Der Camino France endet in Santiago de Compostela. Für mich also der große Tag. Jeder feiert sein Ankommen, immerhin hat man viele Tage der Pilgerreise hinter sich gebracht und viele Erkenntnisse über das Leben erfahren dürfen. Das Ankommen war für mich aber ein Weitergehen.
Bei mir begann der Tag in der früh am Monto de Gozo, etwa 5 Kilometer vor der Stadt. Ich übernachtete im Kirchlichem Pilgerzentrum und legte von dort die letzten Kilometer vor Santiago zurück. Es war Nebel und die Aussicht auf die Stadt mit der Kathedrale bekam ich in dieser Nebelsuppe nicht zu sehen. Dabei hatte ich mich auf diesen Anblick schon so gefreut.
Es ging durch die Vororte von Santiago, weiter durch die Innenstadt und endlich gelangte man auf den Platz vor der Kathedrale. Viele Menschen tummelten sich davor. Um mich herum tanzten die Menschen und freuten sich, aber in mir regte sich nichts. Ich hatte kein wirkliches Gefühl oder eine Emotion, war abgeschnitten davon.
Es sind Folgen des Hirnabszesses, welche mich vor Überforderung schützen. Es lässt dann nur das wichtigste zu. Emotionen sind nicht darunter. Natürlich freute ich mich irgendwie, aber eben nicht mehr.
Durch die vielen Menschen hatte ich in einen Funktions Modus geschalten. Mein Gehirn ließ nur das Wesentliche zu. Da blieb für Freude nicht viel über.
Das ist auch der Grund, dass ich mich kaum Städten oder Trubel ausgesetzt habe. Für Santiago hatte ich gehofft schon weiter zu sein. Ich musste aber akzeptieren, dass es noch nicht so weit ist. Es war ja schon außergewöhnlich, dass ich den Jakobsweg bis Santiago de Compostela geschafft hatte.
So machte ich ein paar Fotos. Ich konnte aber nicht nachvollziehen, was es für mich bedeutet, den Camino France mit Handicap bewältigt zu haben. Ich war einfach DA und GING dann weiter.
Ich blieb nicht lange am Platz vor der Kathedrale und schaute im Pilger-Office vorbei. Dort erhält man eine Urkunde für den bewältigten Weg. Anhand der Stempel im Pilger-Pass wird der Weg zurückverfolgt. Wenn alles ok ist, wird die Urkunde ausgestellt.
Vorm Office angekommen, war ich überrascht, wie viele Menschen diese Urkunde wollten. Ich ging in den Innenhof und sah eine endlose Schlange. Das hieß, ein bis zwei Stunden anstellen. Dem konnte und wollte ich mich nicht aussetzen. So langes stehen in einer Schlange war mir unmöglich.
Wegen der Hochsensibilität vermied ich ja jede Stadt und Menschenansammlungen sowieso. Damit hatte ich nicht gerechnet. So verzichtete ich auf die Registrierung und Urkunde. Ich bin eh für mich gegangen und nicht um eine Urkunde zu erhalten. So war es nicht weiter schlimm.
Ich suchte mir eine Herberge, wohin ich mich zurückziehen konnte. Was sollte ich jetzt tun? Ein Plan war recht schnell gefunden. Am nächsten Tag sollte es weitergehen nach Finisterre, ans Ende der Welt.
Zwei Schnarcher in der Herberge erleichterten mir den Abschied aus Santiago. Ich frühstückte noch in Sichtweite der Kathedrale und brach dann auf.
Nach Finisterre gelangte ich nach einigen Tagen Fußmarsch. Wie in Santiago, hatte ich auch hier das Gefühl, mein Weg ist noch nicht zu Ende.
Vor mir war nur noch das Meer. Auch hier tanzten einige und man merkte eine ausgelassene Stimmung unter den Pilgern. Man sah gleich, wer den langen Weg zu Fuß gekommen war oder ob es ein Tourist war, der mit dem Auto gekommen ist.
Der Weg ist mein Ziel oder wie es ein Freund treffend formulierte, ich selbst bin das Ziel. Ich wollte mich wieder finden und brauchte nach zwei Jahren eine Auszeit von der Rehabilitation. Die habe ich hier auf eine besondere Art und Weise erhalten.
So sah ich lange auf das Meer hinaus und spürte: Mein Weg ist noch lange nicht zu Ende. Der Jakobsweg hat hier zwar sein Ende gefunden, aber mein Weg geht weiter.
Es hat mir sehr gut getan unterwegs zu sein, trotz der Handicaps. Ich bin an vielen Tagen über meine Grenze gegangen, konnte aber dadurch viele Grenzen an- oder aufheben. Der Hirnabszess hat ja als Lernaufgabe, sich an und manchmal über der Grenze zu bewegen. Nur so kann ich alte Verhaltensmuster wandeln oder ablegen.
