir gezeigt, wie wertvoll zwischenmenschliche Beziehungen sind. Sie haben meinen Blick auf andere Menschen verändert und mir bewusst gemacht, wie wichtig soziale Unterstützung ist. Rückblickend waren es oft genau diese Begegnungen, die mich am meisten bereichert haben und mich noch immer bereichern.
  5. Zielorientierung trotz Widrigkeiten Trotz gesundheitlicher Rückschläge bin ich meinen Weg weitergegangen. Ich habe gelernt, mir erreichbare Ziele zu setzen und konsequent an meiner Gesundheit zu arbeiten – so weit es mir möglich ist.
  6. Offenheit für persönliche Entwicklung Ich bin bereit für Veränderungen und sehe meine Erfahrungen als Chance für persönliches Wachstum. Doch ich habe auch erkannt, dass dieser Prozess Zeit braucht – und dass es in Ordnung ist, wenn nicht alles sofort gelingt.

...und was mir hilft bei der Suche nach Identität?

Professionelle Unterstützung: Ein Therapeut kann helfen, die Krankheit zu verarbeiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Für mich ist das therapeutische Tanzen die wertvollste Unterstützung.

Tagebuch schreiben: Gedanken und Gefühle aufzuschreiben hilft mir, mich selbst besser zu verstehen.

Achtsamkeit: Achtsamkeitsübungen lassen mich im Hier und Jetzt ankommen und mich bewusster wahrnehmen.

Neue Aktivitäten: Durch das Ausprobieren neuer Dinge entdecke ich immer wieder neue Seiten an mir selbst.

Zielsetzung: Kleine, realistische Ziele geben mir das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit.

Spirituelle Aspekte: Die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Identitätsfindung. Besonders beim Gehen finde ich Antworten.

Kreativität: Kunst, Musik oder Schreiben helfen mir, meine Gefühle auszudrücken und neue Perspektiven zu gewinnen.

Natur: Sie ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und des Trostes. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg. Was für den einen funktioniert, muss nicht für den anderen passen. Das Wichtigste ist, diesen Weg zu finden – und sich dabei Unterstützung zu holen, wenn es nötig ist.

Schlusswort: Die Reise geht weiter

Nach neun Jahren, nach 3.240 Tagen, bleibt eines sicher: Ich bin immer noch ich. Nicht mehr derselbe wie vor dem Hirnabszess, aber auch nicht jemand völlig Neues. Die Krankheit hat mich auf einen Weg geschickt, der kein klares Ziel hat – doch vielleicht ist genau das der Punkt.

Identität ist kein fertiges Bild, sondern ein Puzzle, das sich ständig verändert. Manche Teile passen sofort, andere brauchen Zeit, um ihren Platz zu finden. Manche gehen verloren, neue kommen hinzu. Und mit jedem Schritt, jeder Begegnung, jeder Herausforderung entsteht ein vollständigeres Ich.

Ich weiß nicht, was die nächsten Jahre bringen, welche Puzzleteile sich noch fügen werden. Aber ich bin bereit, weiterzugehen – mit Neugier, mit Mut und mit der Gewissheit, dass der Weg selbst die Antwort sein könnte.

Denn auch wenn nicht alles vollständig ist, zählt vor allem eines: Ich bin auf dem Weg.


Alltag als größtes Abenteuer: Pilgern, Wandern und die Kunst des Lebens

Pilgern und Weitwandern – ich liebe es, mich auf lange Wege zu begeben, mich von der Natur umarmen zu lassen und den Rhythmus des Gehens zu spüren. Dort lerne ich seit meinem Hirnabszess die Kunst des Lebens, die ich im Alltag brauche.

Diese Reisen haben mir so viel gegeben: Klarheit, Freiheit und die Möglichkeit, tief in mich hineinzuhören. Doch je mehr ich pilgere, desto mehr wurde mir eines bewusst: Die größte Herausforderung meines Lebens liegt nicht auf den Wegen da draußen, sondern in meinem Alltag zu Hause. Für die "Kunst des Lebens" bildet das Pilgern und Weitwandern die Grundlage dafür.

Alltag Weitwandern
Alltag am Hexatrek

Alltag – der unwegsame Weg

Wenn ich mich auf einen Weitwanderweg begebe, habe ich ein Ziel vor Augen. Es gibt Etappen, eine Route, eine Struktur. Doch zurück im Alltag scheint vieles weniger klar. Kein ausgeschilderter Weg, keine festgelegten Kilometer, die ich gehen muss.

Der Alltag fühlt sich manchmal an wie ein Labyrinth ohne Karte. Hier finde ich die wahre Herausforderung: In den täglichen Anforderungen zu Hause ist es nur allzu leicht, die Verbindung zu mir selbst zu verlieren.

Vom Pilgern lernen

Das Pilgern hat mir Werkzeuge in die Hand gegeben, die mir helfen, auch den Alltag zu meistern. Auf den Wegen habe ich alles gelernt, was ich fürs Leben brauche. Es geht nicht darum, große Strecken zurückzulegen, sondern Schritt für Schritt voranzukommen, egal wie weit ich gehen möchte. Diese Haltung versuche ich in meinen Alltag mitzunehmen. Jeder Augenblick zählt, und jede kleine Aufgabe ist ein Schritt.

Doch der Alltag verlangt mehr von mir. Er fordert Geduld, Selbstdisziplin und die Fähigkeit, mich immer wieder selbst zu motivieren, auch wenn die Aufgaben manchmal weniger inspirierend erscheinen als die Aussicht auf einen Gipfel oder die Schönheit der Natur. Auch zu Hause ist es allerdings wichtig, mit Freude jeder Tätigkeit nachzugehen.

Das Leben neu lernen - die Kunst des Lebens lernen

Nach meinem Hirnabszess vor neun Jahren habe ich nicht nur das Gehen wieder erlernen müssen – ich bin noch immer dabei, das Leben selbst neu zu lernen. Und genau das ist es, was den Alltag so herausfordernd macht: Er ist nicht selbstverständlich. Jede noch so kleine Aufgabe, sei es ein Gespräch, das Planen eines Tages oder das Bewältigen von scheinbar banalen Dingen, kann für mich ein Abenteuer sein.

Der Thalamus Abszess hat mir alle Filter im Gehirn genommen. Diese Hochsensibilität ist nur schwer zu händeln und zu verbessern, dass habe ich nach 9 Jahren einsehen müssen. Es ist nicht getan daran, mich einfach nur Schritt für Schritt daran wieder zu gewöhnen.

Und genau das macht es auch lohnend. Denn jeder gemeisterte Tag ist ein Erfolg. Jeder Moment, den ich bewusst erlebe, ist ein Schritt hin zu mehr Erfüllung. Mein Gehirn lässt vieles nicht zu, was ich gerne machen würde. Zu leicht verliere ich dann die Verbindung zu mir selbst, weil ich zu viel von dem möchte, was nicht funktioniert. Ich freue mich im Gegenzug über alles, was geht.

Waldbaden beruhigt das Gehirn
Waldbaden beruhigt das Gehirn

Die Balance finden

Pilgern und Alltag – sie könnten unterschiedlicher kaum sein, und doch gehören sie zusammen. Auf den Wegen tanke ich auf, finde Kraft und Inspiration. Zu Hause wird diese Kraft auf die Probe gestellt. Es ist ein ständiges Wechselspiel, ein Tanz zwischen der Ruhe der Wege und der Unruhe des Alltags.

Für mich liegt die Kunst darin, beide miteinander zu verbinden: Die Gelassenheit, die ich auf meinen Wanderungen finde, in den Alltag mitzunehmen. Und die Stärke, die ich im Alltag gewinne, auf den Wegen einzusetzen.

Balance im Alltag
Balance im Alltag

Ein Abenteuer ohne Ende

Vielleicht ist der Alltag tatsächlich mein größtes Abenteuer. Er ist unberechenbar, fordert mich jeden Tag aufs Neue heraus und gibt mir immer wieder die Möglichkeit über mich hinauszuwachsen. Anders als wie auf einem Weitwanderweg gibt es keine klare Karte, keinen fertigen Plan, dem ich folgen kann. Der Alltag verlangt, dass ich flexibel bin, dass ich im Moment lebe und mich den Gegebenheiten anpasse. Das habe ich auf den Weitwanderwegen Europas und beim Pilgern gelernt.

Und vielleicht liegt genau darin der Reiz: die Kunst, das Besondere im scheinbar Gewöhnlichen zu entdecken. Es sind keine spektakulären Gipfel oder weiten Ausblicke, die mir im Alltag begegnen – es sind die kleinen, unscheinbaren Momente, die oft viel tiefer wirken, ich muss es nur zulassen. Ein Lächeln, ein Gespräch, ein Augenblick der Ruhe zwischen den Aufgaben – all das sind kleine Perlen, die der Alltag bereithält, wenn ich bereit bin, sie zu sehen, was nicht immer gelingt.

Es erfordert ein anderes Maß an Achtsamkeit, diese Momente wahrzunehmen. Wo der Weitwanderweg mich mit seiner Schönheit fast überwältigt, muss ich im Alltag genauer hinschauen, feiner spüren.

Aber gerade das macht es zu einem so besonderen Abenteuer. Es ist eine Übung darin, jeden Tag aufs Neue Sinn zu finden, in dem, was ich tue. Die Schönheit in den einfachsten Dingen zu entdecken – in der Tasse Kaffee am Morgen, in der Struktur des Tages oder in der Zufriedenheit, eine Aufgabe bewältigt zu haben. Oft macht es aber auch Sinn, den ganzen Tag einfach dazuliegen. Das darf ich mir zugestehen.

Für die nächsten Monate steht Therapie an

Seit Wochen therapiere ich mich zu Hause, mit all den Dingen, die mir zur Verfügung stehen. Nach einer Zeit das Leben zu finden, steht wieder einmal die Therapie im Vordergrund. Magnetfeldtherapie, Dehnen und Kraftübungen, auf die Ernährung schauen, mit Unterstützung von Nahrungsergänzungen, Tanztherapie und manch so anderem, ist es oft nicht leicht für mein Gehirn, alles im Überblick zu behalten und in allem, was ich mache, Sinn zu finden.

