Am Sonntag habe ich an meinem ersten Wingsforlifeworldrun teilgenommen. Laufen kann ich zwar noch immer nicht, aber ich möchte es wieder können.
"Gemeinsam laufen wir für alle, die es selbst nicht können."
Motto des "Wings for Life World Run"
Per APP ist es kurzfristig durch die Corona-Krise sogar ein Muss geworden. Ich wollte mich erstmals damit auseinandersetzen und schauen, ob ich damit schon zurechtkomme.
Schon letztes Jahr war ich nahe dran am Wingsforlifeworldrun teilzunehmen, habe aber im letzten Moment zurückgezogen. Denn es geht nicht nur um mein körperliches Befinden, sondern auch um das Gehirn. Es gibt mir alles in letzter Konsequenz vor, was geht und was nicht. Ich fühlte mich noch nicht so weit und so startete ich dieses Jahr zum ersten Mal.
Die Corona-Viruskrise nahm mir viel von dem, was ich mir in den letzten Jahren hart erarbeitet habe. Neue Ziele und Strategien mussten her. Ich durfte aber nichts überstürzen, alles Step by Step. Durch den Corona-Virus hat sich einiges geändert in meinem Leben, wofür ich die letzten Jahre gearbeitet habe.
Ich mache keine Wettkämpfe mehr, denn ich habe in meinem Leben schon genug gemacht. Trotzdem kann so etwas wie der Wingsforlifeworldrun eine große Motivation sein. Allein der Slogan "Ich laufe für die, die es nicht können" motiviert und Motivation kann ich in meiner Lage gar nicht genug bekommen.
Die App sollte man vorher ausprobieren und ich wurde in den Tagen davor auch mehrmals daran erinnert. Jedoch jedes Mal, wenn ich unterwegs war, habe ich darauf vergessen.
Ich bin mit den derzeit herrschenden Regeln überfordert und selbst mich im Freien bedarf einer Aufmerksamkeit, die für das Gehirn zu viel ist. Wo ich normalerweise abschalten kann und mich nur aufs Gehen konzentriere, arbeitet mein Gehirn jetzt auf Hochtouren. Dazu aber später mehr.
Der Lauf, bzw. das Gehen, bin ich ja gewohnt. Dass ich die Wochen zuvor weniger gemacht habe, spürte ich. Mein Weg führte mich auf Nebenstraßen durch Judendorf, eigentlich flach, aber eine Eisenbahnunterführung ließ meine Durchschnittsgeschwindigkeit beim folgenden Anstieg merkbar sinken.
Mein Ziel, die 5 km Marke zu erreichen, erreichte ich nicht ganz, dass virtuelle Catcher Car holte mich nach 4,71 Kilometer oder 50 Minuten und 15 Sekunden ein. Das waren aber immerhin 5,6 km/h Schnitt. Mein Ziel habe ich zwar nicht erreicht, bin aber damit zufrieden, denn mein größtes Ziel wieder Gehen zu lernen habe ich erreicht. Jetzt fehlt nur mehr Laufen!
Ab 6 km/h ist zum Überlegen, ob ein langsamer Dauerlauf nicht besser wäre. Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Die Muskelschwäche lässt ein schwammiges Gefühl zurück und bei jedem Schritt stampft es meinen Körper, nach der Flugphase wo beide Beine vom Boden entfernt sind, in den Asphalt.
Nach 5 - 10 Schritten im Laufversuch, bin ich froh, wieder gehen zu können. Mein ganzes Körpersystem, inklusive Gehirn und Koordination, kommt dabei durcheinander. Die Muskeln werden dabei auf eine Art angespannt, die es mir nicht erlaubt, danach überhaupt noch zu gehen.
Meine Bewegung wird unkontrolliert und ich muss mich hinlegen. Hinsetzen geht auch, aber hinlegen ist besser. Nur so ist eine Erholung gewährleistet. Überschreite ich diese Phase, auch beim Gehen, kann es schwerwiegende Folgen haben.
Es heißt, mich auf die kommenden Monate vorzubereiten. Da meine Rehabilitation besonders körperlich bezogen ist, war das Ziel für den Lauf, an meiner Motivation zu arbeiten, wieder in die Spur des täglichen Lebens zu kommen.
Neue Strategien, Ziele und anderes mussten definiert und gefunden werden. Das alles ergibt Motivation für das Training und Tun. Und das ich tun möchte, steht außer Zweifel.
Das alles schreibe ich mir in ein Heft, unterteilt in Monatliche, Wöchentliche und tägliche Ziele, aber auch, was ich dafür zu tun habe. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, ein analoges Heft zu benutzen. Schreiben mit einem Stift gehört nämlich mit zu meinen Zielen, wie auch das Trainieren meiner Finger.
Die Zeit der Krise nutze ich auch, um meinen Blog neu aufzusetzen. Mein Sohn hat mir den Blog neu programmiert. Dazu ist auch ein Überarbeiten der Artikel notwendig geworden. So habe ich mir am Abend nach dem Wingsforlifeworldrun meine ersten Blogartikel beim Überarbeiten durchgelesen, die von meiner Rehabilitation und den Tagen im Krankenhaus handeln.
So wurde ich daran erinnert, von wo ich herkomme. Wieder Gehen zu können, war vor vier Jahren mein Wunschtraum, den ich mir mit dem Absolvieren von mittlerweile drei Caminos in den letzten zwei Jahren erfüllt habe.
Allerdings ist Gehen, nicht gleich Gehen. Mein Gehen ist eigentlich besser mit dem Wort "Fortbewegen" beschrieben. In Wirklichkeit kämpfe ich noch um jeden Meter, auch wenn es von Außen nicht so ausschaut. Allerdings auf einem recht hohen Niveau. Es ist mir kaum etwas anzusehen, vor allem wenn man nicht um meine Vorgeschichte weiß. Es gibt aber mehr, als man sieht.
Fast jeder hat bestimmt schon einmal erlebt, dass Beschwerden vorhanden sind, die das Gegenüber nicht wahrnimmt. Bei mir ist es aber kein Zahnschmerz, ein Hexenschuss oder andere große Schmerzen, die niemand sehen kann. Bei mir geht es ums Gehen, die Bewegung und die Funktion des Gehirns
An für sich etwas Selbstverständliches und darum nehmen wir es auch als Selbstverständlich wahr. Bei mir beinhaltet dieses Selbstverständliche aber weit mehr. Praktisch jede Bewegung oder Gewichtsverlagerung muss bewusst angedacht werden. Da hat dann nichts Platz für anderes. Gleichzeitig einem Gespräch folgen und mich zu Bewegen ist eine Herausforderung. Eine meiner größten Errungenschaften der letzten Jahre war sicher, dass ich mich beim Gehen auf ebenen Boden unterhalten kann.
Ein Beispiel für Bewegung andenken ist mein rechter Arm, gehandicapt durch die Hemiparese (einseitige Lähmung). An für sich gut unter Kontrolle gebracht, merkt man bei der Bewegung nichts. Kommt mir jemand aber am Gehsteig entgegen, bin ich so mit dem Rundherum beschäftigt, dass ich darauf vergesse, ihn mitzuschwingen, um besser im Gleichgewicht zu bleiben. Er hängt dann schlaff an mir runter, bis ich mir dessen wieder bewusst werde und ihn bewusst bewege.
Dieses Bewegen können brachte mir einen gewissen Grad an Selbstbestimmung zurück. Es war mir sehr wichtig, alles daranzusetzen, mich wieder fortbewegen zu können. Das habe ich geschafft, wenn auch mit Einschränkungen. Dadurch bin ich heute in der Lage, selbstbestimmt zu trainieren oder Einkaufen zu gehen.
Diese Selbstbestimmung hat aber ihre Grenzen. Kochen, Wäsche waschen und Putzen ist nur mit einem sehr hohen Einsatz meinerseits möglich. Normalerweise hilft mir jemand, aber in dieser Zeit der Corona-Krise bin ich darauf angewiesen, vieles selbst zu machen.
Sie hat unser aller Leben durcheinander gewirbelt. Jeder kommt anders damit zurecht oder ist anders davon betroffen. Während die einen plötzlich viel Zeit haben und eine Entschleunigung des Lebens einsetzte, sind andere Berufsgruppen davon gar nicht betroffen. Pflegedienste, Krankenhauspersonal und der Lebensmittelhandel sind extrem gefordert in dieser Zeit.
