Nach genau zwei Jahren ging ich erneut zur Basilika Mariatrost. Es gab mir Gelegenheit zur Rückschau, was sich seitdem getan hat. Im September 2017 war es mein erster längerer Weg nach dem Hirnabszess.
Die Gelegenheit nutzte ich, um Rückschau zu halten. Wie ist es mir seither ergangen und was konnte ich in meiner Rehabilitation erreichen?
Der wichtigste Aspekt der mir bewusst wurde ist der, dass ich dranbleiben muss. Nicht nur für weiteren Erfolg, sondern um überhaupt meinen erreichten Level zu halten. Denn derzeit braucht mein Gehirn für alles noch so viel Energie, dass mein Körper zuwenig erhält, um wirklich aufzubauen zu können.
Nach dreieinhalb Jahren stehe ich jetzt bei 30%, um 5% weniger als ich mich noch nach dem Camino Norte eingeschätzt habe. 20 bis 30 Prozent schlechter drauf zu sein, ist in unserer Gesellschaft normal. Bei mir heißt das aber, dass ich nur knapp über Null bin. Denn auch ich habe Schwankungen und Tage wo ich nicht so gut drauf bin.
Im Sport war es wichtig, auch an schlechten Tagen noch eine gute Leistung bringen zu können. Das ist auch jetzt mein Ziel. Noch bin ich aber an schlechten Tagen kaum aus dem Bett zu bringen und alle meine Defizite sind, egal ob körperlich oder geistig, sehr schlecht.
Der Weg führte uns diesmal nicht vom Hilmteich weg, sondern ich wählte den Weg durch die Rettenbachklamm nach Mariatrost. Diese Klamm liegt im Stadtgebiet von Graz und ich war dort oft als Kind zum Spielen. Auf einem kleinen Umweg erreicht man Mariatrost.
Mein Sohn Elvin begleitete mich diesmal und das Ziel war, wie vor zwei Jahren, ein Kerzerl in der Kirche anzuzünden.
Zuerst geht es noch bei Häusern vorbei, aber gleich beim Einstieg in die Klamm ist man wie in einer anderen Welt.
Auf schmalen Steigen geht es durch die Klamm. Es gibt natürlich spektakulärere Klammen, aber es ist eine tolle Sache das es sowas in Graz gibt.
Hier ist es wesentlich anspruchsvoller, als es jemals am Camino war. Gleichgewicht und Balance sind hier extrem gefordert. Stufen bergauf und bergab, Querungen und das Wasser sind hervorragend geeignet, meine Sinne zu trainieren.
Ich traue mich schon mehr, habe aber noch immer großen Respekt vor vielen Dingen. An diese möchte ich mich immer wieder herantasten, um mehr Sicherheit zu erlangen. Denn was ich hier lerne, ist mein Überleben auf der Strasse. Dort wäre es zu gefährlich zu üben.
Es ist schwer verständlich für Außenstehende, was ich seit dem Hirnabszess erlebe und wahrnehme. Ich habe viel erreicht bisher, aber ich musste ein neues Verständnis für die Zeit entwickeln, die nichts damit gemein hat, wie früher im Sport. Diese Dauer der Genesung stellt alles andere zuvor Erlebte in den Schatten.
Es kommt mir so vor, der Sinn meines Lebens davor, war alles nur eine Vorbereitung darauf, dass ich dieses Leben jetzt überhaupt führen kann. Der Extremsport, die Bewusstseinsbildung ...., oft stellte ich mir die Frage: "Wozu brauche ich das alles? Was hat das für einen Sinn?".
Jetzt hat alles seinen Sinn bekommen. Ohne meine Vergangenheit wäre ich an meinem Schicksal zerbrochen. Ich hätte nie die Motivation gehabt für die Anstrengung um weiter zu machen. Die Wahrscheinlichkeit aufzugeben wäre groß gewesen und als Pflegefall dahin zu vegetieren.
Rückblickend bekamen diese letzten 25 Jahre vor dem Hirnabszess einen besonderen Sinn, denn ohne sie hätte ich den Weg zurück nicht geschafft. Jedes meiner Extremrennen war eine Vorbereitung auf den Zustand nach dem Hirnabszess, dass alles bis dahin erlebte in den Schatten stellte.
Dazu muss man sagen, ein Hirnabszess war noch vor etwa 50 Jahren hundert Prozent tödlich, besonders wie meines, das so tief liegt. Deswegen gibt es noch nicht viele Erfahrungen, was die Dauer der Rehabilitation angeht. Jedes Hirnabszess ist anders und seine Auswirkungen kann niemand vorhersagen.
Was hat sich seit dem Weg nach Mariatrost getan? Im Nachhinein viel, immer unter dem Verständnis der Zeit. Im Denken von früher hätte sich noch nicht all zuviel getan. Neurologisches braucht viel Zeit. Man soll sich nicht mit früher vergleichen, aber mit diesem Früher vor zwei Jahren schon, denn es ermöglicht mir zu erkennen das trotzdem etwas weiter gegangen ist. Der Unterschied gegenüber vor ein, zwei Jahren lässt mich den Unterschied sehen.
Wenn ich an meine Wanderung zur Basilika vor zwei Jahren zurück denke, dann kann ich mich noch gut daran erinnern. Ich war damals am Limit und die vielen Wurzeln machten mir zu schaffen. Es war der Beginn, mehr Automatik in meine Bewegung zu bringen. Damals hatte ich noch keine Ahnung davon, dass es doch noch länger dauern wird, bis ich wieder automatisch gehen kann. Noch heute arbeite ich daran.
Damals, im September 17´, schien es mir unmöglich, in naher Zukunft Pilgern zu gehen. Ein halbes Jahr später wurde es aber Wirklichkeit. Eigentlich war es zu früh für mich, aber ich war Gedanklich am Ende. Die Folgen des Hirnabszesses, aber auch private Troubles, brachten mich in einen Zustand, der nicht mehr handelbar war. Das Pilgern war die Möglichkeit, mich wieder auf den Weg zu bringen. Das letzte Jahr hat mich sehr bestärkt darin.
In der Kirche zündete ich gemeinsam mit Elvin eine Kerze an. Es war für mich sehr emotional, denn es war vor zwei Jahren mein erster längerer Weg, der mich in Folge zum Pilgern brachte und es ist somit ein wichtiger Eckpunkt in meiner Geschichte seit dem Hirnabszess.
Wenn ich mein Gesundheitliches Befinden im Vergleich zu damals bewerte, so sehe ich natürlich eine Verbesserung. Lese ich allerdings den damaligen Bericht durch, dann arbeite ich noch immer an den gleichen Dingen, die sich ein wenig gebessert haben. Behindert bleibt eben behindert, egal ob mehr oder weniger.