Vielleicht ist es aber genau das, was den Alltag zu einem Abenteuer macht: Er ist wie eine verborgene Schatzkarte, die ich erst entziffern muss. Und wenn ich das tue, erkenne ich, dass die wahre Magie nicht immer in der Ferne liegt, sondern genau hier – in den kleinen Augenblicken meines täglichen Lebens.

Die Diskrepanz zwischen dem Weitwandern oder Pilgern und der notwendigen Therapie ist für mich manchmal wie der Unterschied zwischen Freiheit und Disziplin – zwei scheinbar gegensätzlicher Pole, die doch beide Teil meines Lebens sind.

Beim Weitwandern oder Pilgern erlebe ich eine Leichtigkeit, die mich tief erfüllt. Ich bin in Bewegung, draußen in der Natur, frei von den Zwängen des Alltags. Der Weg gibt mir Struktur, aber auch Raum für Selbstbestimmung. Jeder Schritt ist ein Stück Selbstentfaltung, eine Verbindung zu mir selbst und zur Welt um mich herum. Es ist eine Form des Seins, die von Klarheit und Einfachheit geprägt ist.

Die notwendige Therapie hingegen hat eine ganz andere Dynamik. Sie ist oft von Routine bestimmt und erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Hier geht es nicht um Weite, sondern um Detailarbeit – darum, gezielt an mir zu arbeiten, an meinen Fähigkeiten, an meiner Stärke. Während ich auf dem Pilgerweg vor allem nach innen horchen kann, fordert die Therapie meine aktive Mitgestaltung: Ich muss bewusst üben, reflektieren und Schritt für Schritt an meinen Fortschritten arbeiten.

Weitwandern und Alltag

Gegensätze

Diese beiden Welten fühlen sich manchmal wie Gegensätze an. Das Pilgern ist befreiend, fast mühelos, obwohl es körperlich anstrengend sein kann. Die Therapie hingegen kann ermüdend sein, gerade weil sie so zielgerichtet und präzise ist. Auf dem Weg verliere ich mich in der Weite, in der Therapie fokussiere ich mich auf die kleinsten Fortschritte.

Doch genau in dieser Diskrepanz liegt auch eine Verbindung. Beide Welten haben mir gezeigt, dass Fortschritt nur durch Bewegung möglich ist – sei es die physische Bewegung auf einem Wanderweg oder die innere Bewegung, die durch Therapie entsteht.

Bewusstsein im Alltag

Auch wenn die Therapie oft herausfordernder ist als das Weitwandern, weiß ich, dass sie mir die Grundlage gibt, um überhaupt pilgern und wandern zu können. Sie ist das Fundament, das mich auf meinen Wegen trägt. Und umgekehrt gibt mir das Pilgern die Kraft, die Therapie anzunehmen und weiterzumachen, auch wenn die Fortschritte manchmal nur langsam sichtbar werden.

Am Ende ergänzen sich diese beiden Welten – so unterschiedlich sie auch scheinen. Beide fordern Geduld, Hingabe und die Bereitschaft, jeden Tag aufs Neue einen Schritt zu gehen. Und beide zeigen mir auf ihre Weise, was es bedeutet, das Leben als eine Reise zu begreifen – mit all seinen Höhen, Tiefen und der Freude, Schritt für Schritt weiterzukommen.


Weitwandern, Pilgern und ein Hirnabszess: Meine Reise zurück ins Leben – 9 Jahre danach

Vor neun Jahren änderte sich mein Leben schlagartig. Ein Hirnabszess, eine Krankheit, die ich mir nie hätte vorstellen können, zog mir den Boden unter den Füßen weg, von einem Tag auf den anderen. Doch was wie das Ende wirkte, war in Wirklichkeit der Beginn einer Reise – einer Reise, die mich durch tiefe Täler, über weite Wanderwege und zu mir selbst führte.

Heute, 9 Jahre später, möchte ich eine Zusammenfassung meiner Geschichte mit euch teilen. Nicht, um Mitleid zu erregen, sondern um zu zeigen, wie man selbst in der Dunkelheit Licht finden kann. Und wie das Weitwandern und Pilgern mich gerettet hat.

Pilgern nach dem Hirnabszess
In Santiago de Compostela

Von der Diagnose zum Umdenken: Der Hirnabszess und seine Folgen

Ein Hirnabszess – das klingt wie ein medizinischer Albtraum, und das war es auch. Die Schmerzen, die Unsicherheit, die Operation. Mein Körper und mein Geist wurden auf eine Art geprüft, die ich nie für möglich gehalten hätte. Nach Monaten im Krankenhaus und einer langen Reha fühlte ich mich verloren, ich wusste nicht, wer oder was ich bin.

Hirnabszess MRT

Überlebt zu haben war das Eine, aber den Sinn darin zu finden, überlebt zu haben, den musste ich erst finden. Die Erfahrung hat meine Augen geöffnet. Ich habe gelernt, dass ein Leben mit Behinderung nicht nur von Einschränkungen geprägt ist, sondern auch von großer Stärke und Lebensfreude.

Eines Tages begann ich, mich zu fragen: Was, wenn dieser Kampf nicht das Ende ist, sondern ein neuer Anfang?

Das Weitwandern: Schritt für Schritt zurück ins Leben

Ich begann klein, so klein wie es kaum jemand glauben kann: Nach drei Monaten im Krankenhaus konnte ich erstmals die etwa zehn Schritte zur Tür meines Krankenzimmers zurücklegen, wo ich ohnmächtig zusammengebrochen bin. Am Boden kriechend gelangte ich im Anschluss daran zurück zum Bett, an dem ich mich hochzog und mich hineinplumpsen ließ.

Viele Monate später, eigentlich über ein Jahr später, wurde es ein Spaziergang hier, eine kurze Wanderung dort. Bald wurde das Gehen zu mehr als nur die Bewegung zu lernen – es wurde meine Therapie – Gehen als Therapie. Mit jedem Schritt eroberte ich mir, Stück für Stück, meine Selbstständigkeit zurück, allerdings eine andere wie früher.

Dann kam der Moment, der alles veränderte: Ich las von Menschen, die auf Weitwanderungen ihre Leben transformiert hatten. Der Pacific Crest Trail, der Jakobsweg – das schien wie eine Welt, die mir nie mehr zugänglich war. Doch etwas in mir flüsterte: Warum nicht du?


Pilgern: Die spirituelle Dimension meiner Heilung

Zweieinhalb Jahre nach meiner Diagnose stand ich am Start des Jakobswegs. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, aber ich wusste, dass ich es versuchen musste.

Die ersten Tage und Wochen waren hart. Mein Körper war nicht so stark wie früher, und die Narben, physisch und mental, schmerzten. Doch dann passierte etwas Magisches: Die Begegnungen mit anderen Pilgern, die Stille der Landschaft, das Gefühl, nur mit einem Rucksack und meinen Gedanken unterwegs zu sein – all das begann mich auf eine Weise zu heilen, die ich nicht erklären kann.

Mein erster Camino Frances, zweieinhalb Jahre nach dem Hirnabszess

Ich lernte, loszulassen. Alte Ängste, alte Vorstellungen davon, wer ich war oder sein sollte. Der Weg zeigte mir, dass es in Ordnung ist, unvollkommen zu sein – solange ich weitergehe. Seit 2016 bin ich rund 50.000 Kilometer zu Fuß gegangen, darunter zahlreiche Pilger- und Weitwanderwege. Die Automatik habe ich weiterhin verloren, aber damit das Leben von einer anderen Seite kennengelernt.

Die Rehabilitation nach meinem Hirnabszess war und ist ein langer Weg, den ich Schritt für Schritt, Wanderung für Wanderung, mehr oder weniger gemeistert habe. Ob auf dem Camino Frances, den ich achtmal besuchte, beim JOGLE in England, dem Walkabout durch Österreich oder dem Hexatrek in Frankreich – jede Tour war ein Meilenstein meiner Genesung. Jeder Weg bot mir die Möglichkeit, Körper und Geist auf eine neue Art herauszufordern und zu stärken.

John oGroats - Lands End, Jogle
2.000 km zu Fuß, 7 Jahre nach dem Hirnabszess
Am JOGLE in England

9 Jahre später: Was bleibt?

Heute, 9 Jahre nach dem Hirnabszess, bin ich nicht mehr dieselbe Person wie damals – und eigentlich doch noch. Ich bin allerdings stärker, freier und dankbarer. Das Weitwandern und Pilgern haben mir gezeigt, dass das Leben kein Sprint ist, sondern ein langer und schöner Weg sein kann. Überlebt zu haben, ergibt Sinn!

Natürlich gibt es Rückschläge. Narben, die schmerzen. Momente der Zweifel. Aber dann erinnere ich mich an die Lektion, die mir der Jakobsweg lehrte: Der Weg ist das Ziel. Und auf diesem Weg lerne ich zu mir selbst zu kommen.

Physiotherapie nach dem Hirnabszess

Meine Botschaft an dich

Wenn du selbst vor einer Herausforderung stehst, die unüberwindbar erscheint, möchte ich dir sagen: Es gibt einen Weg. Vielleicht beginnt er mit einem kleinen Schritt vor die Tür, vielleicht mit einer großen Entscheidung. Aber er beginnt – wenn du bereit bist.

Die Entscheidung, nach dem Hirnabszess niemals aufzugeben!
Entscheidung für "Never give up"

Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder träumst du davon, eines Tages deinen eigenen Weg zu gehen, sei es auf einem Pilgerpfad oder im Alltag? Das Geheimnis ist es ANZUFANGEN, egal wo du stehst!

Früher habe ich oft gedacht: 'Ich kann nicht, weil…'. Heute weiß ich, dass das nur eine Ausrede war. Der Hirnabszess hat mir gezeigt, dass ich stärker bin, als ich dachte. Und dir? Dir kann auch nichts im Weg stehen, glaub an DICH!

ANFANGEN und NEVER GIVE UP!!!

Lass uns gemeinsam die Welt ein Stückchen heller machen!