Das was ich am Jakobsweg erreichen wollte, habe ich erledigt. Daher gab es auch kein wirkliches Ankommen. Es ist für mich noch recht schwierig, alles richtig einzuordnen. Eigentlich war es eine Wahnsinnsleistung, mit Handicap am Jakobsweg zu bestehen.
Aber wenn ich ehrlich bin, für mich waren die letzten zwei Jahre eine noch größere Leistung. Denn von Null weg an sein Leben neu zu Beginnen, dass ist mit nichts vergleichbar.
5 Monate Leben im Krankenhaus und Monate für die ersten Meter zu Fuß brauchen. Es war in jedem Punkt, wie ein Kleinkind das Leben neu zu beginnen. "Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt!", heißt ein Sprichwort.
Im Nachhinein ehrlich gesagt, war der Jakobsweg eine Erholung gegen die ersten Monate im Krankenhaus.
Ich erinnere mich noch an eine Episode im Krankenhaus. Ich wollte die Türe vom Bett aus erreichen. Normal durfte ich nur in Begleitung einer Krankenschwester aufstehen. Ich war alleine im Zimmer und wollte üben. Ich wollte diese Türe gegenüber dem Fenster erreichen. Vielleicht sechs Meter entfernt.
Ich schwankte vom Bett los. Zentimeter um Zentimeter schob ich meine Beine vorwärts. Alles drehte sich. Der Schwindel kam wie immer plötzlich über mich. Kurz vor der Tür konnte ich nicht mehr und ließ ich mich kontrolliert zu Boden gehen, um zu verschnaufen. Ich war an der Kippe zum Ohnmächtig werden.
Ich war schon zweimal während des Gehens ohnmächtig geworden. Hätte man mich in dem Zustand gefunden, es wären mehrere Tage Bettruhe und das Verbot es zu verlassen, die Folge gewesen.
So übte ich bereits am Anfang an und lotete meine Grenzen aus. Ich probierte immer wieder aus, wie weit ich gehen konnte. Im Denken war ich ja auch eingeschränkt, daher verwirrte es mich, wie lange alles dauert.
Ja, für mich dauerte alles zu lange. Ich brauche noch länger bis ich alles begreife. Das ist keine Sache von Monaten, sondern von Jahren. Deshalb war es auch ein Grenzgang, nach zwei Jahren zum Jakobsweg zu fahren.
Dieser erste Jakobsweg hat mir so viel gegeben, besonders wieder mehr Vertrauen in mich zu bekommen. Wegen der Schädigungen im Hirn kann ich vieles nicht weiter denken. Viele Verbindungen sind gestört. Mein Physiotherapeut hat mir erstmals wieder mehr Vertrauen in mich selbst gegeben. Ich bin übervorsichtig geworden.
Allerdings kann ich nur langsam wieder die Verbindungen im Gehirn aufbauen. Daher tue ich mich schwer nachzuvollziehen, was ich geleistet habe. Es steht auf einer Stufe mit dem, was ich in den vergangenen zwei Jahren gemacht habe oder meinem Weg zur Tür im Krankenhaus.
Ich werde auf jedem Fall weitermachen und vielleicht eines Tages besser verstehen, was es bedeutet hat.
Mein Ankommen war aber somit gleichzeitig ein Weitergehen.
Mein Jakobsweg hat ein paar nüchterne Zahlen. Er ist aber mehr als das, denn für mich zählen die unzähligen Erlebnisse und Erfahrungen, die ich mit Handicap dort machen durfte.
Die Zahlen zeigen es nur Nüchtern:
Ich habe noch nie die genauen Kilometer oder die Anzahl der Tage nachgerechnet. Mir war es wichtiger, unterwegs gewesen zu sein.
Es ging los im Wissen, dass ich nichts wusste. Ich musste ausbrechen, aus zweieinhalb Jahren Therapie, Rehabilitation, Training und Üben.
Dazu kamen Probleme in der Beziehung, die die Sache nicht einfacher machten.
Eines wusste ich allerdings. Im Sommer stand mir ein Rehaklinik-Aufenthalt bevor und ein weiteres Jahr, in dem es um meine weitere Wiederherstellung geht.
Innerhalb von zwei Wochen entschied ich mich zum Camino Frances zu fahren. Zu organisieren hatte ich nicht viel. Ausrüstung hatte ich so gut wie alles von früher. Ich verwendete einfach einen Großteil der Sachen vom Trailrunning. Leichtigkeit war wichtig und da hatte ich schon vorgesorgt.
Einzig über die Anreise musste ich mir Gedanken machen. Aber das sah ich alles als Übung für mein Gehirn. Weiterführendes Denken war gefragt. Einfachste Sachen wie, welcher Bus wohin und welcher Bus folgt dann, hatte ich zum Überlegen. Habe ich genug Zeit zum Umsteigen und so weiter.
Damit beschäftigte ich mich tagelang, bis die Route stand. Allein mit dem Buchen hatte ich lange zu tun. Einmal passierte es, dass ich dieselbe Strecke zweimal buchte und bezahlte, weil ich den Überblick verlor.