Ich habe mich natürlich verbessert, muss aber dranbleiben. Wenn es mir einmal nur wenig schlechter geht, falle ich in einen Bereich der knapp über dem liegt, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. In den nächsten Monaten steht eine Stabilisierung des Körperlichen an und psychologische Hilfe, die ich nicht vernachlässigen darf.
Das vierte Jahr meiner Rehabilitation steht bevor. Ich habe mich mit meiner Vergangenheit als Energetiker auseinander gesetzt und brauche nichts anderes zu machen, als meinen Energiefluss zu harmonisieren und optimieren.
Mein Bestreben gilt dem, dass ich alles in meiner Macht stehende unternehme, um wieder Harmonie in meinen Körper zu bringen. Im Sport habe ich gelernt, dass viele verschiedene Faktoren den Erfolg bringen, nicht eine einzige. Fragt man einen erfolgreichen Spitzensportler warum er ein Ziel erreicht hat, dann zählt er viele Dinge auf und nicht nur eines, dass er richtig gemacht hat.
Auch mir tut verschiedenes gut, um den Energiefluss wieder zu Harmonisieren. Ein wichtiger Punkt ist die Entspannung. Damit meine ich nicht nur Meditation oder Schlafen. Durch meine Hochsensibilität merke ich sofort, was mir gut tut und was nicht. Ich muss noch das Vertrauen in mich bekommen, auch danach immer zu handeln.
Durch meine Hochsensibilität wird mein Körpersystem schnell überreizt. Mein Ziel ist es, wieder Alltägliches entspannt machen zu können. Meine Reizschwelle gehört wieder hinaufgesetzt. Daher ist Laufen noch nichts für mich. Es stresst meinen Körper, tut nicht gut und erschöpft mich.
Den Energiefluss richtig hinzubekommen, erfordert viel Arbeit. Viel Ruhe und genau dosiertes körperliches Training sind Grundvoraussetzungen. Einerseits lässt mich die Hochsensibilität viel wahrnehmen, andererseits setzt sie den Körper unter Stress, an dem ich mich in kleinsten Schritten wieder gewöhnen muss.
Spazierengehen im Wald ist gut dafür geeignet, den Energiefluss wieder herzustellen. So wie beinahe alles, was mit der Natur zu tun hat.
Im Gegensatz zum Laufen, ist Pilgern genau meine Geschwindigkeit. Durch unzählige Stunden Gehen, in einem Bereich, der mir guttut, bringe ich Entspannung in meinen Körper. Optimal für den Energiefluss. Alles zu schnelle bringt mir nichts, erschöpft mich und kostet mir wertvolle Tage, bis ich wieder in einem entspannten Zustand bin.
Es hilft mir Autobiografien zu Lesen, von Menschen denen Ähnliches passiert ist. So kann ich es besser verstehen lernen, was mir passiert ist. Viele Erinnerungen aus der Zeit im Krankenhaus kommen heute noch hervor. Ich muss sie dann schnell aufschreiben, weil ich sie aufgrund meines fehlenden Kurzzeitgedächtnis sonst wieder vergesse.
Das neueste Buch handelt von Paul van Dyk, der nach einem Sturz auf der Bühne Schäden am Gehirn erlitt und die Wirbelsäule angebrochen hatte. Es wird mir zum ersten Mal bewusst, wie schwer die Folgen meines Hirnabszesses sind und wie lange ich um jeden Schritt kämpfe. Die 150 Tage im Spital werden mir immer mehr bewusst.
Solche Bücher, wie auch die von Monica Lierhaus und Gela Allmann zeigen mir wie wichtig es ist, Menschen um sich zu haben, denen man vertraut. In der Genesung spielen Beziehungen eine große Rolle, besonders die Beziehung zum Arzt oder Therapeuten. Nur im Zustand des Vertrauens gibt es Heilung.
Erwähnen möchte ich auf jeden Fall auch den Kinofilm "Das zweite Leben des Monsieur Alain". Der Film überraschte mich positiv, erzählte er doch auf gute Weise, wie ein Manager nach einem Schlaganfall zurück ins Leben findet. Dass darin auch der Jakobsweg eine Rolle spielt, machte den Film für mich noch interessanter.
Er zeigt recht gut auf, wie sich Wortfindungsstörungen und Lähmungen auf das Leben auswirken. Meine Aufgabe besteht ja darin, immer öfter etwas für mich selbst zu tun und nicht nur aus therapeutischen Gründen. Dazu verwende ich gerne ins Kino zu gehen. Kleine Kinos mit wenig Zuschauern sind mein Ziel und manchmal weiß ich gar nicht, was mich für ein Film erwartet.
Ja, der Weg dauert lange. Wie lange, wird mir immer bewusster. Auch die Schwere der Krankheit verstehe ich immer besser und warum es so lange dauert. Ich kann und darf mich nicht mit anderen vergleichen. Jedes Hirnabszess ist anders. Je nachdem wo es sitzt, sind verschiedene Stellen im Körper betroffen.
Bei mir saß es am Thalamus, dadurch hatte ich vielfältige Ausfälle, die dementsprechend langwierig zu behandeln sind. Nach dreieinhalb Jahren ist es noch wichtig, mir die Zeit zu geben, die ich brauche. Es ist eine langwierige Arbeit, den Energiefluss wieder herzustellen. Körperliche Arbeit und Arbeit am Geist sind unumgänglich.
Das vierte Jahr meiner Rehabilitation hat so begonnen, wie das dritte geendet hatte. Mit Gehen und einer "Pilgertour" nach Frohnleiten. Seit meiner Pilgerreise zum Jakobsweg, war ich zu Hause nie mehr länger unterwegs.
Ich bin zwar fast jeden Tag gegangen, aber kein einziges Mal länger. Wobei "länger" bedeutet, weiter wie 15 Kilometer. Für alles darüber benötige ich einen ganzen Tag.
Im Pilgermodus unterwegs zu sein, war mein Ziel. Nichts denken, genießen und den Kopf freibekommen. Gerade das Denken ist noch mein größtes Handicap. Zu Hause werde ich mit vielem konfrontiert, was ich nicht weiter oder fertig denken kann. Dann hilft es, in den Wald oder auf Pilgertour zu gehen.
Zu jeder Location habe ich einen emotionalen Bezug, positiv oder negativ. Für eine längere Tour zu Fuß suche ich mir am liebsten Orte, zu denen ich positive Erinnerungen habe. Gerade die Emotion spielt eine wesentliche Rolle. Es gibt noch genug Plätze, Ortschaften und Gasthäuser, die ich mit negativen Erinnerungen in Verbindung bringe.