Rückschau auf meinen 10en Camino, 9 Jahre nach dem Hirnabszess!

Ja, ich war wieder unterwegs. Nach meinem zehnten Camino und inzwischen neun Jahren Rehabilitation nach meinem Hirnabszess ist es an der Zeit, Rückschau zu halten und ein (Zwischen-) Resümee zu ziehen.

Diesmal begleitete mich kein Social Media, und auch das Telefon kam nur selten zum Einsatz. Dieser Weg war ganz für mich allein – ein Moment, um nachzudenken und Bilanz zu ziehen, um zu erkennen, wo ich heute stehe.

Camino Frances

Der Weg zurück ins Leben, eine Rückschau

Vor neun Jahren stand mein Leben still. Der Hirnabszess kam unerwartet und zog mir den Boden unter den Füßen weg. Monatelang fast nur liegend im Krankenhaus, eine Operation und eine langwierige Rehabilitation prägten mein Leben seither.

Die einfachsten Dinge – sprechen, gehen, denken – waren plötzlich eine Herausforderung und wollten neu gelernt werden. Es dauerte Monate, bis ich wieder ein Messer beim Essen verwenden konnte. Noch heute ist es mir unangenehm mit mehreren Menschen am Tisch zu essen, denn ich brauche die volle Konzentration für die Beherrschung des Besteck.

Der Gedanke an den Camino, gab mir Hoffnung. Nur drei Monate vor der Krankheit, wollte ich eine Dokumentation darüber drehen. Der Camino war so stark in mir und wurde danach zu einem Ziel: Einem Symbol für Stärke, Heilung und Leben.

Nach meinem Hirnabszess zum Camino

Wie geht es mir, neun Jahre nach dem Hirnabszess

Das ist eine schwierige Frage, denn es ist eigentlich leichter zu beschreiben, was noch nicht geht, als was funktioniert. Heilung bedeutet nicht, dass alles wie vorher sein muss. Die Definition laut Wikipedia lautet:

"Heilung ist der Prozess der Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Integrität."

Für Außenstehende mag mein Zustand gar nicht so schlecht aussehen, was im Vergleich zur Krankheit auch tatsächlich stimmt. Dennoch gibt es noch so vieles, das nicht funktioniert. All das in Worte zu fassen, fällt mir nach wie vor schwer und ist auch nicht sichtbar.

Immerhin kann ich gehen – und das ist mittlerweile mein zehnter Camino in sieben Jahren. Aber was dieses „Gehen können“ wirklich bedeutet, ist für viele kaum nachzuvollziehen und oft auch widersprüchlich zu dem, was man sieht. Ich habe viel erreicht, aber das Verhältnis zur Zeitdauer, die ich dafür gebraucht habe, lässt sich nicht mit vor dem Hirnabszess vergleichen.

Einfachste Dinge können sich unglaublich schwer anfühlen, weil mein Gehirn mit so vielen anderen Prozessen überfordert ist. Würde ich den ganzen Tag nur im Bett liegen, ohne mich zu bewegen, könnte mein Gehirn – besser gesagt, mein Denken – wahrscheinlich besser funktionieren. Aber mein Gesundheitszustand wäre dann ein völlig anderer.

Deshalb bleibe ich in Bewegung, so lange ich kann, auch wenn das bedeutet, dass mein Denken oft eingeschränkt ist. Ich möchte es nicht riskieren, es auszuprobieren, denn selbstbestimmt und auf eigenen Beinen aufs Klo zu gelangen, steht über allem. Es bekommt erst eine Wichtigkeit, wenn man es nicht mehr kann.

Außerdem ist mein Kurzzeitgedächtnis verloren, und auch nach all den Jahren Training hat sich das kaum verbessert. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Wie andere damit und mit mir umgehen, kann ich nicht beeinflussen, und ich kann es auch nicht jedem erklären.

Bewegungen müssen nach wie vor sehr bewusst ausgeführt werden. Mein Gehirn ist so damit beschäftigt, dass für anderes nur wenig Platz bleibt. Single Tasking statt Multi Tasking. Mein Buch zu schreiben ist ein gutes Beispiel. Ich schreibe oft, komme aber nur langsam voran, weil mir der Überblick fehlt. Mein Gehirn ist kaum in der Lage, zusammenhängend zu denken.

Das macht alles nicht leichter, besonders wenn es um frühere Erlebnisse geht. Deshalb gehe ich am liebsten und lebe im Hier und Jetzt. Es fühlt sich oft noch an wie im Krankenhaus, als ich nur auf direkte Fragen an mich antworten konnte. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle.

Spruch am Camino
WAKE UP, YOURE ALIVE

Die Vorbereitung auf den Camino

Die Vorbereitung auf diesen 10. Camino war nicht viel anders als bei den vorherigen. Die Entscheidung dazu viel erst kurz davor. Da ich im Sommer am HexaTrek in Frankreich unterwegs war, wollte ich meine dort neu gewonnene Stärke überprüfen.

Ich konnte damals zwar nichts an der Muskelschwäche ändern, aber ein großer Erfolg war es, dass mir danach der Puls bei Anstiegen und Stufen steigen nicht mehr so hoch schnellte. Das wollte ich unter anderem am Camino überprüfen, da ich die Wege und mein Befinden dort kenne.

In den letzten Jahren hatte ich zu lernen, dass mein Körper nicht mehr derselbe ist. Er funktioniert so anders und ich kann oft nie vorher sagen, wie genau er sich verhalten wird. Deshalb lerne ich noch immer täglich dazu, um ihn verstehen zu lernen.

Dieser Camino sollte nicht nur ein Jubiläum sein, sondern auch eine Überprüfung, wo ich stehe.Ich wollte diesmal nur für mich selbst gehen, deswegen verzichtete ich auf eine Begleitung durch Social Media und konnte mich so zu 100% auf mich einlassen, um zu sehen, wie es mir ergeht. Durch das weglassen von Social Media hatte ich täglich mehr Zeit für mich und wurde nicht abgelenkt.

Trotzdem war auch ein wehmütiges Auge dabei, denn immerhin begleitet mich der Blog, Facebook und Instagram seit 2017, wo ich über meine Rehabilitation berichte und was ich bisher machte, um wieder ins Leben zu gelangen. Das hantieren mit dem Handy diente außerdem meiner Feinmotorik, ob beim Bearbeiten von Fotos oder dem kreieren von Beiträgen. Das fiel alles diesmal weg.

Facebook

Der Weg: Herausforderung Camino

Die ersten Schritte auf dem Camino fühlten sich an wie eine Rückkehr nach Hause. Egal ob auf Weitwanderwegen oder Caminos, der Aufenthalt in der Natur tut meinem Körper, wie auch dem Geist unglaublich gut. Kann ich gehen, fühle ich mich wohl. Draußen auf dem Weg fühle ich mich lebendig. 

Es hat etwas Magisches, sich der Natur auszusetzen. In der Energie der Natur zählt in dieser Zeit nichts anderes. Keine Fristen, kein Drama, nur ich und die Natur. Deshalb verweile ich auch nicht lange in Städten und Dörfern, am liebsten bin ich am Trail unterwegs.

Doch die Schritte waren auch schwer. Mein Körper erinnerte mich an seine Grenzen, vor allem an steilen Anstiege, wenn es finster war oder auf langen Tagesetappen. Doch mit jedem Schritt ist immer mehr Leichtigkeit zurück gekommen. Gerade das therapeutische Tanzen hilft mir sehr dabei und viele Übungen von meiner Therapeutin Hanna Treu bilden einen wesentlichen Grundstein für mein jetziges Leben.

Unterwegs auf dem Camino: Mein Weg über den Camino France und Invierno

Meine Pilgerreise führte mich von Saint Jean Pied del Port, 570 km auf dem Camino Francés bis nach Ponferrada. Dort entschied ich mich, erstmals den Camino Invernio zu nehmen, den sogenannten Winterweg nach Santiago de Compostela.

Camino Frances und Invernio
Camino Frances und Invernio

Die Begegnungen mit anderen Pilgern waren diesmal seltener – besonders auf dem weniger frequentierten Camino Invierno. Doch genau diese Stille eröffnete mir Raum für tiefere Reflexionen und ein tiefes Eintauchen in mir selbst.

Wenn ich mit einigen der wenigen Pilger ins Gespräch kam, teilte ich meine Geschichte offen. Nicht aus Selbstmitleid, sondern um zu zeigen, dass Heilung möglich ist und was Heilung überhaupt bedeutet. Die Reaktionen, die eigenen Geschichten der anderen und die Verbindungen, die dabei entstanden, waren für mich ein weiterer Schritt auf meinem Heilungsweg.

Bilderstrecke bin Bugos

Die Zeit bis Burgos verbrachte ich größtenteils mit Dan aus Seattle. Kontakte knüpfen und Kommunikation standen im Vordergrund.

Die Meseta, Zeit zum Reflektieren

Ab der Meseta war ich wieder alleine. Gehen, gehen, gehen - im Gehen kann ich meine Gedanken ordnen oder aber auch nichts denken. Das Gehirn leer werden lassen. Einen Teil Denken brauche ich trotzdem noch für das Gehen. Alles andere loszulassen, Gedanken sein lassen zu können, tut gut.

Vielleicht ist es gerade diese Einfachheit, die die Meseta für viele Pilger auf dem Jakobsweg so besonders macht. Sie wird oft als eintönig beschrieben, aber in ihrer Schlichtheit steckt eine Einladung, das "Zuviel" loszulassen und sich im Gehen selbst zu finden. Für viele ist das zuviel, diese Konfrontation mit sich selbst. Sie überspringen die Strecke lieber mit dem Bus.

Auf der Meseta genoss ich das Gehen, ohne über jeden Schritt so viel nachzudenken, wie zuvor am HexaTrek. Es wurde zu einer Erholung für den Geist.

Das Crux de Ferro

Am Crux de Ferro läßt man traditionell einen Stein von zuhause zurück, als Symbol für eine Last, die man hier zurück lässt.

Warum den Camino Invierno?

In Ponferrada entschied ich mich für den Camino Invierno, weil ich ihn noch nie gegangen war. Außerdem reizte mich die Idee, eine alternative Route zu wählen – eine, die besonders in den Wintermonaten oft still und einsam ist.