Also stand gleich am Anfang einmal das Denken am Programm. Ich ließ mir dabei nicht helfen, sondern wollte es alleine schaffen. Diese Erfahrungen wollte ich selbst machen. Wie im Krankenhaus, als ich mir nicht die Zähne putzen lassen wollte. Vom ersten Tag an putzte ich sie mir selbst, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Die Krankenschwestern waren damals froh über meinen Willen, zeigte es doch, dass ich wollte.
Den gleichen Willen zeigte ich jetzt wieder. Es alleine zu schaffen, bedeutete mir viel. Ich wollte meine Selbstbestimmung zurück und daran arbeite ich auch in Zukunft. Es ist mir egal, wenn mir Fehler unterlaufen. In der Regel kann man sie korrigieren. Und wenn nicht, auch gut.
Das Denken und die richtigen Entscheidungen treffen sollte mich die ersten Tage am Weg begleiten.
Später begann ich, mir nicht zu viele Gedanken zu machen. Ich wollte meinen Kopf leer bekommen. Denn wie gesagt, weiterführendes Denken ist mein Problem.
Im Laufe der Zeit sammelten sich viele Fragen an und diese geisterten immer wieder in mir herum. Es blieb aber bei den Fragen, ich konnte keine Antworten finden. Die Fragen drehten sich im Kreis. Oft lag ich ein, zwei Stunden halbwach und die gleiche Frage drehte sich in meinem Kopf im Kreis.
Ich wollte also im Kopf leer werden. Das ging am besten durch Gehen. Denn noch immer muss ich die Bewegung andenken und bin damit ausgelastet. Das sind Erfahrungen, die ich so nicht kannte.
Je länger ich ging, desto größer war die Chance, leer zu werden.
Früher war ich Spezialist für Multitasking. Als Videojournalist eine Grundvoraussetzung. Allerdings lernte ich nun Multitasking auf einer neuen Ebene kennen.
In meinem Fall bedeutet das, während des Gehen mit jemandem zu sprechen oder eben auch, anderes zu denken. Am Anfang des Gehen lernen war Multitasking für mich, mehrere Muskeln gleichzeitig bedienen zu können.
Deswegen verbraucht man zum Denken gleich viel Energie wie für die Bewegung. Das Hirn ist vergleichbar mit einem Hochleistungs-Muskel.
Meine Bewegung gehört somit untrennbar mit dem Denken zusammen. Übe ich das Eine, trainiere ich genauso das Andere. Ich konnte nur durch Erfahrungen lernen, die ich selber machte.
Drei wertvolle Lektionen habe ich am Camino vermittelt bekommen. Der Weg bietet so viel. Er hält für jeden etwas parat. Er spiegelt wider, worum es im täglichen Leben wirklich geht.
Habe ich was zum Anziehen, ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen. Um diese Dinge dreht sich im Wesentlichen alles. Er zeigt weitere Feinheiten des Lebens auf, die wir in unserer schnelllebigen Zeit oft nicht mehr wahrnehmen.
1. Der Weg ist das Ziel
Es war wichtig, die am Weg gewonnenen Erkenntnisse aufzunehmen. Natürlich gibt es am Jakobsweg das Ziel, nämlich Santiago de Compostela oder Finistère zu erreichen.
Dort wollte auch ich hin. Aber meine Ziele lagen nicht im Erreichen eines Ortes, sondern meine waren am Weg.
2. Auf einen Sonnenuntergang folgt ein Sonnenaufgang
Der ewige Kreislauf der Natur, der aber auch der unsrige ist.
Oft werden wir von vermeintlich schlimmem Schicksal getroffen. Aber alles hat auch was Gutes in sich. Wir können es oft nur nicht gleich erkennen.
3. Achtsamkeit
Achtsamkeit wurde seit dem Hirnabszess ein Teil von mir. Ohne Achtsamkeit geht gar nichts. Ich bin voll und ganz dort, was ich mache. UND NUR dort.
Achtsames Gehen ist am Camino mein bevorzugtes Training gewesen.
Thich Nhat Hanh, Zen Meister und Vater der Geh-Meditation sagte: "Stellt euch vor, dass dort, wo eure Füße den Boden berühren, Blumen wachsen!"
Für mich eine schöne Vorstellung:
Vor mir gehen gerade viele Menschen. Es wäre ein lustiges buntes Bild, wenn jeder einen Blumenteppich auf seinem Weg zurücklassen würde.
Ein Beispiel am Camino: Ich war während des Gehens nicht bei mir und dachte gerade an eine mich belastende Situation. Ich knöchelte um und stürzte. Ich war nicht beim Gehen. Wenn uns etwas passiert, dann sind wir mit den Gedanken meist woanders. Beobachtet das einmal?
Darum, alles Achtsam ausführen und versuchen Achtsamkeit ins Leben zu bringen. Eile mit Weile!