Dahingehend habe ich eine Vermeidungstaktik entwickelt, was auch auf ein Trauma hindeutet. Es hat mit meiner Aufarbeitung zu tun oder besser mit der Nicht-Aufarbeitung. Es ist mir noch nicht möglich, mein Denken erlaubt es mir nicht. Eine Traumatherapie wird mir dabei helfen.
Nach dem Krankenhaus war es eines meiner ersten Ausflugsziele, ziemlich genau vor drei Jahren. Wenn ich heute zurückkehre nach Frohnleiten, so habe ich gute Erinnerungen daran. Ich war oft mit der Familie dort und verbrachte viele Stunden im Park und am Spielplatz.
Meine Erinnerungen, positive, habe ich auch nach der Krankheit bekommen. Nach fünf Monaten im Krankenhaus war es herrlich den Park wieder genießen zu können. Damals war allein die Hinfahrt schon beschwerlich. Vom Auto raus, kam ich keine dreißig Meter und musste mich hinsetzen. Die frische Luft war ich nicht gewohnt und Gehen konnte ich nicht weit. Es war herrlich, aber nach 30 Minuten war ich am Limit.
Nach genau drei Jahren wollte ich jetzt zu Fuß hin. Eine Pilgertour von Judendorf nach Frohnleiten. Es sind etwas über 20 Kilometer, eine Distanz, die ich mittlerweile bewältigen sollte. Diese Kilometer ging ich auch öfter am Jakobsweg.
Der Weg führte über Gratkorn und die erste Rast legte ich am Zigeunerloch ein. "Klettern" vermied ich, denn alle Energien benötige ich fürs Gehen. Nach wie vor muss ich meine Energien genau einteilen und unnötige vermeiden, besonders wenn ich weiter Gehen möchte. Auch am Jakobsweg vermied ich jede unnütze Bewegung.
Es ging weiter die Mur entlang. Ich war der einzige Fußgeher und nur einige Male wurde ich von Radfahrern überholt. Das Gehen verlief weiterhin ohne Probleme. Nach zwei Jakobswegen habe ich die Erfahrung, die Geschwindigkeit richtig zu dosieren. Vorbei am Golfplatz Murhof, erreiche ich die ersten Steigungen.
Hin und wieder werde ich noch schwindlig. Dann heißt es mit dem Kopf nach unten und abwarten bis es besser geht. Langsam dann den Kopf wieder hoch und es ist alles OK.
Am Anfang ging es darum, wieder aufrecht sitzen zu können. Der eineinhalb Meter neben dem Bett stehende Tisch war eine Herausforderung, ihn zu erreichen. Ich brauchte Monate dazu, ehe ich ihn erreichte. Davon bekamen außenstehende nichts mit.
An solche Momente muss ich dann denken, wenn mir wieder einmal schwindlig ist.
Wenn es bergauf oder bergab geht, muss ich mich immer austarieren. Das braucht einige Meter, bis ich mich unter Kontrolle habe. Da spielt das Gleichgewicht noch nicht mit, aber ich arbeite daran. Für mich dauert jeder Schritt oft zu langsam, dabei habe ich in den letzten Jahren mehr erreicht, als ich erwarten durfte.
Am frühen Nachmittag bin ich dann angekommen. Wie am Jakobsweg, erreichte ich auch hier etwa 3,5 Kilometer in der Stunde. Dort erwartete mich eine Überraschung. Im Park hat die Gemeinde einige Geräte für die Geschicklichkeit installiert, besonders zum Balancieren. Für mich natürlich ein Muss, es auszuprobieren.
Allerdings war ich nach dem Gehen schon müde und so hat mich alles wieder einmal Gnadenlos abgeworfen. Meine Stabilität und Balance gewinne ich nur langsam zurück. Vielleicht komme ich einmal mit dem Auto oder Zug her, dann kann ich meine Trainingseinheit hier anlegen.
Es war schön, an nichts denken zu müssen. Es brachte meinem Gehirn etwas Ruhe, dass meinem Nervensystem gutgetan hat. Beim Gehen brauche ich an nichts zu denken, außer natürlich an die Bewegung. Jeder Meter bringt mich näher ans automatische Gehen.
Wenn ich daran denke, dass der Österreicher im Durchschnitt 265 Kilometer im Jahr zu Fuß zurücklegt. Ich bin seit 2016 rund 5500 Kilometer gegangen, dabei konnte ich die erste Zeit nur wenig gehen. Wo würde ich jetzt stehen, wäre ich nicht so viel gegangen? Ich möchte das lieber nicht wissen.
Müde, aber glücklich, geht es zurück nach Judendorf. Meine Tage sind meist ein Mix aus Leben und Rehabilitation. Meine Aufmerksamkeit unterwegs kann ich mittlerweile auch den Blumen, den Tieren und der Landschaft widmen, nicht nur der Bewegung. So wird das Leben wieder Schritt für Schritt ergangen. Besonders das Gehen ist lebenswert.
Meine Pilgertour war ein voller Erfolg und am liebsten würde ich es jeden Tag machen. Noch stehen aber viele andere Dinge an, die mir weiterhelfen sollen.
Im August 2016 kam ich aus dem Krankenhaus zurück, somit beginnt im August mein viertes Jahr der Rehabilitation. Die letzten Jahre wurden unter anderem zu einer Suche nach Neuorientierung und Standortbestimmung. Der Hirnabszess hat alles auf den Kopf gestellt, noch immer.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wie es weitergehen kann. Vorher selbstverständliches, war plötzlich nicht mehr möglich. Ich musste und muss noch, mich auf neue Dingen einlassen und meinem Körper Vorrang vor allem geben. Schritt für Schritt kämpfe ich mich zurück in ein neues Leben, dass ich erst wieder lernen muss.
Mein Gehirn bedarf sämtlicher Ressourcen die ich habe. Da haben Sorgen oder unnötige Gedanken nichts zu verloren. Manchmal schwer zu handeln. Nein zu sagen konnte ich schon früher schwer. Genau das, heißt es jetzt aber zu tun.
Krankheiten vom Gehirn ausgehend, sind sehr sensibel zu behandeln. Bevor nicht eine gewisse Stabilität eingekehrt ist, soll ich nach Möglichkeit Dinge von mir fernhalten, die mir nicht gut tun. Sie behindern mein Vorwärts kommen.
Es dauert jetzt drei Jahre und es ist nicht vorhersehbar, wie lange es noch dauern wird. Ich habe von anderen Fällen gehört, die nach 8 Jahren wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnten. Ich kann nur Tag für Tag mein bestes geben und dranbleiben.