Mir war bewusst, dass ich auf diesem Weg weniger Begegnungen mit anderen Pilgern haben würde, das nahm ich aber in Kauf. Die Interaktion mit Menschen, die das Pilgern so besonders macht, hatte ich im ersten Teil. Tatsächlich hatte ich auf dem Camino Francés bis Burgos interessante Gespräche, besonders mit Dan, einem Amerikaner aus Seattle. Ab der Meseta war ich jedoch wieder alleine unterwegs und traf nur mehr auf wenige Menschen.

Erst in Ponferrada fiel die Entscheidung für den Invierno. Am Morgen ging ich von der Herberge, die knapp außerhalb der Stadt liegt, in die Stadt hinein, um zu frühstücken. Während ich danach  losging, beschloss ich spontan, diesen neuen Weg zu erkunden.

Neue Wege – neue Herausforderungen

Der Camino Invierno forderte mich auf eine besondere Weise heraus. Neue Wege zwingen mich, meine Komfortzone zu verlassen. Sie verlangen mehr Aufmerksamkeit und Kreativität – eine echte Herausforderung für Körper und Geist.Doch gerade das machte diesen Weg für mich so besonders.

Ich bin überzeugt, dass mich genau diese Herausforderungen weiter bringen – nicht nur als Pilger, sondern auch als Mensch und dass, besonders nach dieser Krankheit.

Persönliche Erlebnisse und Begegnungen

Auf dem Camino Invierno waren Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen selten. In den acht Tagen auf dieser Strecke sprach ich nur kurz mit zwei Pilgern und sah insgesamt lediglich fünf weitere auf dem Weg.

Doch diese Ruhe war für mich kein Nachteil. Im Alleinsein fand ich die Möglichkeit, tiefer über mein eigenes Sein nachzudenken. Mein Fokus lag darauf, persönliche Einsichten zu gewinnen: Wie hat sich mein Gehen verändert? Wie gehe ich mit Herausforderungen um? Und wie kann ich meine Gedanken ordnen, wenn ich allein mit mir selbst bin?

Besonders spannend war es, Lösungen für unvorhergesehene Herausforderungen zu finden. Die langen Distanzen zwischen den Herbergen erforderten eine gute Planung und oft auch Improvisation. Doch erstaunlicherweise fügte sich alles immer wieder, vor allem dann, wenn ich Vertrauen hatte.

Vertrauen als Lebensbegleiter

Vertrauen ist einer der Grundpfeiler meines neuen (Lebens-)Weges – nicht nur auf dem Camino, sondern auch im täglichen Leben. Es hilft mir, ruhig zu bleiben, wenn ich mit Unsicherheiten oder Herausforderungen konfrontiert bin. Doch so einfach das klingt, gelingt es mir nicht immer, in diesem Zustand zu bleiben.

Wenn ich jedoch Gelassenheit und Vertrauen in solchen Momenten der Herausforderung finde, fühlt sich alles leichter an. Diese innere Balance ist für mich ein Schlüssel, um mit schwierigen Situationen klarzukommen, gerade wenn der Verstand manchmal mit zu vielen Gedanken ringt.

Herausforderungen und Überraschungen

Auf dem Camino Invierno wurde ich oft von der spärlichen Infrastruktur überrascht. Es war keine Seltenheit, dass ich Etappen von 20 bis 30 Kilometern zurücklegen musste, ohne die Möglichkeit, Verpflegung einzukaufen oder einfach einen Kaffee mit Croissant in einem Café zu genießen.

Das war eine deutliche Umstellung im Vergleich zum Camino Francés, wo alle 20 bis 25 Kilometer – oder spätestens nach 40 bis 50 Kilometern – eine offene Herberge zu finden ist und dazwischen wesentlich mehr Cafés geöffnet haben. Hier auf dem Invierno war das anders.

Doppeletappen, die ich auf dem Francés problemlos hätte planen können, wären hier schlicht unmöglich. Oft folgte nach einer 30-Kilometer-Etappe erst nach weiteren 30 Kilometern die nächste offene Herberge – ohne Alternativen wie Hotels dazwischen. Dadurch war ich auf Übernachtungen in größeren Orten angewiesen, was meine Flexibilität einschränkte, aber auch eine neue Herausforderung mit sich brachte.

Natur und Landschaft

Trotz vieler Herausforderungen war die Landschaft des Camino Invierno für mich ein echtes Highlight. Sie ist völlig anders als auf dem Camino Francés: Der Weg führt häufig entlang eines Flusses durch die Berge, mit malerischen Ausblicken und der Ruhe der Natur. Immer wieder steigt der Weg steil an, um weite Flussschleifen über einen Berg abzukürzen, was für einige Höhenmeter sorgt – eine gute Herausforderung für Körper und Geist, mit diesen Veränderungen klarzukommen.

Besonders beeindruckend waren die Weinberge, durch die ich vor allem in Galicien wanderte. Die Hügel und die kultivierten Reben sorgten für eine ganz eigene Atmosphäre. Oft leuchtete der Hang in Rot oder Gelb, von den Blättern der Weinreben. Und mit dem Wetter hatte ich unglaubliches Glück: Einzig am zweiten Tag, zwischen Roncevalle und Pamplona regnete es. Danach hatte ich keinen einzigen weiteren Regentag, außer am letzten Tag, wo ich zwischen und in Gewitterfronten nach Santiago ging.

Gewitterleuchten

Einsamkeit und Geisterdörfer

Die lange Zeit der Einsamkeit störte mich nicht, im Gegenteil – sie gab mir Raum für Reflexion und Achtsamkeit. Doch manchmal hoffte ich trotzdem auf eine offene Bar in einem der vielen kleinen Dörfer, um für einen Moment auszurasten. Viele dieser Orte wirkten jedoch wie ausgestorben, beinahe wie Geisterstädte. Diese Leere hinterließ einen eigentümlichen Eindruck – melancholisch, aber zugleich faszinierend.

Da ich eigentlich immer der einzige Pilger in der Herberge war, bin ich schon zeitig aufgebrochen. Ich brauchte mich nicht darum zu sorgen, jemanden durch mein frühes Aufstehen zu stören.

Noch im Dunkel des Morgen, die Dämmerung bricht erst gegen 8h30 an, suche ich eine offene Bar und nehme Kaffee mitToast und Marmelade zu mir. Danach gehe ich meist noch eine weitere Stunde im Dunkeln und werde danach fast immer mit einem wunderschönen Sonnenaufgang draußen in der Natur belohnt.

Meseta am Camino Frances
Meseta, Camino Frances

Tierbeobachtungen

Die Tiere haben es mir besonders angetan. Mein Pilgerfreund Dan hat sich den Spaß gemacht, den Ruf von Raubvögeln, wie Bussard oder Milan, mit meinem Namen zu verbinden. Schwebte wieder einmal einer über uns, rief er langgezogen meinen Namen. Für einen Amerikaner ist das "ö" schwer auszusprechen, so nennt er mich York, dass dem Ruf der Vögel ähnlich ist.

"Yoork, Yooork!"

Dan imitierte mit seinen Armen das Gleiten des Vogels durch die Luft und vermittelte mir Leichtigkeit. Immer wenn ich einen Bussard höre, wird mir diese Leichtigkeit bewußt gemacht. Es vermittelt mir, mit Leichtigkeit über die Trails und Wege zu laufen!

Religiöse und kulturelle Traditionen in den Dörfern

Auf dem Weg, besonders am Invernio, befinden sich viele alte Kirchen, aber die meisten sind geschlossen. Von Außen sind sie allerdings auch sehr schön. Nur wenige sind renoviert und die alten Steingemäuer sind oft Moosbewachsen und schimmern in Grün.

Jedes noch so kleine Dorf hat seine Kirche, die zumeist auch der Mittelpunkt ist. Umgeben von Kinderspielplätzen und Bänken luden sie zur Rast ein.

Da der Abstand von Herberge zu Herberge im Verhältnis groß ist, kann man nicht oft eine Doppeletappe einlegen. Wenn doch, hätte man oft über 50 Kilometer zu gehen, meist sogar über 60, ohne dazwischen wo einkehren zu können. Da es im November/Dezember nicht solange Tageslicht hat, ist man limitiert damit, bei Tageslicht weit gehen zu können.

In manchen Orten war die Herberge ganz geschlossen, aber für 20 Euro bekam ich ein Einzelzimmer im Hotel, dass aus diesem Grund oft für Pilger günstiger angeboten wird.

Verpflegung: Lokale Spezialitäten

Hin und wieder ging ich essen. Das war nicht oft möglich, da in Spanien erst spät zu Abend gegessen wird. Das sagt mir aber überhaupt nicht zu und deswegen jausne oder koche ich in der Herberge meist selbst.

In Navarette war die Herberge geschlossen und so wichen Dan und ich in ein Hotel aus. Ein Doppelzimmer um 40 Euro war günstig zu bekommen. Es ist um diese Zeit kaum was los und so geben die Wirte ihre Zimmer im Winter an Pilger billiger her, vor allem, weil die Herbergen zu haben.

Der Wirt war ein Brasilianer, der hier im Ort hängen geblieben ist. Zum Hotel dazu eröffnete er ein kleines Restaurant, dass er als ehemaliger Haubenkoch installierte. Das Hotel kam eigentlich eher zufällig dazu. An diesem Abend speiste ich wohl wie noch nie zuvor am Camino und trank zur Abwechslung auch ein Glas Wein.

Hinweise zur Vorbereitung: Schwierigkeit des Weges, Ausrüstung, beste Reisezeit.

Der November zählt bereits zum Winter und man sollte auf alles vorbereitet sein. Von Regen und Sturm, bis Kälte und Schnee, aber auch Wärme, kann man alles erwarten. Trotzdem war ich nur mit einem 20 Liter Laufrucksack unterwegs, der mit seinen Außentaschen allerdings mehr fasste.

Ich war für jedes Wetter gerüstet, auch Kälte und Schnee. Wegen meines kleinen Rucksacks sahen andere in mir einen Tageswanderer, der sein Gepäck jeden Tag vorausschickte. In den Herbergen war manch einer verwundert, was ich alles hervor zauberte.