Für den zweiten Teil, nach der Reha, hatte ich mir mehrere Aufgaben gestellt. Eine war davon, dass ich mich mehr mit den Menschen auseinandersetzen wollte. Diese Erfahrungen konnte ich nur Step by Step machen.
Am Anfang probierte ich es, musste aber bald einsehen, dass es mich noch immer zu sehr belastete. So blieb ich bald wieder für mich alleine und suchte kaum Bekanntschaften oder Gespräche am Weg.
Ich musste einsehen, dass ich noch nicht so weit war. Es ließ mich halt wieder nur einen Teil des Camino erleben.
Denn hier hat jeder Mensch eine Geschichte im Hintergrund, die ihn hergeführt hat. Krankheit, Beziehungen, der Weg zu sich selbst oder sich einer Herausforderung zu stellen, sind nur ein paar davon. Und mit manchen teilt man seine Geschichten. Das ist das Einzigartige am Camino.
Für mich ein bedeutendes Erlebnis war das Aufeinander treffen mit Heather, einer Kanadierin und Schriftstellerin. Wir unterhielten uns stundenlang beim Gehen am Camino. Sie verarbeitete ihre Krankheit in einem Buch und ermutigte mich, dasselbe auch zu tun. Immerhin kam sie damit in Kanada auf die Amazon Bestenliste.
Solche und andere Begegnungen machen den Camino so besonders.
Die Städte waren erneut eine große Herausforderung. Ursprünglich wollte ich in Astorga ein oder zwei Tage bleiben, um mich nach der Reha wieder ans Freie zu gewöhnen.
Aber ich merkte schnell, dass es mehr Stress bedeutete, als das es mir was brachte. So übernachtete ich dort nur und zog gleich am nächsten Tag in der Früh los. Der Camino hatte mich wieder. Auf manche Erfahrungen musste ich eben noch verzichten.
Meine Haut wurde in der Reha wieder sehr dünn. Wahrscheinlich war es der wochenlange Aufenthalt, in dem ich kaum ins Freie kam. Am Camino spürte ich innerhalb weniger Tage eine Verbesserung. Man konnte mir sofort ansehen, dass mir das Gehen hier guttat.
Leider wurde es auch diesmal nichts mit Sightseeing. Städte durchwanderte ich und schlief in einsamen Herbergen am Land. Oft war ich nur zu zweit oder dritt in einer Herberge. Das tat gut.
Das sollte sich allerdings ab Sarria ändern. Es kommen hier mehrere Wege zusammen und es starten auch viele hier ihren Weg.
Von einem auf den anderen Tag waren Horden von Pilger-Touristen unterwegs. Vorbei war es mit der Einsamkeit. Erst zu Mittag ließ es nach und ich hatte den Nachmittag wieder für mich.
Die Berge flößten mir Respekt ein. Ging es doch in Höhen von 1.500 Metern. Allerdings begann ich bereits in 800 Meter Seehöhe.
Bei Tagesanbruch, um 8 Uhr, musste man die Herberge verlassen. Ich startete langsam, denn meine Nerven brauchen Wärme. So trödelte ich den Vormittag meist dahin und begann zu Mittag meinen Weg, wenn es heiß wurde.
Es war entgegen dem Rhythmus der anderen Pilger, die meist schon am späten Mittag ihr Ziel erreichten.
Für mich war es gut, alleine zu sein. Denn ich konnte nur langsam die Berge hochgehen. Step by Step, war mein Motto und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Alle paar hundert Meter machte, ich pause. Gleich einer Schnecke kroch ich die Berge rauf und runter.
Die Langsamkeit hatte aber einen Nebeneffekt. Das Gleichgewichtsgefühl hatte in der Langsamkeit seine Schwierigkeiten. Ich ließ mich aber nicht beirren und ging wirklich achtsam Schritt für Schritt. Bergab war es dann das Gleiche.
Jeder Tag bot mir die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen!
Es war mir wichtig, gleich nach der Reha wieder zum Camino zu fahren. Ich wollte mich einer weiteren Herausforderung stellen und das in der Reha gelernte umsetzen und weiter Fortführen.
Der Jakobsweg ist dazu optimal geeignet, weil man doch in einem recht sicheren Umfeld aufgehoben ist. Dazu kann ich den Alltag unter realen Bedingungen trainieren, wie mir auch die Konfrontation mit anderen Menschen helfen soll.
Die Städte und den Trubel meide ich aber nach wie vor, obwohl ich es mir anders vorgenommen hatte. Es stresst mich doch zu sehr. Noch bevorzuge ich den Aufenthalt in der Natur.
Ein weiterer Grund meiner mittlerweile schon sehr langen Abwesenheit von zu Hause ist der, dass Silvia und ich uns über unsere Beziehung klar werden müssen.
Die Krankheit hat unser Leben total durcheinander gewürfelt. Kein Stein blieb auf dem anderen. Für mich stand von Anfang an fest, ein Neubeginn musste her. Anders ist es für mich nicht bewältigbar. Eine Herausforderung der besonderen Art in meinem Leben.