Vor genau drei Jahren kam ich nach fünf Monaten Aufenthalt im Krankenhaus nach Hause und meine Rehabilitation konnte beginnen. Diesen Tag werde ich nicht vergessen, denn er wurde einer der Emotionalsten seit dem Hirnabszess. Ich besuche die mächtigen Felsen beim Eingang zum Zigeunerloch und es wurde ein nachdenklicher Tag mit vielen Gedanken daran, wo ich heute stehe.
Ich habe jetzt drei Jahre hinter mir, in denen nichts blieb wie zuvor. Ich musste lernen, alles Stein für Stein neu aufzubauen. Weiter als bis zu den Grundmauern bin ich noch nicht gekommen.
Es war eine der ersten Routen in Österreich, die im 10. Schwierigkeitsgrad lag. Imposant für mich, unter diesen Felswänden zu stehen. Ich wusste erst selbst nicht, warum es mich zum Zigeunerloch zog.
Erst als ich unter den gewaltigen, überhängenden Felsen stand, bekam ich eine Ahnung davon, was es mir zu sagen hat. Das Klettern in luftigen Höhen erfordert Mut und ist nur nach langem Training möglich. Es steht gleichbedeutend für mein Leben, für das ich Mut und Geduld brauche.
Mutig meinen Weg gehen, meine Komfortzone verlassen und mir zu Vertrauen, dass ich das Beste für mich finde und mache. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert oder ob es wirklich besser wird. Daher nutze ich jede Gelegenheit, mit dem was mir zur Verfügung steht. Die Bewegung hat einen dabei sehr großen Stellenwert bekommen.
Klettern als Therapie steht schon länger auf meiner Liste. Die Gelegenheit bietet sich mir aber nicht oft und immer nur in Form von künstlichen Wänden. Wann immer es geht, bin ich in Graz an der Mur. Es galt bisher mich daran zu gewöhnen, mich überhaupt in eine Wand zu trauen.
Man sieht es mir fast nicht an, aber mein größtes Manko ist die Kraft. Fitnessstudio, spezielles Krafttraining und diverse Übungen haben mir bisher nur wenig in Bezug auf den Umfang gebracht. Muskelstärke aufbauen ist ein neurologisches Problem und geht nur sehr langsam vor sich.
Aber das es langsam geht, heißt noch lange nicht, darauf zu verzichten, weil Augenscheinlich nichts weiter geht. Es muss was weitergehen, denn immerhin bin ich zum Jakobsweg gefahren. Ich fühle mich zwar noch Kraftlos, aber zumindest kann ich mich schon fortbewegen. Zwischen Gehen und Fortbewegen habe ich einen Unterschied. Zum Gehen fehlt das Automatische und die Leichtigkeit. Darum spreche ich noch so oft vom "Gehen lernen".
Dieser Spazierweg war mein Feiern. Ich war glücklich, seit dem Hirnabszess schon so viel geschafft zu haben. Sicher, es kann immer mehr sein, allerdings darf ich nicht vergessen, was ich erlitten habe. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.
Ich stieg noch ein bisschen an der Wand herum und mache mich dann auf den Weg neben der Mur. Ich genoss den Tag und hing meinem Gedanken nach, was ich in den drei Jahren erlebte.
Jeder Tag ist für mich ein neues Erleben und beginnt wie im Film: "Täglich grüßt das Murmeltier!". Zur Zeit gibt es immer noch keine Vergangenheit oder Zukunft und es hat keinen Einfluss darauf, wie es mir geht. Die Entscheidung, was ich mache oder was passieren soll, ist täglich neu.
In der Zwischenzeit habe ich aber gelernt, Schwerpunkte zu setzen, die aber über mehrere Wochen oder auch Monate führen können. Verbesserungen oder Veränderungen kann ich nicht in diesem Moment sehen, sondern kann sie nur über einen längeren Zeitraum erkennen.
Ich habe an vielen Fronten zu arbeiten. Der Hirnabszess am Thalamus hat mein gesamtes Körpersystem durcheinander gebracht. Bücher über ähnliche Erlebnisse haben mir später sehr geholfen, mein Schicksal zu verarbeiten.
Allerdings hatten die meisten anderen Erlebnisse eines gemeinsam, fast alle sind durch Unfälle entstanden oder hatten eine Ursache von Außen. Einzig die Moderatorin Monica Lierhaus erlebte ähnliches. Ihr Buch hat mir viel Verständnis für die Folgen die ich erlitt gebracht. Hier ein Link zum Bericht und ein Auszug, wie es auch ich fühle:
"Etwas in mir ist damals gestorben, und etwas hat überlebt", schreibt Lierhaus. Sie sei, was ihre Fähigkeiten angeht, eine andere geworden. Aber der Kern sei geblieben. "Deshalb kann ich sagen, ich bin immer noch ich, auch wenn mir manches an diesem neuen Ich fremd ist. Vielleicht immer fremd bleiben wird."
Bericht über Monica Lierhaus von Solveig Bach/NTV
Bei mir war es ähnlich, ich explodierte von Innen. Wobei ich diese Implosion nicht so wahrgenommen habe. Ich war von einer auf die andere Stunde gezwungen, mich aufgrund von Schwindel hinzulegen.
Es passierte nicht von Außen, durch einen Unfall oder ähnliches. Ich war plötzlich auf NULL gestellt, nichts funktionierte mehr, körperlich wie geistig. Ein eigenartiger Zustand bemächtigte sich meiner. Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein, anders als alle um mich herum. Meine Körperfunktionen wurden auf ein Minimum herunter gefahren, alle geistigen und in den folgenden Tagen auch immer mehr meine körperlichen. Alle Energie wurde für mein Überleben aufgewendet. Mein Überlebenskampf beginnt, der für mich keiner war.
Auf Vergangenheit und Zukunft konnte ich nicht reagieren und es war zunächst auch nicht wichtig. Mein Denken war stark beeinträchtigt und aufs Minimum reduziert. Mir selbst war das gar nicht bewusst. Alle Emotionen und Gefühle wurden ebenfalls ausgeschalten. Ein Grund, warum ich mit nichts belastet werden durfte. Ich lebte zwar, aber ich war zu schwach zum Sprechen oder denken, bald auch in der Bewegung.
Es war anders als wie bei den meisten Unfällen. Bei mir ist neben dem Körperlichen eben auch das Geistige betroffen und das ohne offensichtlichen Grund. Das finden dieses Grundes oder der Ursache liegt aber im Geistigen. Das machte es mir besonders schwer, es mit etwas in Verbindung zu bringen. Ein Radsturz oder ein Kletterunfall zeigt oft einen Grund, wenngleich auch solche eine geistige Ursache haben. Diese heißt es zu erkennen.