Ich war Leichtgewichtig unterwegs, aber trotzdem mit ein wenig Komfort. Anbei ist mein Link zur Ausrüstungsliste auf lighterpack. Mein Basisgewicht lag übrigens bei etwa dreieinhalb Kilo.

https://lighterpack.com/r/q7p070

Meine Winterausrüstung im November/Dezemberz

Im Endeffekt hatte ich sogar zuviel mit, den das Wetter meinte es gut mit mir. Nur zwei richtige Regentage in den über drei Wochen war weit weniger, als ich erwarten durfte und es war niemals Schnee.

Wie immer hatte ich zusätzlich zur Regenjacke einen Poncho mit, eigentlich unnötig, zwei dieser Dinge zu tragen, aber für mich ist es Komfort, mit allen möglichen Schichten wechseln zu können.

Wichtig war, dass ich alles Gewand im Rucksack verstauen konnte. An einigen Tagen war es so warm, dass ich nur mit dem T-Shirt ging. Der Rest musste dann alles auf und in den Rucksack, der damit am Limit war. Dazu erhöht sich das Gewicht.

Beim Schlafsack ist mir ein Fehler unterlaufen. Beim Packen zuhause wollte ich nur den Unterschied sehen, zwischen dem SEA to Summit Spark I und II. Ich vergaß vor der Abfahrt sie wieder auszutauschen und nahm den wesentlich wärmeren Spark II mit, der auch um etwa 200g schwerer ist.

Dieser Schlafsack war überdimensioniert. Ich wollte ja nur Herbergen nutzen und nicht im Freien übernachten. Er war zwar oft zu warm, aber dafür kuschelig.

Reflexionen auf dem Weg

Der Camino gibt einem Zeit zum Nachdenken. Ich reflektierte über die letzten neun Jahre – die Herausforderungen, die Ängste, aber auch die kleinen und großen Erfolge. Der Hirnabszess war ein Einschnitt, der mich verändert hat, aber er hat mir auch gezeigt, wie stark ich bin.

Auf diesem 10en Camino spürte ich erneut, wie wichtig Dankbarkeit ist. Dankbarkeit für meinen Körper, der nach allem, was er durchgemacht hat, immer noch mit mir geht. Dankbarkeit für die Menschen, die mich in meiner dunkelsten Zeit unterstützt haben. Und Dankbarkeit für den Camino selbst, der mir immer wieder neue Perspektiven schenkt.

Das Weitwandern hat mich wieder ins Leben gebracht, wenn auch etwas anders, als gedacht. An die Stadt versuche ich mich nur mehr soviel wie nötig zu gewöhnen. Das wichtigste ist es, mich gut zu fühlen. Da mich die Stadt auch nach Jahren des Trainings noch stresst, muss ich mich nicht mit aller Macht daran gewöhnen.

Ankommen

Am Ende des Weges, in Santiago de Compostela, stand ich vor der Kathedrale und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Es war ein Moment der Erleichterung, des Stolzes und der tiefen Freude.

In solchen Momenten kann ich meine Gefühle nicht im Zaume halten. Szenen aus den letzten Jahren spielen sich vor meinem geistigen Auge ab.

Zunächst war es aber ein flüchten vor dem Gewitter mit starkem Regen.

Die ersten krampfhaft Gehversuche kommen mir immer wieder in den Sinn. Ja, es ist nicht leicht hier zu gehen, nach wie vor nicht. Andererseits, als Pflegefall im Bett zu liegen, ist sicher noch schwerer. Um das hier zu erleben, nehme ich gerne das Überwinden von Herausforderungen in Kauf, als von vornherein aufzugeben.

Fazit: Der Camino als Metapher für das Leben

Dieser 10. Camino war für mich nicht nur eine Wanderung, sondern ein Spiegel meines Lebens. Er zeigte mir, dass Rückschläge uns formen, aber nicht definieren müssen. Dass Heilung Zeit braucht, aber möglich ist. Und dass jeder Schritt, egal wie klein, uns weiterbringen kann.

Durch meine Geschichte hoffe ich, andere zu inspirieren, eine schwierige Phase in ihrem Leben überwinden zu können. Der Weg zeigt sich, wenn wir bereit sind, ihn zu gehen.

"Never give up!", wurde zu meinem Leitsatz.

Buen Camino!


HexaTrek, Stage 4/6

In Viviers, welches an der Rhone liegt, beginnt der 4. Abschnitt des Hexatrek. Der Süden Frankreichs, mit der Ardeche und den Cevennen, warten auf mich.

Die Alpen liegen hinter mir und ich überlege kurz, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Ich habe meine Ziele erreicht, allerdings überwiegt die Freude hier zu sein und den Hexatrek vielleicht zu vollenden. So gehe ich nach einem Ruhetag in Le Chateaneuf weiter und freue mich auf die Ardeche.

Hexatrek, Gorges du Tarn

Vievier, Stage 4 am Hexatrek beginnt

Grenzgang Ardeche

Vor 12 Jahren war ich schon einmal hier, damals für Filmaufnahmen. In Erinnerung hatte ich einen Weg durch die Schlucht, aber was ich hier vorfinde, ist mir bald zu viel. Nach etwa 30 Kilometern stehe ich vor dem Abstieg nach ganz unten und ich freue mich zunächst noch über den bevorstehenden Weg.

Auf dem Wasser sind viele Kajaks und Rafting Boote unterwegs und geben ein buntes Bild ab. Der Fluss wird rechts und links von hohen Felswänden eingerahmt und ein Durchkommen zu Fuß erscheint unmöglich. Ich finde Markierungen und kämpfe mich Meter für Meter vorwärts. Und Kämpfen ist der richtige Ausdruck. Tiefe, sandige Passagen wechseln mit dem Springen von Stein zu Stein ab.

Seit dem Hirnabszess versuche ich es zu vermeiden zu Kämpfen, alles soll mit einer Leichtigkeit passieren und einfach sein. Hier stoße ich aber an Grenzen, die für mich zu hoch sind. An einer Stelle steht auf den Fels geschrieben: "Ab hier müssen sie klettern". Allerdings ist mir nicht klar, wohin?

Eine etwa drei Meter hohe senkrechte Stelle führt hinunter zum Fluss, auf eine nächste Felsebene und ebenso steil geht es nach oben, ohne zu sehen wohin. Für mich unüberwindbar. Ich gehe auf und ab und kann mich nicht entscheiden, also gehe ich zurück. Über riesige Felsblöcke, durch Brennnessel, mit Gestrüpp und ausgesetzte Stellen versuche ich diese Kletterstelle zu umgehen und gelange wirklich an die Stelle darunter, wo ich vorher oben umdrehte.

Es geht weiter durch ausgewaschene Felswände, ich klettere über Felsbrocken und wate durch tiefen Sand. Meine Füße und Knöchel sind derart beansprucht, wie noch nie in den Wochen zuvor am Hexatrek. Dazwischen sind immer wieder ausgesetzte Stellen, auf denen man auf Eisenklammern zehn Meter über dem Fluss dahin steigt. Ich habe so viel am Hexatrek bisher geschafft, aber hier bin ich mit meiner Propriozeption am Ende. Zusätzlich das Wasser unter mir bereitet mir die größte Angst. Außerdem spüre ich, es tut mir nicht gut, aber ich muss weiter.

In den Felswänden der Ardeche

In einer Stunde komme ich nicht einmal zwei Kilometer vorwärts und es sind noch sechs bis zum nächsten Campingplatz. Es hat über 30 Grad und meine Wasservorräte sind bald erschöpft. Schritt für Schritt kämpfe ich mich vorwärts, jeden Schritt muss ich genau wählen, wo ich ihn hinsetze. Für die nächsten Kilometer würde ich so noch drei bis fünf Stunden brauchen.

Zu Biwakieren wäre eine Möglichkeit, allerdings müsste ich dann zu lange ohne Wasser auskommen, also verwerfe ich es. Der Fluss ist zwar nur wenige Meter entfernt, aber ich erreiche ihn nicht. Außerdem ist das Biwakieren in der Schlucht verboten, da es ein strenges Naturschutzgebiet ist.

Ich entscheide mich dafür, bei der nächsten Möglichkeit zur Straße aufzusteigen. Ein kaum erkennbarer Pfad schlängelt sich wie eine Schlange steil nach oben und verliert sich im Nichts. Einem Höhenbergsteiger ähnlich steige ich langsamen Schrittes nach oben. Die Erinnerung an die Krankheit bleibt mein stummer Begleiter, doch die Schönheit der Wildnis gibt mir Kraft und Stärke. Meine superleichten Wanderstöcke aus Carbon unterstützen mich, so kann ich Steilstufen leichter überwinden, wenn ich Kniehoch nach oben steige muss.

Die Muskelschwäche wird mir dabei oft bewusst gemacht, trotzdem ich die Alpen hinter mir habe. Das bisherige Gehen und Steigen war gutes Training und ich fühlen mich stärker als nie zuvor. Trotzdem ist steiles Gelände noch immer eine Herausforderung und bringt mich schnell an die Belastungsgrenze. Gerade rechts, wo ich die Lähmung hatte, verweigert ein zu starkes Abwinkeln des Beines, dass ich mich aufrichten kann. Aus der Hocke aufstehen, gar mit Rucksack, ohne mich wo anzuhalten, kann ich noch heute nicht.

Plötzlich türmt sich eine Felswand unüberwindbar vor mir auf. Ich pendle darunter nach rechts und links und wieder zurück, um einen Ausweg zu finden. Zum ersten Mal fühle ich mich erschöpft. Anfangs noch euphorisch, wandeln sich meine Gefühle in "...ich möchte nur mehr nach oben kommen!". In dieser steilen Wand suche ich lange nach dem Ausstieg auf die Straße. Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich endlich oben.