Die Auflagen bringen mir immer wieder Schwierigkeiten. Eigentlich bin ich darauf konzentriert die Bewegung beim Gehen richtig auszuführen, egal ob im Wald oder beim Einkaufen. Da ich noch immer nicht Multitasking fähig bin, kann ich mich nur auf das Eine oder das Andere konzentrieren. Die Bewegung leidet darunter und der Energieverbrauch ist weit höher. Die Tage werde wieder "kürzer" mit der Corona-Krise.
Abstand halten, Gesichtsmaske auf, nicht ins Gesicht greifen, usw. Auf viele Regeln muss ich achten. Multitasking wäre dabei von Vorteil, aber das beherrsche ich noch immer nicht. Einkaufen wird somit wieder zur besonderen Aufgabe. Es kostet mir soviel Energie, dass ich mir einen ganzen Tag dafür reserviere.
Einmal vergesse ich die Gesichtsmaske, dass andere Mal konzentriere ich mich so sehr darauf, die Maske nicht zu vergessen, dass ich nach vier Kilometern Fußmarsch zum Supermarkt draufkomme, die Einkaufsliste vergessen zu haben.
Im Supermarkt soll ich genügend Abstand zu anderen halten. Achte ich jedoch immer darauf, komme ich nicht zu den Artikeln. Meine Hochsensibilität lässt einen Einkauf zu einer hoch anstrengenden Tätigkeit werden. Nach einem Einkauf ist der Tag vorbei und ich erhole mich im Bett.
Begegnungen auf der Straße sind auch ein Thema. Mit Abstand aneinander vorbeigehen, ist auf vielen Gehsteigen nicht möglich und ein Ausweichen auf die Straße unumgänglich. Ich fühle mich wie in die erste Zeit nach dem Hirnabszess zurückversetzt. Unfähig zu handeln und eingeschränkt in der Bewegung.
Auf meine größten Erfolge seit dem Hirnabszess angesprochen, zähle ich sicher das Sprechen und Zuhören können, während dem Gehen. Wer meinen Blog oder Instagram verfolgt, weiß wie lange ich schon daran arbeitete.
Noch muss ich es Eingrenzen auf ebene und befestigte Wege. Im Gelände oder schmalen Trails habe ich noch zu viel mit mir zu tun und kann einem Gespräch kaum folgen.
Mit dem Gehen hatte ich am Camino wohl das schönste und beste Erlebnis seit dem Hirnabszess. So große Freude empfand ich wohl noch nie dabei. Keine Blasen, keine Schmerzen, nichts was diese Freude dämpfen konnte. Es war einmalig seit der Erkrankung und machte mich Hoffnungsvoll für die Zukunft, eine Zukunft die bald anders als gedacht ausschauen sollte.
Am Camino Frances habe ich noch einen Riesenschritt nach vorne machen können, um kurz darauf wieder auf einen Stand von vor ein bis zwei Jahren zurückzufallen. Allein durch den Shutdown, die Ausgangsbeschränkungen und alles auf null niederzufahren, sind viele meiner erlernten Fähigkeiten verloren gegangen oder verschüttet worden.
Durch die Muskelschwäche und die neurologische Erkrankung zähle ich zur Risikogruppe. Zwei Wochen im Bett liegen zu müssen, hätte bei mir fatale Folgen, wenn ich an mir sehe, was der Shutdown auslöste.
Am Camino freute ich mich schon auf die Zeit danach und auf weitere Zielführende Therapien. Wieder zuhause, sollte sich alles ändern. Alle Therapien abgesagt und allein auf mich gestellt, musste ich neue Ansätze finden, Strategien entwickeln und neue Ziele finden.
Bisher machte ich viel über den Computer. Diesmal wählte ich allerdings meinen alten Organizer mit Schreibstift. Hier halte ich meine Monatlichen, Wöchentlichen und täglichen Ziele fest. Habe ich sie erreicht, dann hake ich sie ab.
Dadurch möchte ich mich mehr am handschriftlichen Schreiben üben, denn meine Handgelenke und Arme sind von der Muskelschwäche sehr betroffen und ich werde sehr beschränkt darin.
Der Organizer hat den Vorteil, leicht Seiten zu entfernen oder dazuzugeben.
Ziele brauche ich, um mich zu motivieren. Ein Endziel war immer vorhanden, aber ich brauche auch Zwischenziele zur Motivation, um dieses zu Erreichen. Ist mein Ziel zu klein, ist meine Motivation zu gering. Nur wenn mein Ziel groß genug ist, werde ich es auch erreichen. Der Wingsforlifeworldrun war geeignet, um mir meiner Ziele wieder bewusst zu werden.
Viele dieser Zwischenziele sind weggefallen. Pilgern in Spanien fällt länger aus, an dem doch mehr hängt, als viele glauben. Und so ist es mit vielem. Die Ungewissheit macht mir am meisten zu schaffen, denn fast alles ist damit verbunden, was jetzt und vielleicht auch in Zukunft, nicht möglich ist.
Vorrangig ist, wie ich jetzt Leben lernen kann, ohne die Therapie zu vernachlässigen. Alle Strategien des letzten Jahres funktionieren nicht mehr. Dafür Ersatz zu finden dauert. Mein Gehirn ist damit überfordert und braucht lange, um sich auf diese neue Situation einzustellen.
Ich arbeite schon länger daran und mit dem Wingsforlifeworldrun habe ich einen Motivationsschub bekommen, auch in dieser Lage das bestmögliche für mich zu finden und herauszuholen.
Es gäbe noch viel zu schreiben über die Vorkommnisse der letzten Zeit, aber ich habe derzeit so viel mit mir zu tun, dass ich nicht dazu komme. Durch die Anforderungen ist meine Konzentrationsfähigkeit derzeit um ein vielfaches gesunken und ich muss das akzeptieren. Schreiben strengt mich sehr an, aber es ist auch eine gute Möglichkeit um mir bewusst zu machen, was gerade passiert ist.
Zum Abschluss ein Spruch von Konfuzius, der sagt:
Wer das Ziel kennt, kann entscheiden. Wer entscheidet, findet Ruhe. Wer Ruhe findet, ist sicher. Wer sicher ist, kann überlegen. Wer überlegt, kann verbessern.
Konfuzius
Ich wünsche jedem in dieser Zeit, seine Ziele zu kennen.
Heute, dem 27.03.2020, feiere ich meinen vierten Geburtstag nach dem Hirnabszess. Das Datum steht für meinen Neubeginn und der Einlieferung ins Krankenhaus. Mit dem Corona Virus hat sich allerdings viel verändert. Seit der Krise gelten meine mühsam Erlernten Routinen nicht mehr und ich muss einiges neu zulassen und lernen.
Es gibt zur Zeit keine Therapien und die Rehabilitation findet ausschließlich bei mir zu Hause in Eigenregie statt. Ein wichtiger Anker fehlt somit und ohne Anleitung muss ich mir ein Programm zusammen stellen, mit dem ich zurecht komme. Für mein Gehirn eine Herausforderung, denn die Unterstützung von Außen fehlt. Langsam und Schritt für Schritt beginne ich erneut, mich und das Leben auszuloten.
Es begann am 27.März 2016. An diesem Tag wurde ich mit der Diagnose Hirnabszess ins Krankenhaus eingeliefert. Einen Monat wurde ich auf der Intensivstation behandelt. An diese Zeit habe ich nur bruchstückhafte Erinnerungen. Sehr viel später erfuhr ich erst, was sich alles zugetragen hat.
Noch weitere vier Monate verbrachte ich auf der Normal- oder Reha-Station. Praktisch rund um die Uhr bekam ich Infusionen mit Antibiotica, fünfmal am Tag, jeweils drei Flaschen. In den kurzen Pausen dazwischen bekam ich Mobilisation und wurden erste Reha-Maßnahmen gesetzt. Ich lernte die Basis des Gehen und der Bewegung.
Ab September war ich wieder Zuhause, im vertrauten Umfeld der Familie. Schwach und Kraftlos war mein Tagespensum 50 - 100 Meter gehen, danach ging nichts mehr.
Statt wieder daheim, war ich das dritte "Kind". Alles neu zu lernen, war auch für meine Familie eine Belastung. Jede Bewegung war gleichzeitig Therapie. Darum tue ich mich auch heute noch schwer, nicht in allem was ich mache, Therapie zu sehen.
Im Dezember ging es auf Reha, wo ich meinen 50. Geburtstag "feierte". Nach vier Wochen Stationärer Therapie war ich am Limit. Ich brauchte vier Monate, bis ich mich davon erfangen habe. Allerdings benutzte ich danach nie mehr einen Rollstuhl.
Im Mai 2017 begann ich meinen Blog und auf Instagram zu schreiben, was auch ein Teil meiner Rehabilitation war. Das Schreiben hilft mir bis heute. Allerdings ist es mir noch nicht gelungen, das eine oder andere Trauma aufzulösen.