Silvia konnte keinen Neubeginn mitmachen. Ein Hinderungsgrund ist die passierte Vergangenheit. Sie hat viel gegeben, aber jetzt ist die Luft draußen und sie kann nicht mehr.
Es ist schwer für mich zu Erkennen, aber auch zu Verstehen, dass wir beide in einer unterschiedlichen Realität leben. Jeder Mensch hat seine eigene und sie hat diese Zeit anders wahrgenommen als ich und anders darauf reagiert.
Deshalb auch der Jakobsweg. Er bildet für mich einen Neubeginn im Neubeginn. Mein "Weg zurück ins Leben" hat rückschauend mit dem ersten Jakobsweg im Juni noch einmal begonnen.
Der Camino zeigt mir dieses mal aber meine noch immer vorhandenen Grenzen und Defizite auf. Nämlich vor allem, wie schnell ich gedanklich eben auf diese stoße.
Überlegungen in die Zukunft oder der Vergangenheit sind noch immer kaum möglich. Der Hirnabszess hat ganze Arbeit geleistet. Er hält mich ausschließlich im Jetzt gefangen.
Was ja nicht schlecht ist, denn nur so ist es mir möglich, die Krankheit, oder besser gesagt deren Auswirkungen, zu bewältigen. Das ist aber für mein Umfeld schwer zu verstehen, wenn ich wieder einmal anders reagiere als erwartet.
Anderweitige Herausforderungen sind für mich gedanklich noch immer kaum zu lösen. Mit der beruflichen Zukunft kann ich mich zum Beispiel noch immer nicht auseinandersetzen. Es war in der Reha Thema, aber es ging einfach nicht.
Ich versuche es am Camino zwar immer wieder, aber es baut sich eine weiße Wand vor mir auf und es beginnt sich die Frage im Kreis zu drehen, weiter komme ich nicht. Da heißt es dann schnell aussteigen, denn sonst hält mich die Frage gefangen.
Was für den Beruf gilt, dass gilt auch für die Beziehung und das meiste andere. Ich kann nur auf das JETZT reagieren, aber nicht vorausschauend oder Rückwirkend Entscheidungen treffen.
Ich verstehe das Problem oder Schwierigkeiten, kann aber keine weiterführenden Gedanken dazu aufbauen. Ich kann keine Lösungen andenken oder sonstwie was damit machen. Ich kann es nur sein lassen und darauf reagieren, was ist. Das kann deprimierend sein, wenn ich es nicht schaffe, es so wie es ist, es sein zu lassen. Oft möchte ich zuviel.
Darüber kann ich zwar schreiben oder reden, aber eben nicht mehr.
Es geht nur um das IST, nicht um das was sein sollte, sein kann oder sein wird. Ich kann es nur SEIN lassen, so hart das manchmal auch ist.
Es geht auch bei allem um Resilienz. Böse Worte, Kränkungen und vergangene Ereignisse können eine tiefe Wunde bleiben. Selbst die Zeit kann sie nicht heilen, wenn wir nicht diese Resilienz in uns haben. Es ist ein Ballast oder eine Last, die wir dann tragen müssen.
Vergessen kann ein Seegen sein. Alles uns schlecht widerfahrene einfach vergessen können. Wenn es nur so einfach wäre.
Mein Gehirn schützt mich davor und lässt deswegen keine Gedanken an die Vergangenheit oder die Zukunft zu. Das ist für viele nicht verständlich und auch für mich ist es eigenartig darüber zu Schreiben, aber nicht über die Sache selbst denken zu können.
Denn Bewusst ist es mir ja, ich kann aber dazu keine Emotion aufbauen. Das sind eben die vielen Baustellen in meinem Körper, wo ich oft nicht weiß, wo ansetzen. Mit dem Denken stehe ich oft vor großen Herausforderungen, deshalb ist es mir wichtig. Aber gleich wie in der Bewegung, sind auch hier nur langsame Fortschritte möglich.
Es so zu nehmen, wie es ist, ist die große Herausforderung. Ich darf nie vergessen, vor noch nicht allzu langer Zeit war ein Hirnabszess ein Todesurteil. Ich habe aber überlebt und darf Leben.
Diesen richtigen Umgang mit der Resilienz, also dem Umgang mit schmerzliche Erinnerungen, muss ich erst wieder lernen. Erst dann kann ich mit Rückschlägen richtig umgehen und wieder zurück in ein erfülltes Leben finden. Diese Herausforderung heißt es annehmen.
Mein damaliges Denken führte zum Hirnabszess. Dieses Denken musste ich umstellen, damit war ein Neustart unabdinglich. Mein altes Denken und Tun zu behalten, hätte nur unweigerlich in einer Fortsetzung ähnlicher Probleme geendet.
Deswegen ist der Jakobsweg so ideal für mich. Hier darf ich voll und ganz im JETZT leben. Schweife ich ab, zeigt er mir das sofort auf.