Der Schweiß rinnt in Strömen, im wahrsten Sinn des Wortes. T-Shirt und kurze Hose sind klatschnass. Oben angelangt werfe ich mich und den Rucksack müde in den Staub. Nach einer kurzen Pause steht mir ein langer Fußmarsch auf der Straße bevor, was aber immer noch besser ist, als über die ausgesetzten Stellen am Fluss zu klettern. Atemberaubende Tiefblicke in die Schlucht lenken vom eintönigen Gehen auf der Straße ab.

Kurz vor La Combe, wo das Ende der Schlucht ist, nimmt mich eine Familie mit dem Auto mit, da es hier durch mehrere Tunnel geht. Am Fußweg außen herum, käme ich heute nicht mehr zum Campingplatz, abgesehen vom schon dringend benötigten Wasser. Vom Auto aus sehe ich den Pont d'Arc ein bisschen wehmütig und vermisse es, nicht zu gehen. Andererseits hätte ich ihn nur gesehen, wenn ich mit dem Kajak gefahren wäre.

In Le Comb springe ich aus dem Auto, bedanke mich und gehe zum Campingplatz. Ein riesiger Stellplatz erwartet mich dort, sogar mit Stromanschluss, trotzdem bezahle ich nur als Wanderer. Es ist bereits das Ende der Ferien und viel Platz. Da merke ich wieder, dass ich bereits den ganzen Sommer unterwegs bin und der Herbst vor der Tür steht. Die Annehmlichkeiten des Platzes nutze ich, besonders eine heiße Dusche bringt Erholung.

Georges de Tarn

Es scheint, dass die Gegend zum Meer hin, von Nord nach Süd, mit zahlreichen Flüssen gespickt ist, die tiefe Furchen gezogen haben. Da ich von Ost nach West quere, ist ein Auf und Ab vorprogrammiert. Drei bis fünfhundert Meter, meist steil, im Auf und Abstieg, sind es jedes Mal.

Die traumhafte Gegend wechselt von Hochebenen auf Wege entlang des Flusses tief unten, unterbrochen von kleinen Ortschaften, die oft verlassen wirken. Der steile Trail fordert mich körperlich heraus, aber die Belohnung ist der atemberaubende Ausblick, der sich mir jedes Mal eröffnet, wenn ich oben ankomme. Nie hätte ich gedacht, dass mich die Gorges de Tarn so fordern würden.

Die eigentümlichen Knieschmerzen trüben meine Freude ein wenig. Nach den Alpen, wo ich mich so fit gefühlt habe, ist das eine echte Überraschung. Ich frage mich, ob es an der unterschiedlichen Beschaffenheit des Untergrunds liegt oder ob ich vielleicht eine Überlastung habe.

Eine muskuläre Dysbalance kann von den Schuhen kommen, da ich aufgrund meiner gestörten Propriozeption und Muskelschwäche eine lange Eingewöhnungszeit auf neue Modelle habe. Ein Wechsel kann dazu führen, dass meine Knie einer anderen Stoßbelastung ausgesetzt sind, was zu Schmerzen führen kann. Deshalb verwende ich seit Jahren nur zwei Modelle, an die sich die Füße gewöhnt haben. Hier war ich aber gezwungen auf ein anderes Modell umzusteigen.

Die Gorges du Tarn, eine spektakuläre Naturlandschaft am Hexatrek

Diese Region ist Heimat einer Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten, darunter seltene Vögel, Schmetterlinge und Blumen. Vor einigen Jahrzehnten waren Geier in dieser Region ausgestorben. Dank einem erfolgreichen Wiederansiedlungsprojekt sind sie wieder heimisch, besonders der Gänsegeier. Von Ihnen geht eine Faszination aus und es ist ein Erlebnis, sie in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten.

Cevennen

Mich selbst erfahren bekommt jetzt immer öfter Sinn. Die letzten Wochen musste ich so konzentriert gehen, dass fürs Nachdenken nichts übrig blieb. Es wurde zu einseitig und die psychischen Erfahrungen kamen zu kurz. Die größten Erfahrungen sind dann möglich, wenn ich geistige Erfahrungen realisiere und umgekehrt, körperliche vergeistige.

Bewege ich mich zu einseitig im Physischen, besteht die Gefahr, dass ich mich selbst zerstöre. Bewege ich mich im Gegensatz dazu zulange im Psychischen Grenzbereich, ist ebenfalls Selbstzerstörung die Folge. Die Balance zwischen beiden ist das Beste.

Aufgrund der Wege in den Alpen war es mir aber nicht möglich, öfter auch das Psychische einzubeziehen. Zu sehr musste ich aufpassen, wohin ich trete. Eigentlich bin ich dauernd damit beschäftigt. Das Physische hat überhand genommen.

Seit dem Hirnabszess mache ich täglich neue Erfahrungen. Mache ich keine, stagniere ich. Was mir am Hexatrek gut gelingt ist, die Bereitschaft und Fähigkeit zu haben, möglichst viel bewusst zu erleben. Ich, als Mensch, kann mich verwirklichen. Dieses Gefühl ist Gold wert. Auch unter Belastung, ruhe ich in mir. Vermeidung von Stress ist nicht nur hier, sondern seit Jahren, mein oberstes Prinzip. Außerdem sauge ich die Natur in mir auf.

Wenn der Trail es zulässt, versuche ich die Erfahrungen der letzen Wochen zu vergeistigen. Das gelingt nur selten, denn der Weg lässt es kaum zu. Dieses einseitige, in diesem Fall physisch, artet in Stress aus und ist in Folge schädlich. Immer öfter denke ich an einen ruhigen Camino in Spanien und das so etwas jetzt ideal wäre. Am Camino lernte ich gehen und denken, auf ruhige Art. Daher schwanke ich zwischen aufhören und heimfahren oder doch weitergehen und den Hexatrek beenden.

Die Erfahrungen in den Alpen waren so intensiv, dass ich eigentlich heimfahren kann und auf diesen in der Tanz-Therapie aufbauen kann. Auf der anderen Seite fühle ich mich so wohl hier, dass ich den Hexatrek beenden möchte. Es stehen ja nur mehr die beiden Stage 5 und 6 durch die Pyrenäen aus. Wie ich weiter mache, werde ich in den nächsten Tagen entscheiden.

Die Schuhe zwingen mich zum Nachdenken

Es passt eigentlich alles, bis auf die Schuhe. Da ist der Wurm drinnen. Es ist ein etwas schwererer Wanderschuh und kein Laufschuh. Diese Veränderung beschert mir Knieschmerzen, dass ich so bisher nicht kenne. Der Schuh ist zwar von meiner Lieblingsmarke Hoka und fühlt sich eigentlich auch gut an, aber verändert mein Gehen doch zu sehr. Ich hätte doch einen Laufschuh nehmen sollen, dachte mir aber nichts schlimmes dabei.

Der Weg führt mich an Sehenswürdigkeiten vorbei, wie einer Templerburg und einem Felsbogen. Die Landschaft ist traumhaft und ich genieße es hier gehen zu dürfen.

Sturm, Regen und Nässe am Hexatrek

Schon am Morgen, als ich losgehe, meldet die Wetter-App für den Nachmittag heftige Gewitter. In einem kleinen Städtchen gehen ich einkaufen und setze mich in ein Cafe. Bis zum nächsten Campingplatz sind es nur noch 10 Kilometer und daher lasse ich mir Zeit. Der Pfade windet sich rauf und runter. Dann, etwa zwei Kilometer vor einem Dorf, beginnt es zu regnen. Aber was für ein Regen. Er prasselte wie tausend kleine Nadeln auf mich herab und wird immer stärker.

Innerhalb Minuten stürzt ein Sturzbach auf mich herab, wo auch der Poncho nicht mehr hilft. Ein Unterstand ist weit und breit nicht zu sehen. Das Wasser kommt mir Knöcheltief auf der Straße wie ein Fluss entgegen. Das Handy gibt seinen Geist auf und reagiert nicht mehr, so feucht und nass ist es. Der Campingplatz ist nirgends angeschrieben und somit weiß ich nicht wohin.

Unter einem dürren Baum suche ich verzweifelt nach Schutz. Der Wind peitscht den Regen gegen mich und ich fröstle am ganzen Körper. Endlich entdecke ich einen Hauseingang, der mir einen kleinen Unterschlupf bietet. Nach vielen Versuchen bekomme ich das Handy trocken und starte es.

Meine Feinmotorik ist in den vom Wasser aufgeweichten Fingern ungeschickt. Kurz sehe ich auf der Hexatrek-App wohin ich muss, da schaltet es sich schon wieder ab. Im ersten Moment wie der Regen nachlässt, mache ich mich auf den Weg. Nach weiteren zwei Kilometern erreiche ich den Campingplatz. Es hat mittlerweile stark abgekühlt und es ist bitterkalt geworden.

Meine Hände gehorchen mir nicht mehr. Da es wieder schüttet, macht es keinen Sinn das Zelt aufzubauen. Ich dusche und setze mich unter ein Vordach. Praktisch alles was ich dabei habe, lege und hänge ich rund um mich auf, damit es wenigstens trocken wird.

In einer kurzen Regen Pause versuche ich das Zelt aufzustellen. Der Regen ist aber schneller als ich und im vom Himmel stürzenden Wasser gelangt Wasser ins Zelt, bevor ich es schaffe, daß Überzelt überzuwerfen. Zum zweiten Mal erwischt mich ein Unwetter und bringt mich ans Limit.

Nass und durchgebeutelt gehe ich weiter. Innerhalb weniger Tage hat der Herbst Einzug gehalten. Da ich mich für die Pyrenäen nicht ausgerüstet fühle, werde ich von Carcassonne heimfahren.

Mein Telefon spinnt und funktioniert wegen der Feuchtigkeit kaum noch. Dazu werden die Berghütten in den Pyrenäen ab 15.Septmber größtenteils geschlossen, was die Folge hat, mehr zu tragen. Mein Entschluss steht damit fest, aufzuhören. Wegen dem Telefon habe ich auch kaum Bilder vom Schluss, was mir sehr leid tut.

Fazit des Hexatrak

Mein Fazit fällt durchwegs positiv aus. Nie hätte ich gedacht soweit zu kommen. In den Alpen hat ein neuer Zeitabschnitt begonnen, auf dem ich aufbauen kann. Mein Ziel, für das ich acht Jahre gearbeitet habe, konnte ich verwirklichen.