Im Sommer machte ich dann meine zweite stationäre Rehabilitation. Im Herbst konnte ich bereits zwei bis drei Kilometer weit gehen, allerdings mit vielen Pausen. Ich kämpfte, bildlich gesehen, um jeden Milimeter.
In den 200 Meter entfernten Wald ging es bergauf und ich versuchte jedesmal ein paar Meter höher zu kommen. "Never give up", entstand in diesen Tagen.
Ende des Jahres begann ich wieder zu Denken, allerdings hatte ich kein Kurzzeitgedächtnis mehr und konnte nichts aufbauendes Denken.
Es wurde ein sehr gemischtes Jahr. Die Trennung von meiner Lebensgefährtin, mit der ich immerhin zwanzig Jahre zusammen lebte und zwei Kinder habe, warf mich fast an den Anfang zurück. Ich bekam große gesundheitliche Probleme, noch konnte ich es gedanklich verarbeiten.
Im Juni entschloss ich mich, trotz der gesundheitlichen Schwierigkeiten, zum Jakobsweg nach Spanien zu fahren. Ich kam weiter als gedacht, aber nach rund 500 Kilometer musste ich in Astorga abbrechen, denn Ende Juli stand mein dritter Reha-Aufenthalt bevor. Die sechs Wochen in der Reha-Klinik brachten mich wieder an, bzw. übers Limit.
Nach wenigen Tagen Erholung, fuhr ich zurück zum Camino France, der eine andere Art der Reha für mich war und beendete ihn in Finesterre am Meer.
Judendorf wurde meine neue Heimat und ich brauchte lange (eigentlich bis heute noch), um einen eigenen Haushalt zu gründen. Statt einer stationären Reha ging ich diesmal über drei Monate hinweg zur Physio- und Ergotherapie. Das half mir besser, wie ein sechswöchiger Reha-Aufenthalt. Das größte Problem für mich, war der noch immer auftretende Schwindel.
Im Juni und Juli war ich wieder am Jakobsweg unterwegs, diesmal am Camino Norte. "Gehen als Medizin", bekam für mich eine immer größere Bedeutung. Wieder Zuhause trainierte ich vor allem weiter die Bewegung, denn ich merkte, dass mir die Umfänge und vielen Wiederholungen beim Gehen gut taten. Außerdem wird das Gehirn mittrainiert.
Gleichzeitig begann ich im Spätsommer eine Traumatherapie und nahm psychologische Hilfe in Anspruch. Ich hatte mich zwar in allem verbessert, musste gleichzeitig aber akzeptieren, dass Verbesserungen zwar da waren, aber nicht in dem Umfang, wie ich es mir gewünscht hätte.
Der Jakobsweg Weinviertel ließ mich noch einmal das Gehen intensiver erleben.
Anfang des Jahres bekam ich in der Ergotherapie die Aufgabe, auch öfter einmal etwas NICHT unter dem Mantel der Therapie zu machen. Hin und wieder gelang es mir, aber der Beweggrund bestand doch meist aus Therapie. Mit Behinderung das Leben wieder zulassen können, wurde immer wichtiger.
Da ich Postler war, wusste ich, "Aufgeben tut man nur einen Brief!", also habe ich nie aufgegeben. Darum arbeitete ich weiter am Gehen, in der Bewegung, im Denken und besonders in der Bewusstseinsbildung. Den langsamen Fortschritt lernte ich zu akzeptieren.
Im Februar fuhr ich erneut zum Camino Frances. Gehen nicht nur als Therapie zu sehen, war meine Herausforderung. Es gelang auch oft und ich hatte große Freude am Gehen. Es ist kaum zu beschreiben und ich wollte gar nicht aufhören. In einem für meine Verhältnisse, nach dem Hirnabszess, super Zustand, kam ich zurück.
Eine weitere vier Tage lange Wanderung am Wiener Wallfahrerweg nach Mariazell, ließ mich langsam wieder in der Heimat ankommen.
Gleich darauf begann die Corona Virus Krise und stellt meine mühsam und über lange Zeit erlernte Routinen auf den Kopf. Statt soziales Leben lernen, trat wieder Soziale Distanz in mein Leben. Wie auch den Hirnabszess vor vier Jahren, kann ich es nur hinnehmen und versuchen, wieder eine neue Struktur in mein Leben zu bekommen.
Ich habe den 27. März als meinen zweiten Geburtstag genommen, weil mit der Einlieferung ins Krankenhaus mein 2. Leben begann. Ich feiere diesen Geburtstag für mich, denn ich bin dankbar, ihn bereits zum vierten Mal erleben zu dürfen!
Mit dem Camino Frances im Winter und dem Wiener Wallfahrerweg konnte ich noch zwei Pilgerwege vollenden, bevor der Coronavirus Österreich und die Welt stilllegte.
So wie ich vor ziemlich genau vier Jahren stillgelegt wurde, passiert es auch dieser Tage mit der Mehrheit von uns. "Das Leben neu kennen lernen", seit vier Jahren meine Aufgabe, ist es jetzt auch für die meisten Menschen eine Herausforderung geworden.
Mich selbst hat es auf die Zeit nach dem Hirnabszess zurückgeworfen. Im letzten Jahr bekam ich die Aufgabe, mich wieder unter Menschen zu begeben und das Sozialleben wieder zu lernen. Jetzt ist es genau umgekehrt.
"Socialdistance" zu praktizieren, verwirrt mein Gehirn. Ich gebe mir Zeit, um all die Anforderungen zu verstehen. Das Gehirn gibt mir das Tempo vor, alles zu verstehen und in meinen Alltag integrieren zu können.
Für mich besteht jetzt die Aufgabe, trotz des Abstand halten nicht in die soziale Einsamkeit zurück zu fallen. Seit einem Jahr arbeite ich daran, das Leben wieder zuzulassen zu können und gedanklich nicht in allem bei Rehabilitation und Therapie zu sein.
Das Pilgern hat mir bisher am meisten dabei geholfen, denn in der Normalität des Gehens findet, fast unbemerkt, auch Therapie statt. Gerade das soziale Leben kann ich nur mit einer entsprechenden Geschwindigkeit neu lernen, die meinem Geist angepasst ist. Mich auf Menschen einlassen, in einem Umfang, der mir gut tut und mich nicht überfordert.
Allerdings sollte sich das nach dem Wiener Wallfahrerweg ändern. Da ja eigentlich noch Winter ist, traf ich auf diesem Weg nur wenigen Menschen. Nach der Rückkehr sollte sich das noch dramatischer verstärken. In diesen Tagen kam dann das Wort "Socialdistance" auf. Für mich schlimm, da ich ja "Sozialnähe" üben sollte. Da ich in diesen ersten Tagen der beginnenden Corona-Krise aber in Wald und Wiese unterwegs war, konnte ich mich auf das später Folgende langsam einstimmen.
Zusammen mit Alexander Rüdiger startete ich am äußersten Stadtrand von Wien, in Kaltenleutgeben, am 12. März und wir gingen bis 15. März. Mit einigen Schritten ging es über die Stadtgrenze und wir waren im Wienerwald. Bis auf wenige Begegnungen, waren wir vollkommen alleine. So nahe der größten Stadt Österreichs, war so wenig los. Mit jedem Tag sollte es aber noch weniger werden.
Am ersten Tag pilgerten wir von Kaltenleutgeben bzw. Perchtoldsdorf nach Weissenbach an der Triesting. 30 Kilometer, meistens durch Wald. In Heiligenkreuz machten wir Pause im Stiftskeller. Zum Pilgern und Gehen gehört auch Genuss, der hier in köstlicher Weise in Form von hervorragenden Gerichten zelebriert wird. Für uns das letzte Mal, vor dem Beginn des Ausnahmezustandes. Wir besichtigten noch die Kirche und dann ging es in die zweite Hälfte der Strecke.
Über den Peilstein erreichten wir am späten Nachmittag Weissenbach. Die großen Fabriken überraschten uns, unter denen sich auch Weltmarktführer befinden. Im einzig geöffneten Gasthof nahmen wir ein Zimmer. Wir bekamen erste Diskussionen um den Corona Virus mit. Es schien doch schlimmer zu werden, als angenommen.
Einzig für den zweiten Tag war Regen vorhergesagt. Allerdings gab es auch starken Wind der den Regen verblasen hat und so gab es nur Vormittag ein paar Regentropfen. Der Weg führte über das Kieneck und weiter nach Rohr.