Im Sport riskierte ich oft etwas oder war in teils schwere Stürze beim Radrennfahren verwickelt. Da war sofort klar, warum etwas passiert ist oder warum die Schwere einer Verletzung die Folge davon war. Das Geistige dahinter ist dann allerdings oft nicht mehr so klar. Dabei gibt das, was passiert, einen guten Hinweis darauf, was im Leben nicht passt. Deshalb war die Zeit, die ich im Sport verbrachte, mehr Bewusstseinsbildung, als das mir die Ergebnisse wichtig waren. Sogenannte Niederlagen waren oft mehr lehrreich als Siege.
Krankheiten oder Unfälle passieren nur, wenn über einen längeren Zeitraum Fehler gemacht werden. Diese Fehler zwingen einen wieder in die richtige Richtung und es beginnt Gesundung. Auf diese Fehler draufkommen und sie verändern zu können, ist das Ziel. Je nach Schwere kann es länger oder kürzer dauern.
Ich habe nach 14 Jahren, als Beamter bei der Post, meinen damaligen Beruf gekündigt, weil es nicht mehr meinem Leben entsprach. Im Sport konnte ich mich dann selbst verwirklichen. Es machte mir Freude und ich war in meinem Element. Nach dem Sport ging ich in die Wirtschaft, gründete eine Familie und gelangte in ein System, dass meiner Freiheit widersprach.
Ich versuchte zwar das Beste daraus zu machen, aber es sollte bis zum Hirnabszess dauern, bis ich Fehler im Denken erkannte. Das Hamsterrad hatte mich gefangen und ich fand keinen Ausweg daraus für mich. Obwohl ich es erkannte, hatte ich nicht die Kraft, darauf richtig zu reagieren. Es kam, wie es kommen musste.
Dieses Abszess am Thalamus wurde eine besondere Lernerfahrung für mich. Das gesamte Leben von der Pieke auf neu zu lernen, ist eine Herausforderung. Es benötigt eine gesamte Neustrukturierung meines Lebens, aber auch meines Denkens. Step by Step oder Schritt für Schritt komme ich zurück ins Leben. Aber es dauert.
Alte Lebensstrukturen heißt es zu erkennen und umzuprogrammieren. Mein Denken lässt nur kleine Schritte zu, wie auch in der Bewegung. Erst wenn ich einen Schritt verinnerlicht habe, kann der nächste Schritt drankommen. Deshalb beginnt auch jeder Tag von neuem. Ich kann zwar auf wieder Erlerntes aufbauen, aber jeder Tag fängt für mich in der Früh von neuem an.
Es ist schwer zu erklären, weil mir noch immer so viele Wörter und Formulierungen fehlen. Es ist meine Arbeit, diese zu finden, um es in naher oder ferner Zukunft, immer besser erklären zu können. Ich kann es derzeit nur so, dass ich auf Gelerntes aufbauen kann, aber trotzdem für mich der Film: "...und täglich grüsst das Mumeltier!", gilt.
Da alles in so kleinen Schritten passiert, scheint jeder Tag aufs neue zu passieren. Die Fortschritte sind so gering, dass ich sie kaum bemerke. Mehr Struktur in meinen Tagesablauf zu bekommen, hilft mir sehr. Deshalb fühle ich mich am Jakobsweg so wohl. Seit ich alleine in einer Wohnung lebe, fehlt mir diese Struktur, weil ich mehr mit Überleben beschäftigt bin, als mit meiner Rehabilitation.
Am Camino lernte ich, einen Tagesablauf zu bewerkstelligen. Jeder Tag hat gewisse Anforderungen, die aber über einen längeren Zeitraum dieselben sind. Gehen, Essen und schlafen, nichts anderes ist dort wichtig. Aufs einfachste reduziert zu sein, tut mir sehr gut. Ablenkungen von zu Hause fallen weg und das Leben im Jetzt ist wichtig. Beinahe alles was mich belastet, fällt am Camino weg. Trotzdem therapiere ich, eigentlich unbemerkt. Der Weg ist das Ziel, wurde dort besonders bemerkbar.
So erlebe ich jeden Tag neu und versuche für mich das Maximum heraus zu holen. Das kann auch bedeuten, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Das gehört für mich zum Training dazu. Viele sehen natürlich nur die Fotos, was ich alles mache. Das ist aber nur ein Ausschnitt von vielem. Es vermittelt den Eindruck, als ob ich dauernd aktiv bin. Das bin ich aber nicht und kann es gar nicht. Denn solange der Tag länger ist, als das meine Energie reicht, bin ich darauf angewiesen, auch öfter nichts zu tun.
Ein Leitsatz gilt für mich aber aber nach wie vor für mich:
"NEVER GIVE UP!"
oder
"Niemals aufgeben!"
Der Tag beginnt für mich jedesmal neu und am Ende des Tages kann ich beruhigt schlafen gehen, mit der Gewissheit, trotz des vielen Therapierens, niemals aufgegeben und mein bestes gegeben zu haben!
Pilgern ist mein neues Trailrunning, besser gesagt, mein "Trail-Gehen". Mein größter Wunsch war, wieder Gehen und Laufen zu können. Das mit dem Gehen habe ich mir mit jahrelangem Training erfüllt. Laufen muss noch warten.
Trailrunning ist immer noch nicht möglich. Dafür bin ich noch zu wenig stabil und es ist mir noch zu intensiv. Jeder Schritt beim Laufen bringt eine Erschütterung mit sich, die mein Körper noch nicht verträgt.
Aus diesen drei Faktoren besteht mein Leben. Bestimmend in meinem Leben ist noch immer der Punkt "Rehabilitation".
Meine Defizite sind noch zu groß, als das es anders wäre. Solange ich die Chance einer Verbesserung sehe, werde ich daran arbeiten. Ich akzeptiere meinen derzeitigen Zustand, aber ich nehme ihn nicht als gegeben hin. Nur darf es nicht ausschließlich Reha sein, ich soll trotzdem wieder Leben lernen.
Allerdings ist das jetzt mein Leben. Es wäre naiv, meinen derzeitigen Zustand nicht Annehmen zu wollen. Nur indem ich ihn annahm, konnte ich diese mittlerweile über dreijährige Phase überstehen.
Das Pilgern nimmt einen wichtigen Stellenwert für mich ein. Es war im letzen Jahr mein erster Ausbruch aus der Welt der Rehabilitation, als ich zum Camino Frances fuhr.
Denn egal was ich bisher tat, die geringste Bewegung ließ mich besser werden und war Rehabilitation. Es war nicht leicht, aus diesem Gedanken zu kommen. Die Behinderung des Körpers, wie auch des Geistes war allgegenwärtig.