Mit dem Erreichen dieses Ziel ist es aber nicht vorbei. Die Behinderung und die Handicaps bleiben. Dranbleiben wird auch weiterhin mein Motto bleiben. Mich mehr in der Natur aufzuhalten und weniger in der Stadt, kann ich akzeptieren. Die Hochsensibilität bleibt und lässt sich kaum verbessern.

Die gewonnenen Erfahrungen werde ich in den nächsten Wochen und Monaten in mein Leben integrieren lernen und weiterhin an mir arbeiten. Da habe ich genug zu tun. An erster Stelle steht, ein neues Ziel zu finden. Besonders wichtig ist es, die richtige Formulierung zu finden.

"Alles, was ich verarbeiten kann, schafft mir ein Fundament"

Die Pyrenäen mit Stage 5 und 6, über 900 km des Hexatrek, nehme ich mir für nächstes Jahr vor. In Hendaye ins Meer zu springen, ist nach wie vor mein Ziel!


HexaTrek: Die Südalpen erwarten mich, Aufbruch zur 3. Etappe

Nachdem ich die majestätischen Nordalpen hinter mir gelassen habe, stehe ich nun am Beginn der dritten Etappe des HexaTrek - einer Route, die mich tief in die Südalpen führen wird.

Die Berge vor mir sind wild, rau und wunderschön. Ich bin gespannt, was mich in den kommenden Tagen erwartet. Der Start ist frostig, aber voller Vorfreude gehe ich los.

Der Beginn am Col de Lauteret

Mein Tag beginnt auf 2000 Metern Seehöhe, und die Kälte macht sich deutlich bemerkbar. Der Boden ist feucht vom Nebel, der sich in der Nacht bildete und meine Schuhe sind im feuchten Gras schnell nass. Der Start fühlt sich zunächst düster und bedrückend an, denn die Sonne schafft es noch nicht über die Berghänge.

Colm de Lauteret, HexaTrek
Col de Lauteret, Beginn der 3. Etappe

Mein Weg führt an der Schattenseite eines Berges entlang. Bei jedem Schritt bremst mich die Kälte, die mich daran erinnert, wie zerbrechlich ich noch bin, trotzdem ich am Hexatrek unterwegs bin.

Im Moment habe ich mit mir selbst zu tun, denn zum ersten Mal, seit ich am Hexatrek unterwegs bin, hat die Kühle des Morgens einen großen Einfluss auf die Funktion meiner Nerven. Steif und unkoordiniert gehe ich los, mit der Hoffnung, dass es bald besser wird. Ich kann es nur abwarten.

Die gegenüberliegenden Berge liegen bereits in der Sonne und so nehme ich mir vor, erst dann zu frühstücken, wenn ich in der Sonne bin, vorher ist es mir zu kalt.

Schmale Pfade und tiefe Abgründe: Die Herausforderung beginnt

Dann passiert es. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen mich und tauchen die Landschaft in ein sanftes, goldenes Licht. Die Kälte wird weniger und ich nutze diesen Moment, um eine Pause einzulegen. Schnell ist der Kocher bereit und ich setze Wasser für einen Kaffee auf. Dazu gibt es das übliche, Brot mit Käse. Umgeben vom Rauschen des Windes und dem fernen Rufen von Krähen, genieße ich es, hier in der Einsamkeit mitten in den Bergen zu sitzen.

Nach dieser Stärkung gehe ich gestärkt los. Der Pfad führt entlang eines steilen Berghangs, und der Abhang zu meiner rechten erfordert volle Konzentration. Jeder Schritt muss wohlüberlegt sein. In diesen Momenten fühle ich, wie ich eins werde mit der Natur. Jeder Schritt, jeder Atemzug wird bewusster. Der Weg ist wieder einmal anspruchsvoll, aber genau das suche ich und macht diesen HexaTrek für mich so wertvoll. Step by Step verbessere ich meine Wahrnehmung und wie schnell ich etwas erfassen kann.

Seit Jahren konnte ich mich von Jakobswegen, bis hin über Fernwanderungen, gesundheitlich steigern. Es half mir, mich mit verbesserter Wahrnehmung in der Stadt besser zu bewegen und ich entdeckte auch das Fernwandern für mich. Die Natur bekam einen immer größeren Stellenwert.

Rehabilitation ist eigentlich nicht mehr das richtige Wort dafür. Man spricht eher von einer Langzeitversorgung oder chronischer Versorgung. Regelmäßige Therapien sind trotzdem erforderlich, um meinen Gesundheitszustand beizubehalten oder zu verbessern.

Steile Abgründe und eine Kuhherde

Der schmale Pfad windet sich den Berghang entlang. An den absturzgefährdeten Stellen bieten mir eiskalte Ketten Halt. Jeder Schritt ist bedacht, jede Bewegung muss präzise ausgeführt werden. Fehler sind hier nicht erlaubt. Erinnerungen an meine ersten Schritte kommen mir hoch. Auch damals durfte ich nicht stürzen, denn meine Reaktion war so langsam, dass ich umfiel wie ein Holzklotz. Heute genieße ich die Herausforderung, die Berge zu bezwingen, umso mehr, auch wenn die Anstrengung nicht weniger geworden ist.

Bald gehe ich in einem Tal leicht aufwärts, es sind ein paar Hundert Höhenmeter zu überwinden. Auf der anderen Seite des Wildbachs sehe ich neben einer Almhütte mehrere Zelte stehen. Es ist halb Neun, aber sie liegen noch im Schatten, während ich bereits in der Sonne gehe. Ich kann ihnen nachfühlen, wie kalt und feucht es ist und auch sie auf die Sonne warten.

Im noch einigermaßen flachen Teil gerate ich unter eine Rinderherde. Sie kommen von hinten und gehen etwas schneller als ich. Sie haben junge Kälber bei sich, was eine ungute Situation ist, denn es wird immer davor gewarnt, sich Kühen mit Kälbern zu nähern. Aufgrund von Wölfen haben sie einen besonderen Beschützerinstinkt, den sie auch gegenüber Menschen wahrnehmen. Daher bin ich dementsprechend vorsichtig und versuche so schnell es geht, ins steilere Gelände zu kommen. Das laute, aggressive brüllen einiger Kühe schreckt ab.

Plötzlich stehe ich einer stattlichen Rinderherde gegenüber. Ihre großen Augen fixieren mich, während sie gemächlich auf mich zukommen. Die Kälber trotten dicht bei ihren Müttern. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Der Instinkt dieser Tiere ist unberechenbar, besonders wenn sie ihren Nachwuchs schützen. Ich versuche, einen Bogen um sie zu machen, aber ihr tiefes, bedrohliches Brüllen lässt mich unwillkürlich innehalten. Die Natur zeigt hier ihre ungezähmte Kraft, und ich fühle mich klein und verwundbar, selbst gegenüber Kühen.

Blaue Seen und wolkenloser Himmel

Nach dem Pass windet sich ein steiniger Pfad wie ein schmaler Grat durch die Landschaft. Jeder Schritt ist ein Balanceakt, denn die losen Steine geben unter meinen Füßen nach. Alles an Steinen fällt in den Weg und sammelt sich dort, dementsprechend schwer ist das Gehen darauf.

Ich fühle mich wie in einem Gemälde, umgeben von kräftigen Farben und weichen Formen. Ich wandere durch ein Meer aus Blau und Grün, umgeben von schroffen Felswänden und grünen Almwiesen. Schon bald treffe ich auf den ersten See, der in einem tiefen, satten Blau schimmert. Mal mehr, mal weniger steil geht es nach unten, von einem See zum nächsten, jeder in einem anderen Blauton leuchtend.

Zu Mittag erreiche ich die nächste Ortschaft, nachdem ich die letzten Kilometer im Eilschritt zurücklege. Ich komme aber um wenige Minuten zu spät, der dortige rustikale Gasthof schließt gerade, wie ich ankomme. Ich versuche den Wirt noch zu bitten, eine Ausnahme zu machen. "Tut mir leid, mein Freund", sagt er und verschwindet im Haus. Der Gastgarten ist mit Ketten verschlossen, obwohl er noch voll ist. Niemand wird mehr eingelassen.

Wieder einmal keine französische Küche, mit der ich seit Beginn ein Problem habe. Essen im Restaurant konnte ich erst ein paar Mal genießen, da die Restaurants für Fernwanderer wie mich, keine guten Öffnungszeiten haben. Es widerstrebt mir allerdings, meine Wanderung danach zu richten. Im Gegensatz dazu ist es auch anstrengend, ständig nach Alternativen suchen zu müssen, wenn die geplanten Einkehrmöglichkeiten ausfallen.

So werde ich doch noch zum Bergziegen-Gourmet. Käse und Wurst sind schließlich die Grundnahrungsmittel aller echten Wanderer, und dazu koche ich mir einen Kaffee. Und wer weiß, vielleicht entwickel ich ja noch eine Vorliebe für französische Küche – wenn ich sie denn jemals zu Gesicht bekomme.

Essen am Hexat
Brot und Käse, statt französische Küche

So setzte ich mich auf eine nahe Bank hinter der geschlossenen Kirche und diniere wieder einmal das Übliche. Als Nachspeise genehmige ich mir ein Stück Nuss-Schokolade. Dabei habe ich mich so auf eine Abwechslung gefreut und bin deswegen die letzten Kilometer besonders schnell gegangen.

Verirrt, mit Umweg am Hexatrek

Zunächst geht es ein breites Tal hinaus, auf einem schönen Wanderweg. Aber ehe ich mich versehe, bin ich wieder steil hinauf, auf einem schmalen Steig. Ich folge der Markierung und gehe immer weiter.

Zunächst schlängelt sich der Weg gemächlich durch ein breites Tal. Doch je weiter ich komme, desto mehr verschwindet der Pfad in dichtem Gebüsch. Unachtsam bin ich dem Hauptweg gefolgt, dabei hätte ich einer kaum sichtbaren Abzweigung folgen sollen. Immer und jederzeit die Karte am Handy zu kontrollieren, ist mir aber zu viel. Das Navigieren wird mir am Hexatrek wieder zum Verhängnis.