Stolpern oder vom Weg abweichen ist ein Anzeichen. Meistens war ich dann NICHT im Hier und Jetzt. Ich lernte, im Augenblick zu verweilen.
Diesmal führt mich der Weg durch die Berge von Galizien. Von Astorga nach Santiago de Compostela.
Zuhause wären es schöne Wanderwege, aber hier stellen Sie eine besondere Herausforderung an mich dar.
Für machen ist es eher befremdlich. Um am 800 Kilometer langen Camino France zu gehen, ist Gehen zu können doch eine Voraussetzung.
Nicht so für mich. Es ist eine großartige Möglichkeit, die vielen in der Reha gelernten Fähigkeiten täglich zu üben. Und wie in der Klinik, mich ausschließlich darauf konzentrieren zu können.
Es ist eine Freiluft-Reha und am liebsten würde ich solange hierbleiben, bis eine wesentliche Verbesserung meines Zustandes eintritt.
War die Meseta größtenteils eben, geht es hier ständig bergauf und bergab. Eine Reihe von Gebirgszügen sind zu überqueren, die eine besondere Herausforderung sind.
Mehrere Kilometer lange Steigungen lassen mich nur langsam vorwärts kommen. Hier kann ich aber besonders gut die in der Reha geübte Technik einsetzen.
Hinzu kommt, dass man am Weg immer wieder auf Pilger trifft, mit denen man sich mal kurz oder auch länger unterhält.
Das fördert das Multitasking. Ich muss ja jede Bewegung denken, denn automatisch gehen kann ich noch nicht. Zumindest auf Asphalt oder einer guter Schotterstraße kann ich nebenbei schon reden.
Allerdings bringen mich kleine Unebenheiten im Asphalt schnell ins Straucheln, stoppt mein Sprechen und ich falle mit den Gedanken zum Gehen.
Trotzdem versuche ich mich dem Stolpern auszusetzen, denn nur durch das ständige Tun kann ich mich verbessern. Auch das Heben der Fußschaufel des gelähmten rechten Fußes hat sich gebessert. Dank intensiver Strom-Therapie in der Reha, konnte ich hier merkbare Verbesserungen erzielen.
Bisher war es so, dass ich im Bewegungsablauf oft vergaß, den Fuß weit genug zu heben und am Boden oder über kleine Steine stolperte. Diese Verbesserung hilft mir natürlich sehr, da die Wege steinig und schlecht sind. Kleine Schritte zu mehr Automatismus.
Ich habe entgegen der Ankündigung mehr mit der Hand zu Schreiben trotzdem eine kleine Tastatur mitgenommen. Allerdings kein Tablet mehr. Ich mache alles am Smartphone.
Ich schreibe jetzt zwar mehr mit der Hand, aber noch mehr mit der Tastatur. Längere Texte sind mit der Hand einfach noch nicht möglich und dauern zu lange.
Gedanken muss ich möglichst schnell festhalten, denn ich kann mich oft während des Schreibens nicht mehr erinnern, was ich schreiben wollte. Zu sehr vertieft bin ich ins richtige Schreiben. Hier funtioniert Multitasking noch nicht.
Mein Tagesablauf hat sich gegenüber dem Ersten mal im Juni/Juli sehr verändert. Allerdings gezwungenermaßen und der Jahreszeit geschuldet. Es wird später hell und ist bis weit in den Mittag kühl.
Das kommt mir nicht sehr entgegen, da meine Nerven die Hitze brauchen, die erst am Nachmittag da ist. Allerdings sind die Herbergen in der Regel um 8 Uhr zu verlassen. Dann schlendere ich mit vielen Pausen dahin, trinke unterwegs Kaffee in einer Bar, schreibe und versuche den Vormittag zu vertreiben, bis es wärmer ist.
Allerdings muss ich auch Energie sparen, denn das Gehen verlege ich größtenteils auf den Nachmittag. Ab Mittag fällt meine Konzentration allerdings rapide ab. Daher muss ich gut mit meiner Energie haushalten.
Die Berge sind mein liebstes, obwohl ich auch dem Meer nicht abgeneigt bin.
Da ich keinen Zeitdruck habe, ist es egal wie weit ich täglich komme. Es geht um das Gesund werden, nicht um das erreichen eines Ortes. Santiago ist ein Nebenziel, welches sich automatisch ergibt.
Ich werde auch von Santiago nach Finesterre wandern, bis ans Ende der Welt.
Es gibt also Pläne, aber keine Zeiteinteilung. Der nächste Tag ist für mich schon so weit weg, wie soll ich dann begreifen was nächste Woche oder nächstes Monat sein soll.
Daher lasse ich alles auf mich zukommen und nehme jede neue Herausforderung so wie es ist. Ob am Jakobsweg, die Beziehung, essentielles wie Quartier, Essen oder den Weg. Ich weiß am Morgen nie, was der Tag bringen wird, wohin oder wie weit ich gehe oder ob ich einen Rast-Tag einlege. Auch die Stimmung ändert sich täglich. Ich lasse mich also Tag für Tag überraschen.