Über Wurzeln und Steine stiegen wir höher. Hier merkte ich wieder, wie unterschiedlich Gehen sein konnte. Solange ich einen Fuß vor den anderen setzen, ja eigentlich schleudern, konnte, blieb es einfach. Musste ich jedoch ein Bein anheben oder knapp Kniehoch steigen, so setzte mir die Muskelschwäche Grenzen. Selbst steile Hänge versuche ich in viele kleine Schritte zu zerlegen, um das Steigen zu verhindern.
Pilgern funktioniert deswegen so gut für mich, weil es im Grunde nur Gehen und kein Steigen ist. Die Strecken sind meist so, dass auch schlecht trainierte Menschen meist zurechtkommen. Daher ist auch das Hochgebirge noch nichts für mich, denn dort ist Steigen gefragt. Ich trainiere natürlich auch zu Hause, dass Treppen steigen, habe aber bisher nur minimalen Erfolg.
Durch traumhafte Landschaft geht es weiter und ich bemerke wieder, wie gut mir die Natur tut. Umso länger ich mich darin aufhalte, umso besser wird auch meine Wahrnehmung. Der Schwindel wird weniger, die Konzentration ist besser und das Gleichgewicht fühlt sich stabiler an. Kann ich längere Zeit in der Natur verbringen, fühle ich mich einfach besser. Nur wenige Augenblicke in der Stadt können reichen, um dieses Gefühl zu verlieren und in einen inneren Alarmzustand zu verfallen, als ob mein Leben bedroht wird.
Verbessern lässt es sich, indem ich mich öfter der Stadt aussetze, sondern indem ich das gute Gefühl in der Natur verlängere und dadurch verbessere. Es geht aber nur langsam, Schritt für Schritt voran. Wahrscheinlich auch deswegen, weil es (mir) nicht möglich ist, solange in der Natur zu bleiben.
Auf einem meiner nächsten Pilgerwege möchte ich versuchen, im Freien im Schlafsack zu nächtigen. Ich bin mir sicher, gesundheitlich auf einen nächsten Level zu kommen. Aber diese Gedanken, bleiben im Moment Gedanken. Der Coronavirus hat anderes mit uns vor und für mich heißt es, mit dem Nicht-Gehen und Zuhause bleiben, umgehen zu lernen.
Die Nachricht von Hamsterkäufen erreichte auch uns. Im örtlichen kleinen Kaufhaus bemerkten wir allerdings nichts davon und wir waren gleich darauf wieder in der Einsamkeit der Berge unterwegs. Jetzt abzubrechen, wäre mit einem unglaublichen Aufwand verbunden gewesen und hätte nichts gebracht. Wir entschieden uns weiterzugehen, alles andere hätte nichts gebracht.
Eine ordentliche Verkehrsverbindung war erst wieder ab Mariazell möglich. Keine Einkehrmöglichkeiten, keine Menschen am Weg und nur Berge um uns herum, ließen einen an die Wildnis Kanadas denken. Tatsächlich waren wir nur 20 Geh Stunden von Wien entfernt.
Von Mariazell aus braucht man ca. 4 Stunden mit den Öffis oder zwei Stunden mit dem eigenen Auto. Als Pilger misst man Entfernung mit der Zeit, die man braucht, um dorthin zu Gehen. Daher war alles weit weg. Nach Hause zu gehen, bedeutete mindestens einen Tag durchgehend zu gehen.
Also beschlossen wir den Wiener Wallfahrerweg bis nach Mariazell zu Pilgern und dann den Heimweg anzutreten.
Der Camino ist in mir noch lebendig, allerdings hat mir ein Tag Paris gezeigt, wo ich wirklich stehe. In der Stadt werden meine Defizite in der Bewegung und der Aufmerksamkeit sichtbarer. Sämtliche Sinne sind aufs äußerste angespannt und die Stadt fordert ihren Tribut. Auch daheim ist es nicht mit dem Camino vergleichbar oder mit dem Anfang vor vier Jahren.
Das größte Therapie Zentrum der Welt, der Camino, hat mir allerdings sehr geholfen das Leben wieder ein Stück mehr kennen zu lernen. Diese Verbesserung geht in Mikroschritten vor sich, wobei, auch die Gewöhnung daran ist eine Verbesserung.
Nach einem Monat praktisch ständig in der Natur, holt es mich in Paris in die Wirklichkeit zurück. Ich bin unfähig, normal durch die Stadt zu gehen. Mit dieser Hektik komme ich kaum zurecht. Es ist ein Haken schlagen, wie ein Hase, ansonsten würde ich andauernd mit jemanden kollidieren.
In all dem Wirbel fällt mir ein Blinder auf. Er sucht seinen Weg durch all die vielen Menschen und dem Verkehr, die kaum Rücksicht auf ihn nehmen. Unbeirrt geht er seinen Weg, behindert von falsch parkenden Autos und Fußgängern, die ihn fast umrennen. An einer Ampel helfe ich ihm über die Strasse. Ein halb am Zebrastreifen parkendes Auto erschwert es uns. Er kennt diesen Weg, aber so etwas ist selbst für ihn nicht leicht.
Er ist überrascht, dass sich jemand um ihn kümmert und wirft mir ein freudiges "Thank you!" entgegen. Ja, Behinderte verstehen sich leichter, welche Hindernisse sich uns in den Weg stellen und uns behindern. Wenige Worte reichen aus, um sich zu verstehen. Er scheint zu spüren, dass auch mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Ich bewundere ihn, sich auf diese Strassen hier zu wagen, ohne sehen zu können.
Den weiteren Weg gehe ich dankbarer und nachdenklicher. Ich habe zwar eine gestörte Wahrnehmung und das Gehen fällt mir schwer, aber ich kann sehen. Das erleichtert mir offensichtlich vieles, dabei ist es nur eine andere Art des Handicaps. Ich denke viel darüber nach, was es für mich bedeuten würde, nicht sehen zu können. Dabei fällt mir auf, dass meine Ohren in der Nacht einen wesentlich größeren Teil meiner Wahrnehmung übernehmen. Ich werde das in Zukunft genauer beobachten und darüber berichten.
Es herrscht hier ein anderer Verkehr wie Zuhause. Überall wuseln Menschen und an die Verkehrsregeln muss ich mich erst gewöhnen. Rot für Fußgänger gilt nur, wenn ein Auto kommt. Also, auf andere Fußgänger darf ich mich nicht verlassen, denn mir fehlt der schnelle Schritt, um eine Strasse bei Rot überqueren zu können. Ich muss Achtsam sein, um meinen Weg hier zu finden. Graz ist ein beschauliches Dorf, gegen das Treiben hier.
Am Camino gehe ich stundenlang am Weg dahin und die Natur tut so gut. Da ist die Hektik von Paris etwas anderes. Daher sitze ich meist im Café, beobachte dieses Treiben oder schreibe auf meinem Handy.
Neuen Gedanken kann ich nur ansatzweise folgen. Ich möchte zwar mehr, es funktioniert aber noch nicht. Auf irgendeine Weise bin ich noch darin festgehalten, mein Leben zu lernen und einmal bereits gekonntes, wieder zu Erwecken. Wirklich Neues lässt sich kaum lernen, wie eine Sprache. Spanisch kann ich noch immer nicht, trotz meiner vielen Aufenthalte dort. Das ändert sich auch daheim nicht.
Unterwegs bin ich auf das Handy angewiesen, denn so übe ich wenigstens meine Feinmotorik. Der Touchscreen fällt mir noch immer schwer, denn dafür ist Gefühl gefragt, dass mir noch fehlt. So vertippe ich mich immer wieder, weil ich es nicht schaffe, den Finger genau auf dem Display zu plazieren.
Wieder Zuhause, kann ich das Tablet verwenden. Der Versuch, ein Video aus meinen Bildern zu machen, fordert mir einiges ab, aber ich schaffe es. Vom Filme schneiden bin ich aber noch meilenweit entfernt.
Hier meine beiden Versuche daheim, zwei Filme zu machen. Einmal ein Film darüber, jeden Tag von mir ein Foto in der Früh vorm Losgehen und ein zweiter, der meinen Weg in einer Minute vierzig zu zeigen versucht.
Es geht weiter wie bisher auch. Wieder Zuhause werde ich mich besonders dem therapeutischen Tanzen widmen. Es dauert zwar, bringt aber großartige Ergebnisse. Emotionen und Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, ist wichtig. Mich davon abzuschneiden, bringt auf Dauer nichts. Durch das therapeutische Tanzen habe ich einen ersten Zugang dazu gefunden.
Dazu gehört auch die Trauma-Aufarbeitung. Es wird seine Zeit benötigen, aber Zeit ist etwas relatives. Unterm Strich soll es mir gut gehen, auch jetzt schon.