Beim Pilgern brauchte ich daran nicht denken. Denn viele andere Pilger hatten Bänder, Sehnen und Gelenksprobleme und wackelten entsprechend daher. Es gab kaum einen Unterschied.
Es geschieht nebenbei und das unter "gewöhnlichen" Bedingungen. Pilgern mit Behinderung hat einen wichtigen Aspekt, nämlich wieder Leben zu lernen. Am Jakobsweg brauche ich mich nur um das zu kümmern, was anstand. Das ist ein großer Vorteil, gegenüber zu Hause. Dort bin ich zu sehr in das tägliche Überleben involviert.
Es ist im heimischen Zuhause nicht möglich, sich ganz und gar nur auf sich zu konzentrieren. Aber gerade das brauche ich. Mein Gedächtnis ist ebenso betroffen, wie die Bewegung und lässt sich nur gleich langsam wie alles andere verbessern. Daher versuche ich, allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen oder besser gesagt, alles zu vermeiden, was mir keine Freude bereitet.
Daher tut mir das Pilgern so gut. Denn nur in einem Zustand der Freude ist Heilung möglich und am Camino bin ich immer unter einem Zustand der Freude. Selbst im starken Regen gehe ich pfeifend durch Gatsch und Wasser, vollkommen durchnässt. Diese Freude am Leben ist echt und sehr emotional. In solchen Momenten fühle ich mich gut aufgehoben und bringt mich gesundheitlich weiter, als Stunden in der Kraftkammer.
Am Camino denke ich nicht über meine Defizite oder über die Behinderung nach. Sie sind ein Teil von mir, wie der Weg, der Hunger oder der Durst. Natürlich sind sie da, aber sie sind nicht vorherrschend.
Zu Hause gehe ich zur Therapie oder auf Reha. Ich werde dabei immer daran erinnert, dass ich behindert bin und Defizite habe. Es ist weitaus gefährlicher, weil ich immer wieder in die Stadt muss. Dieses dauernde Erinnern und darauf gestoßen zu werden, an meinen Defiziten zu arbeiten, ist oft nicht leicht. Am Camino kann ich leben und therapiere gleichzeitig, ohne das es mir auffällt.
Am Camino halte ich mich praktisch nur in der Natur auf. Die wenigen Großstädte durchquerte ich in einem Stück, meist am Sonntag, wo weniger los war. So wurde meine Aufmerksamkeit geschont und es blieb mehr Energie für den Rest. Gerade meine Hochsensibilität macht mir in den Städten zu schaffen.
Ich fühle mich wohl, wenn ich gehen kann. Mit entsprechenden kurzen Pausen dazwischen, kann ich schon weit gehen. Diese Pausen sind unter anderem meinen Sprunggelenken geschuldet. Das Ziel der mehrmonatigen Physiotherapie Anfang des Jahres war eine Stärkung dieser. Das war gelungen. Knöchelte ich am Anfang des Jahres noch öfter um, so kippte ich am Camino nur mehr einige Male um, ohne größere Auswirkungen.
Wichtig war die innere Stärkung und die erreicht man durch balancieren. Dazu war am Camino mehr als genug Gelegenheit. Das Gleichgewicht und die Muskulatur zu verstärken, heißt auch die Gehirnzellen auf Trab zu bringen.
Besonders bergab war es wichtig die Balance auf den Steinen zu halten. Allerdings konnte ich nicht springen. Trotzdem wurde der Körper aktiviert und arbeitete mehr als genug. Es geht mir gleich wie kleinen Kindern, die durch Herumtollen ihre Bewegung verbessern. Mein Körper ist steif, unbeweglich und die Geschmeidigkeit fehlt ihm. Daher tut das Abwärts Gehen auf den schmalen Pfaden sehr gut, weil ich ständig meinen Körper verdrehen muss.
Der Wald ist mein Fitness-Studio. Durch den weichen und unebenen Boden wird meine Bein- und Rumpfmuskulatur gestärkt. Ich verwendete diese Woche zum ersten Mal eine Puls Uhr. Dabei bemerkte ich einen um fünf Schläge höheren Puls auf einer Schotterstrasse, als auf Asphalt.
Gerade der Küstennahe Regenwald brachte zusätzliche Wirkung. Da es doch oft regnete, war die Luft durchdrungen von den Düften des Waldes. Es war eine einzigartige Stimmung, die meine Fröhlichkeit förderte, froh darüber das alles erleben zu dürfen.
santiagoways.com/en/camino-de-santiago-routes/camino-del-norte/(öffnet in neuem Tab)
Diese Freude am Leben spiegelte sich in vielem wieder. Ich konnte plötzlich wieder pfeifen, was mir lange wegen der Halbseitenlähmung nicht gelang. Meine Zunge und Gesichtshälfte sind ja betroffen davon.
Dazu kann ich mich nicht einmal daran erinnern, während des Caminos nicht gut drauf gewesen zu sein. Der Jakobsweg war Balsam für meinen Körper, Geist und Seele.
Das Pilgern wurde meine liebste Tätigkeit, die ich auch mit Handicap unternehmen kann.
Ich bin jetzt seit einer Woche vom Camino zurück. Für mich ist es immer sehr interessant, ob ich meine Wahrnehmung und Hochsensibilität verbessern konnte.
Dieser Hochsensibilität bin ich mir bewusst und arbeite seit zwei Jahren daran, sie in entsprechende Bahnen leiten zu können. Es ist EIN Grund, warum ich mich nur Schritt für Schritt in allen Dingen verbessern kann. Meinem Gehirn wurden sämtliche Filter genommen, seither treffen alle Reize ungefiltert auf mich ein.
Seit drei Jahren trainiere und übe ich daran, sie zu verbessern. Der Schwindel, die Gleichgewichtsstörungen und die sich nur langsam aufbauende Muskelkraft sind das Eine. Dazu aber die Hochsensibilität, das alles zusammen macht ein normales Bewegen in der Stadt noch immer nicht leicht möglich.
Schon letztes Jahr am Camino France war es nicht leicht. Ich blieb in keiner Stadt, durchquerte jede und hielt mich quasi nur in der Natur oder den Herbergen auf. Kirchenbesuche musste ich auf ein Minimum beschränken und Menschenansammlungen vermied ich.
Am wohlsten fühlte ich mich, wenn ich alleine am Weg war. Die Natur stresste mich nicht und ich fühlte mich in ihrem Rhythmus wohl. Diese Feinfühligkeit und Hochsensibilität umfasst aber mehr als nur diese äußere Wahrnehmung. Doch dazu später noch mehr. Dieses "überfordert sein von Reizen" war zunächst vordergründig.
Ich war gespannt, ob sich an meinem Verhalten etwas geändert hatte. Viele Fragen tauchten im Vorfeld der Reise auf. Zusammengefasst behandelten alle das gleiche Thema:
"Wie wird meine Wahrnehmung diesmal sein?"