Alles in allem unter dem Gesichtspunkt: "STEP by STEP!"
Beides wurde zu einem wichtigen Teil meines Lebens, der Jakobsweg vor und das Trailrunning nach dem Hirnabszess.
Beides ist eine Motivation fürs TUN gewesen. Immer weitermachen, denn Aufgeben ist und war nie eine Thema für mich.
Ich lag im Bett, die rechte Seite gelähmt, konnte nicht gehen und nicht denken. Trotzdem kam mir ein Bild immer wieder vor Augen. Der Eiger Ultra Trail. Dort wieder mitzulaufen, war meine tägliche Motivation. Deshalb auch der Blog-Name "von0auf101", der Beginn von 0 und die Distanz vom Eiger Ultra Trail.
Ich benötigte zweieinhalb Jahre Reha und Training, um zum Jakobsweg zu gelangen. Noch mehr schlecht als recht, aber ich war unterwegs und es hat mir sehr gutgetan.
Viele waren überrascht und dachten, ich hätte die Krankheit überstanden. Dem ist aber nicht so.
Es war ein Ausbruch aus dem Alltag, den ich nicht mehr ausgehalten habe. Zwei Jahre nur Reha, Training und Üben lagen hinter mir. In dieser Zeit habe ich alles für meine Rehabilitation gegeben, da ich wusste, dass in den ersten zwei Jahren die meisten Verbesserungen zu erwarten waren.
Ja, ich habe viel erreicht, mehr als viele vielleicht gedacht haben. Mir selbst war es oft zu wenig, denn ich musste erst realisieren, was überhaupt passiert ist. Ich hatte keine Grippe, mit 14 Tagen Pause. Das wurde mir erst viel später bewusst. Mein Gehirn war stärker als gedacht betroffen, die Bewegung sowieso und mit der Wahrnehmung habe ich auch heute noch meine Probleme.
Von Anfang an habe ich begonnen, mit der Kraft der Vorstellung zu arbeiten. Das war notwendig, weil ich nicht in die Vergangenheit oder Zukunft denken konnte. Ich konnte nur auf das reagieren, mit dem ich direkt vor mir konfrontiert war. An Vergangenes zu denken, war mir nicht möglich.
Die Vorstellung war mir allerdings möglich. Immer wieder stellte ich mir vor, wie ich leicht und federnd durch den Wald lief. Dazwischen sprang ich über Wurzeln oder schmale, steile, steinige Trails bergab. Aber nicht nur die Vorstellung, sondern auch das dazugehörige Gefühl war wichtig.
Diese Kraft der Vorstellung, ist auch heute noch ein wichtiger Teil meines Übens.
Die letzten Jahre vor dem Hirnabszess haben mir sicher sehr geholfen, denn das Trailrunning schult besonders viele Punkte, die ich jetzt zwar wieder lernen muss, früher aber gut beherrschte. Dazu zählt in erster Linie das Gleichgewicht, dass ich wieder lernen muss.
Die Aussage eines Therapeuten in der Reha bestätigte mir das. Er meinte dazu: "Was wir in einer Einheit erledigten, muss ich mit anderen 14 Tage lang üben!".
Dieses Bewegungsgefühl habe ich durch das Laufen besonders gut trainiert und dass ich einige Jahre davor mit dem Trailrunning begann, war mein Glück. Es vereint so vieles und besonders mit dem Gleichgewicht habe ich trotz der noch immer großen Schwierigkeiten enorm viel weitergebracht.
Laufen kann ich noch immer nicht, daher wollte ich aus bekannten Gründen Pilgern. Wobei aus dem Pilgern mehr als ein Zwischenziel geworden ist.
Norbert Wastian, vom Trailrunning Szene Magazin sagte mir: "Es muss nicht immer Trailrunning sein, mach eben Trail-Gehen oder Trail-Wandern daraus!".
Das hat mir geholfen und ich machte eben Trail-Pilgern daraus. Schnelligkeit ist dabei nicht wichtig für mich, wenn ich es auch geliebt habe, große Strecken im Gebirge am Stück zurückzulegen.
Beim Pilgern habe ich viele Elemente für mich drinnen, vor allem achtsam unterwegs zu sein. Das kommt meiner Langsamkeit entgegen, Trail-Gehen statt Trailrunning eben.
Das Dranbleiben habe ich in meiner Sportkarriere schon früh kennengelernt und trainiert. Ich bin quasi darauf konditioniert. Daher kam ein Aufgeben im Krankenhaus nicht infrage und auch jetzt nicht.
Allerdings darf eines nicht darüber hinwegtäuschen, es war eine schwere Krankheit und wird noch viel Zeit brauchen. Denn so etwas ungeschehen zu machen, gelingt selbst mir nicht. Nervenleitungen sind unwiederbringlich zerstört worden und vieles wird nur möglich, durchs dran bleiben.