Dazu kommt mein übliches Training daheim, für die Bewegung. Es beinhaltet einiges. Das Gehen, der Motorik-Park, die Kletterwand, der Frisbee Parcour und das Fitnessstudio. Ich habe viel erreicht bisher, aber es ist trotzdem noch mehr möglich. Das Ende ist noch nicht erreicht und ich werde auf jeden Fall weiter machen. Am Camino habe ich das Leben wiedergefunden, darauf möchte ich aufbauen. Das Feeling vom Camino daheim auch Leben zu können, dass wäre ein Ziel.
An für sich sind meine Defizite nicht sofort von Außen sichtbar, das macht es mir oft nicht leicht. Fehlt mir eine Hand oder ein Bein, so merkt es jeden sofort. Es ehrt mich, wenn man mir sagt, mir ist nichts oder kaum was anzusehen. Trotzdem ist die Behinderung noch da, wenn auch für andere nicht sichtbar. Die seelischen oder geistigen Behinderungen sind sowieso nicht ersichtlich. Daheim tue ich mich schwerer, als zum Beispiel am Jakobsweg.
Eine sichtbare Verbesserung ist für mich nicht so wichtig, obwohl sie passiert. Ich selber merke es gar nicht so. Da ich jegliche Automatik verloren habe, benötige ich viel Denkarbeit für die Bewegung. Bewege ich mich technisch sauber, so wird mir viel Energie erspart. Natürlich fallen dann meine Defizite auch nicht so auf, obwohl sie da sind. Die richtige Technik anzuwenden ist mir wichtig.
Wer glaubt mir zum Beispiel, dass ich einen Sitzplatz im Bus brauche? Da spaziere ich durch ganz Spanien und falle noch immer leicht in den Öffis um. Aber auch dafür ist Spanien gut. Mein Gesamtzustand verbessert sich, wenn auch langsam. Das viele Gehen brachte eine wesentlich bessere Körperspannung, die mir im Bus oder der Straßenbahn hilft.
Andererseits komme ich mir im Motorik-Park wie der erste Mensch vor, obwohl ich viel am Gleichgewicht auf dem Camino geübt habe. Es fällt mir schwer und ich muss fast von vorne beginnen. Allerdings merke ich die verbesserte Körperspannung, also hat sich doch einiges getan.
Oft verstehe ich meinen Körper selbst nicht. Er funktioniert so anders und entgegen aller bekannten Regeln. Es heißt einfach an den Defiziten weiter arbeiten und üben, üben und üben. Wieder daheim, beginnt alles erneut.
Es tut gut, sich mit der Frage, was sich ändern soll, in Ruhe zurück zu ziehen. Der Körper holt es sich sonst sowieso. Ich war gefangen in einem Hamsterrad und fand keinen Ausweg. Das gewohnte funktionierte nicht mehr, trotzdem gaukelte es eine vermeintliche innere und äußere Sicherheit vor.
Mein Leben war irrsinnig schnell gewesen, dass ist mir heute bewusst. Aus dieser Schnelligkeit auszusteigen, war mir unmöglich. Also besser vorher das unmögliche Möglich machen, als sich später mit einer Krankheit herumschlagen.
Manch einer beneidet mein Leben. Ich habe Zeit und konnte bisher drei Camino gehen. Dazu gehört dann aber auch die Behinderung und die Zeit im Krankenhaus. Ob dieses Gesamtpaket jemand möchte, ist die Frage? Es gibt immer einen Gegenpol, nur sieht den kaum einer (gerne). Beneidet man mich um die Zeit, so muss man auch die Behinderung mit allem drum und dran nehmen.
Da ich jetzt aus eigener Erfahrung weiß, wie so ein Neuanfang von 0 weg ausschaut, kann ich nur jedem empfehlen, die Zeit davor zu nutzen, auch wenn das nicht einfach ist oder unmöglich scheint. Mit dem heutigen Wissen um das Erlebte, hätte ich schon vorher verändert und es nie soweit kommen lassen. Allerdings ist man nachher immer gescheiter und mein Lebensweg war einfach so vorgesehen.
Einem interessanten Kurztest habe ich mich vor kurzem daheim unterzogen. Es wird grob bestimmt, über welchen Wortschatz man verfügt. Goethe soll über einen Wortschatz von 80.000 Wörtern verfügt haben. Im Alltag genügen bis zu 800 Wörter, um sich zu verständigen. Bis zu 12.000 Wörter sind allgemein ok, werden allerdings kaum benutzt. Shakespear soll in seinen Werken rund 30.000 Wörter verwendet haben.
Laut Test soll ich bereits wieder über rund 12.500 Wörter verfügen. Besonders der letzte Camino hat mir sehr geholfen, meinen Wortschatz zu erweitern. Ich habe mich zwar meist in Englisch unterhalten, aber sehr oft den Google Übersetzer verwendet und lernte so dazu. Was mir fehlt, ist das Umschreiben und Formulieren. Ich kenne zwar Wörter, kann sie aber nicht im richtigen Kontext einsetzen.
So hat sich viel getan und jetzt heißt es, diese vielen Dinge, im Leben daheim auch umzusetzen. Es sind nur kleine Schritte, aber viele kleine, ergeben einen großen. Auch nach vier Jahren heißt es weiter dranbleiben und #niemalsaufgeben !
Wenn ich den gesamten Weg hernehmen, dann hat auch diesmal wieder das "nichts denken" überwogen. Erfahrungen und Erkenntnisse brachte er mir eine Menge.
Bisher brachte jeder meiner Caminos neue und andere Erfahrungen. Es geht einher mit meiner Gesundung. Dass es Zeit braucht, ist mir mittlerweile klar geworden. Zeit hat eine andere Bedeutung bekommen.
Wenn ich jetzt vor dem Computer sitze und ich über meine Erkenntnisse schreiben möchte, dann kommt im Augenblick nichts. Es ist, wie auch sonst oft. Eine weiße Wand baut sich vor mir auf und auch meine Gedanken schauen so aus, nämlich weiß und nichts da.
Aber auch das gehört zu meinen Erkenntnissen, nämlich damit umgehen zu lernen. Es gehört zu meiner Rehabilitation, die noch lange nicht abgeschlossen ist.
Meinen Wortschatz konnte ich wieder etwas erweitern, besonders in Englisch. In der Zeit am Camino Frances traf ich niemanden aus Österreich und nur zwei Deutsche.
Es war interessant zu beobachten, wie das Gehirn arbeitet. Es begann in Englisch zu träumen und Selbstgespräche führte ich ebenfalls auf Englisch. Deutsch kam tagelang so gut wie gar nicht mehr vor. Das sind neue Erfahrungen für mich.
Die für mich schönste Erfahrung machte ich in der Meseta. Es war ein landschaftlich wunderschöner Abschnitt. Ich hörte Musik und fotografierte viel. Was sich bisher noch nie ereignete, passierte. Zu den gemachten Fotos spielte die Musik im Takt im Kopf, als ob ich beim schneiden eines Films sitze.
Es war mir bisher noch nie möglich, so gestalterisch zu denken. Ein Highlight für mich. Instagram und der Blog helfen mir darin, etwas zu gestalten. Ist ein Bericht zu groß, verliere ich den Überblick. Aber nur durch immer wieder tun komme ich weiter, wenn auch langsam.
Meinem Ziel, einen Vortrag zu gestalten, komme ich näher. Ihn zusammenzustellen ist allerdings das Eine. Dazu auch zu sprechen, das Andere. Ob das Gehirn da mitmacht, wird sich erst zeigen.
Jeder Camino bringt neue Erkenntnisse für das Gehen. Es ist so komplex, dass geringfügige Verbesserungen eine große Wirkung haben können.
Dem Ziel, mehr Automatismus in die Bewegung zu bekommen, habe ich erreicht. Noch fehlt dazu ein bisschen mehr Vertrauen, aber es geht voran.
Auf Asphalt ist es mir möglich, mich fast ungehindert mit jemanden zu unterhalten, ebenso auf ebenen Schotterpisten. Ein riesiger Fortschritt, gegenüber noch vor wenigen Monaten.
Es gelingt mir vieles immer besser. Allerdings nur, wenn es nicht zu schnell ist. Laufen funktioniert noch nicht. Beim Treppensteigen muss ich sehr konzentriert gehen. Unterhaltungen sind dabei kaum möglich.
Ein Manko ist noch die Aufmerksamkeit, wenn mehr als eines gleichzeitig beachtet werden möchte. Auf besonders steinigen Wegen muss ich auf die Füße achten und übersehe dabei in den Weg hängende Pflanzen und Dornen. Das tut manchmal weh. Multitasking geht noch immer nicht, Single-Tasking ist dafür aber zu wenig.