Dementsprechend vorsichtig ging ich alles an. Keine Energie durfte vergeudet werden. Irun, San Sebastian wurden durchquert und nicht als Zielpunkt genommen. Die Stadt strengt mich noch zu sehr an.
Auch später noch Bilbao oder Gijon. Ich durchschritt sie und schaute, wie in Gijon, dass ich am Sonntag durch gehen konnte. So wurden die langen Abschnitte durch die Industriezonen leichter, weil kaum Verkehr war. Das richtige Timing war wichtig.
In der dritte Woche begann sich was zu verändern. Ich konnte plötzlich öfter und wesentlich länger während dem Gehen auch die Gegend anschauen. Ich musste nicht immer auf den Boden blicken, wo ich hinsteige.
Ich wurde Aufnahmefähiger und das machte sich besonders bemerkbar in Santiago. Natürlich strengten mich die vielen Menschen noch an. Aber es war doch anders als im letzten Jahr. Ich besuchte sogar die Pilgermesse und holte mir die Compostela. Das wäre voriges Jahr noch undenkbar gewesen.
Es gibt aber noch die andere Seite der Hochsensibilität. Nicht die verstärkte Aufnahme von Reizen, die einen so schnell erschöpfen, sondern auch die Empfindsamkeit gegenüber auf Menschen, auf Beziehungen, auf Dinge und Situationen.
Besonders der Sinn für Ethik, Ganzheitlichkeit und Stimmigkeit kann bereichernd sein oder hindernd sein. Ich spüre leicht, ob etwas Unstimmig ist oder etwas nicht passt. Dem zu vertrauen ist aber nicht leicht. Ich kann oft ja nicht sagen, warum dem so ist.
Ich laube oft zu wissen, was andere brauchen oder denken und fühlen. Als Energetiker hatte ich das im Griff und es hat mir sehr geholfen. Jetzt aber gibt es überhaupt keine Filter mehr und diese Anzahl an Informationen überfordert meinen Geist. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen, ob der vielen Informationen. Ich wusste nicht wohin damit und wie ich relevante von nicht wichtigem trennen sollte.
Besonders schwierig wird es, wenn ich es kommunizieren möchte. Durch meinen verminderten Wortschatz fehlen mir die Wörter um es entsprechend zu kommunizieren und ich musste oft schmerzlich erfahren, wie ich missverstanden wurde.
Ob ich möchte oder nicht, meine Beobachtungsgabe hat sich verändert. Ich achte vermehrt auf Kleinigkeiten und ziehe sie in mein Gesamtbild ein. Das passiert oft unbewusst und hat scheint oft übersinnlich zu sein. Das passt natürlich oft nicht in unsere Gesellschaft, man hat es nicht leicht.
Der Intuition zu vertrauen, habe ich zu lernen. Überhaupt diese gesteigerte Wahrnehmung in Leben zu integrieren. Der Camino war ideal dafür. Hier lerne ich wieder darauf zu vertrauen. Meine Wahrnehmung konnte ich bisher nur ausschalten oder zu 100% einschalten.
Erst am Camino lernte ich wieder, diese zu steuern. Es war erst ein Anfang, aber ich bin froh diesen Schritt geschafft zu haben. Auch hier gilt, Schritt für Schritt. Der Anfang ist gemacht und darauf kann ich aufbauen. Es wird seine Zeit brauchen, bis ich es wieder voll im Griff habe.
Es gibt viele Beispiele für den Einsatz dafür. Zuerst heißt es aber, damit umgehen zu lernen. Es ist keine übersinnliche Fähigkeit, im Gegenteil. Man bekommt nur mehr Zugriff auf mehr Informationen, die jeder hat. Und da kommt wieder das Vertrauen ins Spiel. Zu unterscheiden zwischen Glaubenssätzen, Vorurteilen und Prägungen gegenüber dem intuitiven Erfassen von Situationen und deren Einschätzung ist die Herausforderung.
Denn es gibt immer mehrere Wahrheiten. Das oftmals schwierige ist es, diese in ihrer Gesamtheit anzuerkennen und dem zu vertrauen.
Was kann ich vom Camino del Norte mitnehmen, was habe ich gelernt?
Ich konnte in allen Bereichen mein Leben verbessern, zumindest am Camino. Wie ich es Zuhause erlebe, werde ich noch sehen.
Der am Thalamus sitzende Abszess störte das gesamte Körper System. Somit habe ich in allen Bereichen zu trainieren. Meine vorrangigste Arbeit ist es, alles zu Harmonisieren. Auch wenn ich nur im Single-Tasking Modus unterwegs bin, werden auch alle andere Bereiche harmonisiert, mit dem, was ich tue.
Mit diesen Worten startete ich den Camino und hatte die nächsten Wochen die Zeit und das Ziel dafür, wieder am Leben teilhaben zu können. Ich hatte das Gefühl, dieser Camino würde eine wichtige Rolle in meiner Rehabilitation spielen und ich sollte Recht behalten.
So startete ich also in den Weg, dessen Ziel unendlich weit vor mir lag und den ich "Step by Step" bewältigen wollte.
Viele Fragen stellten sich mir in den Tagen vor der Reise. Beantworten würde sie aber nur die Zeit und der Camino selbst. "Du bekommst, was du brauchst, nicht was du möchtest", das sollte sich immer wieder bewahrheiten.
Meine ersten Fragen waren noch sehr auf die Reise bezogen. Das sollte sich aber ändern.
...tauchte bereits am ersten Tag auf. Ich nahm diesmal Trailrunning Stöcke mit. Sie sollten mir in den steilen Anstiegen helfen das Gleichgewicht zu bewahren. Letztes Jahr am Camino Frances bin ich in jede Gatschlacke (Dreckpfütze) gefallen, weil ich nicht springen konnte oder über Baumstämme balancieren konnte. Dabei sollten mir die Stöcke helfen.
Dieses Jahr hatte ich aber auch eine andere Einstellung zum Dreck. Was ist schon Dreck? Ich konnte froh sein, ihn überhaupt erleben zu dürfen.
Nichtsdestotrotz, waren mir die Stöcke in manch heiklen Situationen eine sehr gute Hilfe. Ich musste sie allerdings zwischendurch immer wieder wegpacken, um mich nicht zu sehr daran zu gewöhnen. Mein Gleichgewicht verschlechterte sich sofort damit. Darum habe ich am Camino France keine verwendet, um mein Gleichgewicht besser schulen zu können.