Diesmal habe ich mich zu sehr treiben lassen und finde mich nun an einem Punkt, an dem ein Umkehren kaum mehr in Frage kommt. Ich studiere die Karte und komme zum Schluss, weiterzugehen. Es ist um wenige Kilometer weiter, dafür sind aber einige hundert Höhenmeter mehr zu überwinden. Und diese haben es in sich.

Ein schmaler Pfad windet sich immer steiler werdend einen Hang hinauf. Auf 2500 Metern Höhe erreiche ich endlich den Pass und es eröffnet sich mir ein atemberaubender Blick über die darunter liegende Landschaft. Auf der anderen Seite geht es gleich steil hinunter, nur nicht so weit. Bald darauf stoße ich wieder auf den Original-Trail, wo weitere 1400 Meter Abstieg ins Bergdorf Vallouise auf mich warten.

Ruhetag und Unwetterschäden

Der Abstieg fühlt sich endlos an und ich erreiche Vallouise am späten Nachmittag. Der große, am Ortrand liegende Campingplatz ist beeindruckend, aber der Bereich für kleine Zelte ist bei einem jüngsten Hochwasser komplett zerstört worden. Enttäuscht stehe ich da und werde von den Betreibern auf den nächsten Platz verwiesen, ganze fünf Kilometer weiter, ein kleines Tal aufwärts.

Nach kurzer Pause mache ich mich auf den Weg Eine weitere Stunde, auf einen vom Hochwasser zerstörten Weg. Dort angekommen, stellt sich heraus, dass es sich um einen spartanischen Platz handelt, ohne jegliche Infrastruktur oder Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Mein Gehirn kann die Situation kaum fassen. Irgendwie fühlt sich alles falsch an, denn mir fehlt es an allem, was ich für die nächsten Tage brauche.

Es wächst die Erkenntnis: Dieser Weg, der vor mir liegt, ist mit meiner Ausrüstung nicht zu beschreiten. Der Gedanke, noch weitere Tage so zu verbringen, ist unerträglich. Mit hängenden Schultern packe ich meine Sachen zusammen. Die Entscheidung zum Umkehren fällt mir schwer, aber die Vernunft siegt. Die fünf Kilometer ins Dorf zurück, ziehen sich, aber um acht Uhr morgens bin ich dort. Im Wasch-Saloon des Campingplatzes wasche ich meine gesamten Sachen, dusche mich und atme danach tief durch. In Regenhose und Regenjacke sitzend, alles andere ist in der Wäsche und bei einem selbst gekochten Kaffee mit frischem Crossant, schaut die Welt wieder anders aus.

Heute werde ich einen Ruhetag einlegen und ich treffe auf die beiden Neuseeländer, Sam und Matt. Sie laden mich ein, mein Zelt neben ihres aufzuschlagen. Heute ist Sonntag und viele Plätze wurden wegen der Abreise anderer frei. Hätte ich das nur gestern schon gewusst? Beim gemeinsamen Essen schmieden wir Pläne für die kommenden Tage. Matt hat noch etwas zu erledigen und wird in einigen Tagen nachkommen. Am nächsten Morgen brechen Sam und ich auf, um unser Abenteuer fortzusetzen.

Wir bleiben auf der linken Seite des reißenden Flusses. Nach wenigen Kilometern stoßen wir auf ein unüberwindliches Hindernis: Die Brücke, die das gegenüberliegende Ufer verbinden sollte, ist spurlos verschwunden. Das Hochwasser hat sie mitgerissen. Jeder Versuch hinüberzukommen scheitert. Ein Umweg würde uns zu viel Zeit kosten, deshalb beschließen wir, den Fluss trotzdem ein wenig weiter abwärts zu überqueren. Wir suchen eine nicht so tiefe Stelle, wo es gelingt.

Flussquerung und Regenfront

Mit Sam überquere ich die L'Argentière-la-Bessée, durch eine Atemberaubende Landschaft, die dem Mond ähnelt. Ich übernachte auf einer Hütte, die zum Glück noch ein freies Bett hat. Auch am nächste Tag bleiben die überlangen An- und Abstiege, wo es erforderlich ist, in meiner Konzentration zu bleiben. Nur so kann ich diese Anstrengung bergauf händeln, mit den Gedanken ausschließlich beim nächsten Schritt zu bleiben.

Tja, daß das Leben in den Bergen seine Tücken hat, durfte ich bald erfahren. Nachdem ich den ganzen Tag über Felsbrocken und lange Steilhänge geklettert war, bekomme ich im Refuge de Souffle keinen Platz mehr, alles ist ausgebucht. Keine guten Aussichten für mich, da es in der Nacht Gewitter geben soll. Mit ein paar anderen schlage ich in der Nähe das Zelt auf.

Von 21 Uhr bis 2 Uhr morgens tobt ein Unwetter, aus Donner, Blitz und Regen. Von überall her kriecht das Wasser ins Zelt und meine ganze Ausrüstung ist nass oder zumindest feucht. Besonderes Glück habe ich mit meiner Isomatte, die ist sechs Zentimeter hoch und ich liege damit knapp über dem nassen Boden.

Die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Müde und durchnässt schleppe ich mich aus dem Zelt. Ich bin nur mehr froh, die Nacht überstanden zu haben. Ich kämpfe mich durch das Chaos meiner nassen Ausrüstung. Jede Bewegung kostet Überwindung, aber ich möchte nicht noch mehr Zeit verlieren. Den Treffpunkt mit Sam, der in der Hütte schläft, verpasse ich dennoch.

Endlich, nach gefühlten Stunden, bin ich um Acht startklar und mache mich auf den Weg. Bis zum nächsten Dorf sind es zwar nur zehn Kilometer, allerdings über 800 Meter im Aufstieg und 1300 Meter Abstieg. Der Weg ist vom nächtlichen Gewitter stark ausgewaschen und besonders die Wasserquerungen fordern mich heraus. Der Aufstieg ist rutschig und ein paar Bereiche sind sogar mit Stahlstangen gesichert.

Diese andauernd übermäßige Konzentration kostet mir viel Energie. Mit jedem Schritt muss ich befürchten auszurutschen, was fatale Folgen hätte. Eine solche Herausforderung hatte ich seit dem Hirnabszess noch nie und habe ich in diesem Ausmaß nicht erwartet. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, meine Grenzen zu respektieren. Diese Herausforderung treibt mich an meine absoluten Grenzen, körperlich und geistig, trägt aber auch dazu bei, mich als Person weiterzuentwickeln.

Am Pass angekommen, steht mir jetzt ein langer Abstieg bevor. Über steile, steinige und teilweise nasse Pfade springe ich nach unten.

Rauf und runter, am HexaTrek Stage 3

Der Hexatrek ist ein ständiges Auf und Ab, bei dem Höhenunterschiede von über 1000 Metern keine Seltenheit sind. In Le Bourg d'Oisans finde ich mich bereits auf der Suche nach meinem dritten Paar Schuhe wieder – ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie stark das Material auf dieser anspruchsvollen Strecke beansprucht wird.

Es sind nicht nur die anspruchsvollen Wege, die ihren Tribut fordern – auch mein spezieller Gehstil trägt erheblich dazu bei. Jeder Schritt ist darauf ausgerichtet, Stabilität zu bewahren und ein Umkippen oder Stürzen unbedingt zu vermeiden. Diese konzentrierte und oft ungewöhnliche Belastung beansprucht meine Schuhe weit mehr als üblich.

Erst im zweiten Geschäft finde ich etwas Passendes: keinen Trailrunning-Schuh diesmal, sondern einen Wanderschuh von Hoka. Unter den getesteten Modellen scheint er die beste Alternative zu den Altra- oder Hoka-Speedgoat-Schuhen zu sein, die leider in meiner Größe nirgendwo verfügbar sind.

Die neuen Schuhe tragen sich zwar recht gut, sind jedoch keine Laufschuhe. Sie sind deutlich schwerer, bieten dafür aber durch den höheren Lederanteil mehr Stabilität – ein klarer Vorteil für den weiteren Weg. Was ich jedoch nicht bedacht habe, ist die nötige Umgewöhnung. Schnelle Schritte oder gar Laufen sind mit diesen Schuhen schlichtweg nicht möglich.

Gerade bergab versuche ich oft zu laufen, da das langsame Gehen für mich zu viel Kraft kostet. Ich habe eine Technik entwickelt, die es mir trotz Muskelschwäche ermöglicht, bergab zu laufen. Mit den neuen Schuhen gestaltet sich das jedoch schwierig, da sie dafür ungeeignet sind. Um die unterschiedlichen Muskelgruppen anzupassen und zu trainieren, wäre gezieltes Üben notwendig – etwas, das während des Hexatreks kaum machbar ist.

So werden speziell die Abstiege zu einer eigentlich unnötigen Erschwernis. So versuche ich das beste daraus zu machen, trotzdem gerate ich in einen Zustand, den ich immer schwerer Händeln kann. Das mich nach so vielen zurückgelegten Kilometern der letzten Jahre so etwas noch außer Tritt bringen kann, hatte ich nie gedacht.

Sonnenuntergänge auf Gipfeln

Zunächst merke ich die körperliche Veränderung aufgrund der neuen Schuhe noch nicht stark, das sollte sich aber bald ändern. Ich übernachte selten unter 1800 Meter Seeehöhe und das meist bei schönstem Sonnenunter- oder Aufgang.

Hexatrek und Handicap

Der Hexatrek ist mehr als nur eine Wanderung für mich. Es ist eine Reise zurück ins Leben und ein Beweis dafür, dass auch nach Rückschlägen wieder neue Wege entstehen können.

Der Hexatrek fordert mich körperlich und mental heraus. Ich verlasse meine Komfortzone immer wieder, denn nur so kann ich wachsen. Auch nach acht Jahren ist das Gehen für mich die größte Übung. Jede Bewegung, jeder Schritt schult meine Wahrnehmung und erweitert meine Grenzen und dafür bin ich dankbar, denn diese Grenzen sind nach wie vor da.


Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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