Den größten Fortschritt brachte aber die Sicherheit beim Gehen. Meine Knöchel sind so stark geworden, dass ich fast nicht mehr umkippe. Ein großer Vorteil beim Gehen, bin ich früher doch oft umgekippt. Das viele Training trotz Muskelschwäche hat sich ausgezahlt.
Es sind alles Dinge, die ich schon seit Anfang an Trainiere. Aber der Camino brachte alles auf eine neue Ebene. Therapie im Alltag, unter natürlichen Bedingungen. Denn auch das Leben wieder leben lernen, ist mir hier wieder gelungen.
Allerdings fehlt noch einiges, denn Emotionen und Gefühle kann ich nur beschränkt zulassen. Sie wirklich handhaben zu können, wird noch einige Zeit dauern. Diese Erfahrungen sind aber unumgänglich.
So konnte ich wieder einiges verbessern oder konnte erkennen, woran ich noch arbeiten muss. Um mich nicht misszuverstehen, ich bewege mich noch immer im einstelligen Prozent Bereich der Verbesserung. Von 0 auf 101 bewege ich mich zwischen 35 und 40. Das klingt wenig, aber ich möchte gar nicht wissen, wo ich stünde, wenn ich den Camino nicht für mich entdeckt hätte.
Damit schließe ich, denn das Schreiben ohne Tastatur, die ich ja verloren habe, geschieht mir nicht leicht.
Ich bin in Santiago de Compostela angekommen und werde einen Ruhetag einlegen. Den zweiten auf meiner Reise. Die Gelegenheit, mit Bildern über diesen Wintercamino eine Rückschau zu halten.
Dieser Winter ist kein normaler Winter. Kein Schnee, moderate Temperaturen und nur ein paar Tage, an denen es geregnet hat. Es gibt Bilder vom Winter, da schaut's anders aus.
...und jetzt geht's weiter nach Finesterre!
Vier lange Tage auf der Meseta liegen hinter mir, in denen das Gehen ein große Rolle spielte und ich erfuhr viel Freude und Glücklichsein am Weg. Danach kamen die Berge, es war einfach herrlich, wie die Füße mich trugen.
Nach 450 Kilometern habe ich noch keine einzige Blase am Fuß, trotz einiger sehr langen Etappen. Mit jedem Schritt spüre ich unendliche Dankbarkeit dafür, wieder Gehen zu können.
Ich kann es kaum beschreiben, wie herrlich ich mich fühle.
Wieder Gehen zu können hat eine unendlich wichtige Bedeutung für mich. Es ist ein Teil der Selbständigkeit, der fast verloren schien.
Viele Erinnerungen aus dem Krankenhaus kommen mir in diesen Tagen auf der Meseta hoch, besonders die Zeit im Krankenhaus spielt eine große Rolle.
Ich brauchte damals Wochen, ehe ich das erste Mal im Krankenhaus aufstehen konnte. Ich wuchtete meinen Körper zum zwei Meter entfernten Tisch und war so schwindlig, dass ich kaum aufrecht sitzen konnte. (Link zu den Tagen im Krankenhaus)
Zentimeter um Zentimeter, eroberte ich mir in den folgenden Wochen, ja Monaten, immer mehr Raum zurück. Bis zu den ersten Schritten sollten weitere Wochen vergehen. Das Krankenzimmer konnte ich erst nach drei Monaten erstmals auf eigenen Füßen verlassen.
Viereinhalb Monate musste jederzeit jemand an meiner Seite sein, sobald ich das Bett verließ. Mit dem Rollstuhl ging es auf die Toilette oder überall dort hin, was weiter als zehn, zwanzig Meter vom Bett entfernt war.
Wieder Gehen zu können wurde mein größter Antrieb dafür, so viel zu machen. Man musste mich oft bremsen, weil ich so viel tat. Ich arbeitete am Limit, jederzeit. Ich konnte nicht aufgeben oder weniger tun. Jeden Tag ans Limit zu gehen bedeutete, jeden Tag mein Limit zu erweitern. Von Anfangs 15 Minuten täglich, konnte ich es bis ans Ende der Krankenhauszeit auf 30 Minuten erweitern.
Ein paar Mal war es zuviel des Guten. Nach wenigen Schritten klappte ich zusammen und fiel ohnmächtig um. Wie in einem Film wachte ich nach einigen Minuten auf und sah nur die Beine der Krankenschwestern um mich herum. Der Grat auf dem ich mich bewegte, war extrem schmal.
Jeder Ohnmachtsanfall bedeutete für mich drei Tage Bettruhe, in denen ich nicht aufstehen durfte. So lernte ich, mein Limit besser einzuschätzen und versuchte es zu vermeiden. Drei Tage Bettruhe waren drei Tage verlorene Zeit. Dazu kam ein vermehrter Dokumentationsaufwand und Aufregung für die Schwestern.
Das es Jahre dauern würde, bis ich wieder soweit hergestellt bin, ahnte ich damals nicht.
"Es gibt keinen Weg zum Glücklichsein. Glücklichsein ist der Weg!"
Buddha
Ich bekam des Öfteren am Camino zu hören: "Du lächelst dauernd und schaust immer glücklich aus, egal was ist?"
Ja, mehr oder weniger stimmt das. Es gibt kaum mehr etwas Unangenehmes oder etwas, dass mich stört. Natürlich habe ich auch Trauer und nicht so Schönes in mir, aber das Grundgefühl ist Dankbarkeit und Freude, dass ich überhaupt noch am Leben bin.
Die Trennung nach 20 Jahren von meiner Lebensgefährtin und dass meine Familie zerbrach, löste große Trauer in mir aus, bis heute noch. Ich hatte zu lernen, trotzdem ein glückliches Leben führen zu können, denn Glücklichsein ist der Grundstock, um wieder Gesund zu werden.
Dieses Glück fand ich am Camino wieder. Ich lernte, mein Glück nicht von anderen abhängig zu machen. Glücklichsein und Trauer schließen sich nicht aus. Wichtig ist nur, dieses Gefühl auch zu Hause weiterleben zu können.
Beim therapeutischen Tanzen lerne ich, Gefühle und Emotionen wieder zu spüren. Es hilft mir langsam, sie wieder kennenzulernen.
Ich kann nur schwer damit umgehen. Ein berührender Moment in einem Film bringt mir sofort Tränen in die Augen. Es gibt nur alles oder nichts, 0 oder 100 %.
Um emotional nicht niederzubrechen, musste ich mich Anfangs von Gefühlen abschneiden. Jetzt heißt es wieder, damit richtig umgehen zu lernen.
Sie sind nicht zu unterschätzen. Nach außen mag nichts darauf hindeuten, aber die Wirklichkeit schaut eben anders aus, denn in mich hineinschauen kann niemand. Ich verstehe, dass es verwundert, dass ich 1000 km durch Spanien am Jakobsweg wandern kann, aber im Bus nach Graz einen Sitzplatz benötige, da ich sonst umfalle.
Jeder Meter am Camino France ist hart erarbeitet. In Summe bringt mir das eine Verbesserung, die für manchen Unvorstellbar ist. Ich bewege mich in kleinsten Bereichen, aber viel von wenig, bringt eben mehr Verbesserung. Trotzdem bleiben es Kleinsterfolge, die nur in großen Abständen messbar sind. Aber es geht vorwärts, trotz andersartigen Prognosen.
Da die Defizite so vielfältig sind, kann ich mich auch hier am Tag nur einem dieser Defizite annehmen. So bekamen die Aspekte des therapeutische Tanzen einen großen Stellenwert.
Gefühle und Emotionen sind mir wichtig, sie wieder zu lernen, vor allem der Umgang mit Ihnen. Die Traumaaufarbeitung dauert lange. Zunächst die Zeit im Krankenhaus, aber besonders die Trennung, kann ich emotional noch immer nicht verarbeiten.
Der Camino ist für mich zu den Therapien zu Hause nicht mehr wegzudenken. Er ist ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, ohne den vieles nicht möglich geworden wäre. Ich treffe hier auf alle möglichen Menschen, mit denen ich mich wiederum über alles mögliche Unterhalten kann. Mit einigen wenigen kann es auch spezieller werden.
Zum Beispiel mit einer griechischen Krankenschwester, die in England auf einer Hirn-Tumor Station arbeitet.
Solche Treffen sind "zufällig" und bringen für beide Seiten enorm viel. Mir tut es gut, mich mit jemanden vom Fach zu unterhalten und sie kann von meinen Erfahrungen lernen und in ihre Arbeit einfließen lassen.