Eine weitere, für mich sehr wichtige Frage? Sah ich den Weg als Therapie oder konnte ich ihn auch als wieder Leben sehen. In den letzten Monaten hatte ich ja die Aufgabe, zwischen Leben und Therapie zu unterscheiden. Diese Frage sollte sich als sehr spannend herausstellen. Konnte ich das Pilgern als das Leben sehen oder ist es mehr, wie im letzten Jahr, Therapie?
Die ersten 14 Tage des Camino waren definitiv als Therapie zu sehen. Der Weg war ungewohnt steil, hinauf wie hinunter, es sollte kein Honiglecken werden. Das stand gleich einmal fest.
Bereits die ersten Tage zeigten, dass dieser Camino ein anderer war, als wie ich ihn am Camino France erlebte, den ich als einzigen kannte.
Es war zwar wie erwartet, aber trotzdem kam es unerwartet. Ständiges Auf und Ab überraschte mich trotz aller Vorbereitung. Aufgrund zahlreicher Berichte anderer, erwartete ich es. Allerdings überraschten mich meine Körperdefizite, das Gehen war weit anstrengender als gedacht.
Es war mir unbekannt, wie mein Körper auf diese Menge an Bergen reagierte. Nach drei Jahren Rehabilitation und Training bedeutete noch jeder Hügel und jeder Berg nach wie vor eine Anstrengung, wie ein Höhenbergsteiger in 7-8000 Meter braucht.
Es kam wie es kam. Bergauf kämpfte ich um jeden Meter und bergab ....war es dasselbe. Ich konnte es nicht "laufenlassen". Schritt für Schritt musste ich auch nach unten steigen. Es war gleich anstrengend wie hinauf.
Ich war zwar überrascht, aber gleichzeitig motivierte es mich. Denn nur durch TUN konnte ich Verbesserungen erzielen. Dass es eine Herausforderung werden sollte, wusste ich schon vorher.
Es war überhaupt alles anders, wie am Camino France. Dort war es frühes Aufstehen, dann einige Kilometer bis zur ersten Bar, wo ich Kaffee und Tortillas essen konnte und dann weiter.
Das sollte es hier nicht spielen. Meinen Tagesablauf musste ich umstellen. Als einer der Ersten ging ich gegen sieben Uhr los, das war ungewohnt spät. So früh nehme ich um diese Zeit kein Frühstück zu mir, aber damit wartete bereits die erste große Herausforderung auf mich.
Oft erst gegen Mittag war es möglich, die erste Mahlzeit einzunehmen oder einen Kaffee zu trinken. Bis dahin gab es Nüsse, mein oft trockenes Brot und Wurst. Für solche Fälle hatte ich immer eine Not-Ration dabei, die allerdings zu oft herhalten musste. Es gab viele Herbergen ohne Essen oder Einkaufsmöglichkeit in der Nähe, da musste dann das reichen, was ich als Not-Ration dabei hatte.
Das war eine große Umstellung, denn es gab zwar Dörfer, aber keine mit einer offenen Bar. So konnte ich mich nie darauf verlassen, dass ich bis Mittag etwas zu Essen oder Trinken bekam.
Dieser Camino hielt wirklich jederzeit für mich bereit, was ich brauchte, nicht immer das, was ich mir wünschte. Es war beinahe unheimlich, wie er immer wieder das getroffen hat, was ich WIRKLICH brauchte.
In den letzten beiden Wochen war es ein geflügeltes Wort unter uns. Ich war die letzten beiden Wochen und speziell die letzte Woche mit Günter, einem Bildhauer unterwegs. Wir diskutierten viel über das Leben und das Wie und warum es so und nicht anders, mit uns spielt.
Dieses Reflektieren war für mich besonders wichtig, denn es war ein Austausch möglich, wie es mir die letzten Jahre nicht möglich war. Dieses Reden können war die wohl wichtigste Errungenschaft am Camino. Ich brauchte es und habe es bekommen. Es war kein einseitiges Nehmen, ich konnte auch geben. So wurde es ein Geben und Nehmen, das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Daher ist der Camino in so vielem die beste Therapie. Er ersetzt natürlich keine professionelle Hilfe. Aber ich bin der Meinung, viele Therapien wären nicht nötig, würden die Menschen den Camino gehen.
Ich "therapierte" dasselbe, wie in der Reha. Physio-, Ergo- und Psychotherapie standen hier täglich am Programm und das unter lebensnahen Bedingungen.
Der Camino gibt dir das, was du brauchst. Man wird täglich damit konfrontiert, bis man es lernt. Ich habe enorm viel gelernt. Am Anfang hatte ich besonders Fuß- und Gelenkschmerzen. Füße, Knie und Hüfte stehen für den geraden Gang durchs Leben. Habe ich dort ein Problem, so hindert es mich an etwas.
Kann ich es lösen, verschwinden auch die Probleme. Sie sind nur ein Aufzeiger dafür, das etwas nicht stimmt. Meine anfänglichen Schmerzen verschwanden komplett. Besonders der rechte Fuß machte Schwierigkeiten. Schmerzen hängen mit dem Denken zusammen.
Ich nahm sie für mich als Thema und arbeitete geistig, anstatt eine Ruhepause einzulegen, wie es viele unterwegs vom Arzt geraten bekommen. Ich ging durch den Schmerz durch und löste es geistig. Von einem Tag auf den anderen war der Schmerz weg und ist bis heute nicht wieder gekommen.
Es gibt so viel zu erzählen, aber ich schaffe das noch nicht. Mein Denkvermögen ist noch verringert und um das, was ich denke, auch in Worte oder Sprache umzusetzen, fehlt mir noch der Wortschatz.
Ich werde in einem weiteren Teil darüber mehr berichten.
Ich habe mittlerweile Santiago und Finesterre erreicht. Rund 950 km liegen am Camino del Norte somit hinter mir. Es ist hier für mich hier erträglicher, weil ich mit allem was ich mache, auf mich selbst zurückgeworfen werde. Mein neues Leben geht weiter!
Da ich nicht viel Zeit zum Schreiben habe, berichte ich nur wenig. Ich bin noch unterwegs und das Schreiben erfordert Zeit. Daher gebe ich nur eine schnelle Übersicht. Einen längeren Bericht gibt es später, vorab aber ein paar Fotos.
Eines aber vorweg: Ich habe mein Leben wieder gefunden, zumindest ein Gefühl dafür bekommen. Das ist wohl mein größter Erfolg und das kann ich meinen Mit-Pilgern zuschreiben. Sie unterstützten mich darin so großartig und es zeigte mir ein Leben, dass ich so nicht mehr kannte.
Erstmals war dieses Lebensgefühl stärker, als das Behindert sein. Es war ein wichtiger Schritt in meinem Leben.
Hier ein paar Bilder, in einer Woche dann mehr.