Am Ende der Meseta hatte ich das Gefühl, mir die Krankheit aus dem Leib laufen zu wollen. Ich fand so großen Gefallen am Gehen, ich wollte und konnte damit nicht aufhören. Das Gehen wurde wie zur Sucht. Andererseits ist es das einzige, was ich wirklich kann, wenn es auch noch große Konzentration erfordert.
Als es über die Berge ging, konnte ich nicht anders, als weiterzumachen. Erst ab Ponferrada begann ich kürzerzutreten und kurze Etappen einzulegen.
Die ersten Tage hier waren wunderschön. Ich stehe knapp über hundert Kilometer vor Santiago und gehe teilweise nur 15 Kilometer am Tag.
Die Landschaft ist zauberhaft schön. In Samos hatte ich ein besonderes Erlebnis. Ich übernachtete in einem mehrere hundert Jahre alten, riesigem Kloster.
Es gab auch einen Nachteil, denn es gab keine Heizung und es war eine der kältesten Nächte seit langem. Die alten Klostermauern hielten die Kälte im Inneren, denn im Freien war es wärmer als drinnen.
Es wurde trotzdem ein einzigartiges Erlebnis, dass ich zusammen mit Frank aus USA, zusammen erlebte. Es ist immer wieder schön, in so alten Gemäuern zu übernachten.
Der Abstecher nach Samos brachte ein wenig mehr an Kilometern, aber war jeden Schritt wert. Tolle Natur entschädigte für den Aufwand.
Erste blühende Bäume und Schnecken am Boden, brachten den Frühling näher. Es waren tolle Momente am Weg. Wieder ergriff mich ein Glücklichsein, dass mich dankbar den Weg gehen ließ.
Noch bin ich nicht am Ziel und es warten noch wunderschöne Tage, im Herzen von Galizien. Mein Ziel, von diesem Camino wieder etwas für meine Gesundheit mitzunehmen, habe ich bereits erreicht. Ich weiß, woran ich arbeiten muss und was noch nicht so gut funktioniert.
Bis dahin versuche ich noch in Spanien das Leben und die Therapie unter einen Hut zu bekommen und zu genießen!
Der Ausbruch zum Winter Camino gibt mir genau das, was ich derzeit brauche. Die Bestätigung, dass in meiner Rehabilitation doch was weiter gegangen ist. Die Fortschritte sind so klein, dass ich einen Ausbruch aus meinem Leben von zu Hause brauche, um sie zu erkennen.
Der wichtigste Unterschied zu noch vor einem Jahr ist der, dass ich trotz Handicaps beginnen kann zu Leben. Es besteht nicht mehr nur aus Therapie und Training. Hier am Camino fällt es mir besonders leicht, das Leben zu leben.
Es begann mit der Pyrenäen Überquerung. Es war wieder die gleiche Unsicherheit des "Was wird mich erwarten", wie beim ersten Mal. Nur das es diesmal nicht direkt über den Berg führte, sondern den Winterweg außen herum, der nur wenig über 1000 Meter hochgeht.
Es tut so gut, gehen zu können, ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Jede Minute, Stunde und Wochen des oft harten Trainings werden mir hier zurückgegeben. Das Dranbleiben hat sich trotz Muskelschwäche ausgezahlt. Dieser Ausbruch tut gut und bringt mich wieder weiter.
Es geht noch immer nicht gerade leicht zu gehen, aber im Vergleich zum ersten Camino Frances sind Welten Unterschied. Besonders der Tunnelblick und die Wahrnehmung ist so viel besser. Ich kann die Landschaft noch besser genießen und nehme alles viel besser wahr.
Einzig die größeren Städte tun mir noch immer nicht gut. Den Spaziergang durch Logrono habe ich abgebrochen und mich in ein Cafe gesetzt. Aufkommende Gangunsicherheit und Schwindel lassen mich vorsichtig sein. Zu viele Reize prallen auf mich ein und ich bin froh, die Stadt am nächsten Tag wieder verlassen zu können.
Das Entscheidenste sind die vielen geschlossenen Herbergen. Es sind an für sich genug offen, aber sie beeinflussen die Weglänge. Entweder entscheidet man sich für 20 - 25 Kilometer, oder das doppelte. Im Sommer ist im Schnitt alle 5 - 10 Kilometer eine offene zu finden.
Außerdem sind weniger Bars geöffnet, aber immer noch genug, um versorgt zu sein. Es ist auf jeden Fall besser, wie im Juni am Camino Norte, trotzdem ist es eine Umstellung.
Ja, die Bekleidung. Das Wetter ist wärmer als gedacht. Das macht meinen Rucksack schwerer. Lange Unterwäsche, Daunenjacke, Handschuhe und warme Haube muss ich tragen, anstatt das ich es anhabe. Dazu habe ich eine Thermosflasche bis Logrono mitgetragen und nie gebraucht.
800g habe ich per Post nach Hause geschickt, denn jedes Gramm zählt. Einiges Zeug trage ich weiter mit, denn noch warten die Berge und das Wetter kann ja schlechter werden. Dann tut es gut, ein bißchen Reserve zu haben.
In Erinnerung bleibt mir der Tag nach den Pyrenäen. Nur mit Kurzarmtrikot war es mir einige Zeit möglich, in der Sonne zu gehen und das im Jänner.
Außer Schnee hatte ich bisher alles. Regen wechselte immer wieder mit Sonne ab. Dabei war auch ein wolkenloser Tag mit herrlichem Sonnenaufgang. Der Weg ist allerdings sehr matschig und feucht. Die Gore Text Schuhe sind bisher eine gute Wahl. Ob sie auch im Schnee eine gute Wahl sind, wird sich noch zeigen.
Alles in allem hat sich der Ausbruch aus meinem Leben zu Hause bisher mehr als gelohnt!
"Niemand ist die ganze Zeit mutig. Das Unbekannte ist eine ständige Herausforderung, und Angst ist Teil der Reise. Was ist zu tun? Sprich mit dir. Sprich alleine. Sprechen Sie mit sich selbst, auch wenn andere denken, Sie seien verrückt geworden. Während wir reden, gibt uns eine innere Kraft die Sicherheit, die Hindernisse zu überwinden, die überwunden werden müssen. Wir lernen Lehren aus den Niederlagen, die wir erleiden müssen. Und wir bereiten uns auf die vielen Siege vor, die Teil unseres Lebens sein werden. Und nur zwischen Ihnen und mir wissen diejenigen, die diese Angewohnheit haben (und ich bin einer von ihnen), dass sie nie alleine reden: Der Schutzengel ist da, hört zu und hilft uns beim Nachdenken."
Paulo Coelho
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"Das Aufbrechen ist am schwersten. Unterwegs zu sein, ist leicht und schön!"
Dieser Spruch beinhaltet viel Wahrheit. Ich habe mich für die Reise zwar entschieden, allerdings habe ich die Vorbereitung darauf unterschätzt.
Mein Gehirn arbeitet noch schwerfällig und die achtsame Auswahl der Bekleidung nötigte mir viel Kraft ab. Das habe ich unterschätzt. Ich bin mir zwar recht sicher darin, was ich brauche, aber mein System kommt damit durcheinander, wenn ich Alternativen suchen und ausprobieren muss. Da ist der Sommer leichter.
Es ist diesmal anders, als sonst. Es kommt viel unbekanntes auf mich zu und vor allem, wie ich es handhaben werde. Alles außerhalb des Gewohntem fühlt sich neu, aber auch erschreckend an.
Aufbrechen zu können ist Freiheit. Schöner ist es noch, bereits unterwegs zu sein. Denn zum Aufbrechen gehört vorher einiges dazu. Hat man das überwunden, ist man unterwegs.
Ich kann mich noch an meine Aufbrüche zu Extrem-Radrennen oder Bergfahrten erinnern. Alles musste bedacht sein, vom Werkzeug bis zum kleinsten Ding. Ob in die Sahara, am Denali oder der Crocodile Trophy, alles war Schwerstarbeit bis zum letzten Augenblick.
Denn hatte man etwas vergessen, konnte man es nicht um die Ecke kaufen. An solchen kleinen Dingen konnte der Erfolg oder das Scheitern hängen.
Bisher machte ich mir vor dem Camino auch Gedanken, allerdings waren sie noch nie so weitreichend wie bisher. Ein Camino im Winter ist eben doch was anderes und für mich besonders.
Es ist für mich sehr schwer abzuschätzen, was ich wirklich brauche und das ich das dann in der richtigen Weise integrieren kann. Dazu ist ein fortführendes Denken notwendig. Der Wintercamino brachte mich dabei in neue Sphären des Denkens und ist schon vor dem Losfahren eine Herausforderung.
Wichtig ist, dass ich mich nicht unter Druck setze, nicht verbissen versuche alles umzusetzen und mir auch die Möglichkeit offen halte, nach Hause zu fahren, sei es, weil es mir doch zu kalt ist oder wegen anderer Gründe.
Ob die Bekleidung reicht, wird erst der Weg zeigen. Meine früheren Erfahrungen als Bergsteiger und Extremsportler helfen mir nur mehr bedingt.
Wenn ich an meinen Sieg beim Iditasport Race in Alaska denke, hat mein Empfinden damals nichts mehr mit dem heute zu tun. Ich wusste damals, im Gegensatz zu heute, sehr genau wo mein Limit lag.
Mit diesem Limit an Kleidung war ich in der Wildnis Alaskas unterwegs. Fehler durften nicht passieren. Bei meinem zweiten Platz war ich sogar Temperaturen von bis zu -35° ausgesetzt.
Heute muss ich meinen Körper noch einmal neu kennenlernen.
Es heißt, mich langsam wieder ans Leben herantasten, dass geht oft nur über's Limit. Würde ich das seit drei Jahren nicht tun, dann wäre ein Weiterkommen unmöglich.
Die Spange zwischen dem jetzt Zustand und einem Pflegefall ist sehr gering, auch jetzt noch.
"Never give up!", ist auch heute noch mein Leitspruch.
Da ich von der Erwerbsunfähigkeitspension leben muss, bleibt nicht viel Geld für die Ausrüstung über. Mittlerweile bin ich allerdings Spezialist für doch einigermaßen Qualität, aber auch Billig-Ausrüster. Die noch im Abverkauf, wird Pilgern leistbar.
Für den Wintercamino habe ich mir zusammengerechnet, daß meine Hauptbekleidung rund € 350.- ausmacht. Zum Spass habe ich mir angeschaut, was die in etwa gleiche Ausrüstung bei einer Markenfirma gekostet hätte. Es hätte im Vergleich dazu € 1.550.- gekostet.
Ok, ich habe nichts von Mammut, Salewa oder Skinfit, trotzdem stehe ich nicht weit hinten an. Meine Berghose begleitet mich jetzt schon am dritten Camino und hat im Ausverkauf € 49.- gekostet.
Meine Fleecejacken kosteten zwischen € 20.- und € 40.- und die Unterleibchen habe ich im Ausverkauf um € 5.- erstanden.
Das teuerste ist die Regenjacke und -hose, die ich noch zu Trailrunningzeiten erstand. Sie sind superleicht und sie alleine würden beinahe mein Gesamtbudget ausmachen. Zum Glück sind mir die Sachen aus früherer Zeit erhalten geblieben.
Auch das restliche Material hatte ich größtenteils zu Hause. Neuanschaffungen waren kaum nötig. Einzig der Schuhverbrauch ist groß. 5 Paar Trailrunning Schuhe habe ich bisher in den letzten dreieinhalb Jahren aufgebraucht. Ein Paar hält etwa einen Camino lang durch, also rund 1000 Kilometer.
Dann sind sie allerdings durchgegangen und am Limit. Der Hoka hatte allerdings auch am Ende noch eine sehr gute Dämpfung, obwohl oben das Mash eingerissen ist. Trotzdem bleibe ich der Marke treu und verwende ihn auch jetzt im Winter, nur das GoreTex Modell. Zusammen mit Gamaschen sollte er auch für den Camino einsetzbar sein.
Ich musste mich dann schlussendlich entscheiden, was ich wirklich mitnehme. Es war ein Grund, warum ich das Aufbrechen diesmal so schwer empfand. Ich gehe praktisch jeden Tag und bei jedem Wetter, allerdings fühlte ich mich fast immer anders. So war es schwer herauszufinden, was ich wirklich benötige.
Schlussendlich entschied ich mich für Sicherheit und nehme etwas mehr mit, als ich vielleicht brauchen werde. Das schlägt sich allerdings in einem höheren Rucksackgewicht nieder, das höher als mein Limit ist.
Mit der Körperschwäche muss ich einen Kilo mal drei rechnen. Deshalb habe ich immer versucht, unter 5 Kilo Gesamtgewicht für den Rucksack bleiben.
Diesmal sind es aber 8 Kilogramm, inklusive Verpflegung. Das ist recht schwer und ob es möglich ist, wird der Weg zeigen. Ich lasse mich überraschen und es gibt ja die Möglichkeit, etwas heim zu schicken oder herzuschenken.
Das Aufbrechen so schwer sein kann? Aber nach vier Jahren kann ich es mir schon zutrauen!
Es wird interessant, ob meine heutigen Gefühle und der Beweggrund den Camino zu gehen, in zwei Monaten die Selben sein werden?
Ich komme gerade vom therapeutischen Tanzen in Frohnleiten und möchte das hier Gelernte mit dem Gehen am Jakobsweg verbinden. Die verschiedenen Gefühle und Emotionen die da hochkommen, sind eine gute Basis, um mich auch am Camino darum zu kümmern.
Dieser Camino wird wieder vieles für mich bereithalten. Ich arbeite seit langem an mehr Automatik im Leben und besonders im Gehen. Gerade das therapeutische Tanzen unterstützt mich darin. Ich bin schon mehrmals nach der Therapie ein Stück nach Hause gegangen und habe versucht, dass eben gelernte dabei im Gehen umzusetzen.
Rhythmus und mich besser zu spüren, wird mich also auch am Camino Frances begleiten. Den Rhytmus im Gehen umzusetzen, daran versuchte ich mich schon öfter und es ist total interessant, was man dabei alles spürt. In der Gesundheit dreht sich alles um Gefühle und Emotionen, die mir gut tun und mir weiterhelfen. Im Gegensatz dazu komme ich schneller darauf, was mir nicht gut tut.
Wie ich es am Jakobsweg umsetzen kann, das wird die Zeit zeigen, aber ich bin optimistisch, dass es mir hilft. Manch einer meint, ich mache zuviel. Das glaube ich aber nicht, denn es ist nicht nur eine einzelne Therapie, die mir helfen kann, sondern viele in der Gemeinsamkeit sind es.
Jeder Camino hält etwas anderes für einen bereit und man weiß eigentlich nie was. Trotzdem mache ich mir schon Gedanken darüber, was ich dort überhaupt möchte.
Denn ein Camino im Winter braucht eine gewisse Vorbereitung für mich, da ich nicht so schnell reagieren oder eben auch Sachen beschaffen kann. Für alles brauche ich eine längere Zeit des Überlegens und Abwägens.
Gerade das Thema der Bekleidung hat mich sehr beschäftigt. Reagiert mein Körper doch so viel anders wie früher. Deswegen komme ich auch auf ein Gesamtgewicht von etwas über sechs Kilogramm für den Rucksack, da ich doch mehr Sicherheiten punkto Bekleidung brauche, als im Sommer.
Ein Beweggrund ist der, dass ich jetzt über sechs Monate Therapien hinter mir habe, in der ich speziell am Denken und der Psyche arbeitete. Das ist zwar gut, aber das Rundherum bzw. der Alltag stresst mich in letzter Zeit immer mehr. So habe ich mich entschieden, zum Jakobsweg zu fahren, um im Alltag zu Therapieren.
Verschieden Jakobswege konnte ich bereits kennen lernen und die verschiedensten Erfahrungen dabei machen. Im Grunde nehmen ich mir nichts vor, aber das Tanzen hat mich schon auf eine Idee gebracht. Übertrieben gesagt, tänzelnd gehen und mich dabei beobachten, weiche Gefühle und Emotionen dabei aufkommen. Ich kann es nicht besser beschreiben, noch fehlen mir die Worte dazu.
Eine Zeit ohne Therapie gibt es seit mittlerweilen über drei Jahren nicht mehr für mich. Würde ich immer in Therapie denken, ginge das gar nicht. Denn Therapie heißt, ich funktioniere nicht und ich habe etwas zu tun, um wieder zu funktionieren.
Das kann ein Teufelskreis sein, in dem ich mich befinde. Das Leben vergesse ich darüber, obwohl ich ja lebe, ja leben muss.
Der Camino gibt mir aber Leben, obwohl ich auch dort, allerdings im Alltag, therapiere. Dazu habe ich auch Hausaufgaben, die ich erfüllen möchte, ohne dem Damoklesschwert Therapie auf mir zu spüren.
Ob und wie es gelingt, ich werde darüber berichten!