Was ich gerne mitgeben möchte ist, NIE AUFGEBEN!
Denn weiter unten wie Null, gibt es nicht, außer den Tod. Aber wie viele geben schon wesentlich früher auf?
Ich kann es gar nicht oft genug sagen:
Nach sechs Wochen intensiver Rehab bin ich nun endlich wieder zu Hause. Es war eine tolle und lehrreiche Zeit für mich. Ich war jeden Tag voll motiviert das bestmögliche aus den Therapien herauszuholen.
Die nächsten Wochen werden zeigen, was ich davon umsetzen kann. Es geht nämlich zurück zum Jakobsweg, von Astorga nach Santiago de Compostela.
Ich brauche jetzt nach der Rehab dringend Erholung. Wo fände ich die besser, als am Jakobsweg. Zu Hause bin ich ja erst nur wieder konfrontiert mit dem Alltag, der meiner Genesung nicht förderlich ist.
Aus diesem Grund habe ich beschlossen, zum Jakobsweg zu fahren. Der Jakobsweg ist aber gleichzeitig Therapie.
Nach der Reha bin ich jetzt einmal nur körperlich fertig. Wenn ich schaue, was sich getan hat, so ist das wertvollste das ich bekommen habe, dass ich Vertrauen in meine Fähigkeiten haben darf. Gerade in der Bewegung habe ich dieses Vertrauen nicht. In der Reha wurde aber versucht, es mir zu vermitteln.
Meine Komfortzone zu verlassen, bedeutet aber oft mehrere Tage Pause, um mich wieder zu erholen. Das für mich schönste Erlebnis war, dass ich seit März 2016 wieder zum Ersten mal gelaufen bin. Laufen natürlich mit Einschränkungen. Etwa 20 Meter bin ich 6 mal hin- und hergelaufen. Dazwischen immer mit Pausen, denn nach 20 Metern keuchte ich wie ein 100 Meter Läufer.
Mein Physiotherapeut brachte mir den Bewegungsablauf bei. Die körperlichen Defizite der Muskeln sind natürlich ein Hinderungsgrund. Es lässt sich nur sehr langsam Kraft aufbauen. Außerdem ist die Gefahr groß, schwindlig zu werden. Trotzdem wurde es ein besonderes Erlebnis, Laufen zumindest wieder zu versuchen.
Im Anschluss an diese 30 minütige Therapieeinheit, musste ich mit dem Lift zurück ins Zimmer fahren. Das war es aber wert. Es wird allerdings noch lange dauern, bis ich Laufen kann. Aber Zeit ist mittlerweile egal. Ich rechne mit 2 Jahren, bis ich wieder beginnen zu Laufen kann.
Zunächst geht es aber zum Jakobsweg, wo ich vieles in der Reha gelerntes, umsetzen kann.
Es warten wieder viele Erlebnisse auf mich, denn dort muss ich immer wieder meine Komfortzone verlassen. Trotzdem bin ich in einer geschützten Umgebung. In manchen Dingen bin ich eben noch auf Hilfe angewiesen. So bekommt aber auch meine Familie ein bisschen Ruhepause.
"Auf der materiellen Ebene braucht man natürlich Zeit, um von hier nach dort zu gelangen, aber auf der psychischen Ebene existiert keine Zeit. Das ist eine ungeheuerliche Wahrheit, eine ungeheuer wichtige Tatsache, und wenn man sie entdeckt hat, hat man sich von allen Traditionen freigemacht."
Jiddu Krshnamurti
Sechs Wochen Reha Aufenthalt. Man konnte mir gewisse Verbesserungen in kurzer Zeit zeigen und welche Erkenntnisse ich daraus gewonnen habe.
Es wurde speziell am Gehen und Bewegen gearbeitet, aber auch an der Psychologischen Diagnose, sprich Reaktion und Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit.
Ich komme mir hier vor wie früher im Radtrainingslager. Damals standen meistens zwei Blöcke Rad, Massieren, Stretching, Materialpflege und Essen an. Alles wurde dem Ziel, besser zu werden, untergeordnet.
Es ist jetzt das gleiche Ziel, aber andere Rahmenbedingungen. Ich habe nochmal auf der Stufe eines Kleinkindes begonnen. Bewegungsabläufe, Denken, Automatisieren, alles was ich schon als Kleinkind gelernt hatte. Und dieses lernen hat auch fast zweieinhalb Jahre noch kein Ende.
Ab und zu hadere ich mit mir, wenn etwas nicht so geht, wie ich es will. Aber das ist nicht oft. In Wirklichkeit habe ich gar keine Zeit für negative Gedanken. So etwas hält nur auf.
Meinem Physiotherapeuten Markus bin ich sehr dankbar. Die mit ihm verbrachten Einheiten schätze ich am meisten. Er bringt mir bei, wieder mehr Vertrauen ins Gehen und Bewegen zu haben. Ich habe mit ihm Übungen gemacht, die weit über meinem Können liegen. Aber gerade das bringt mir Vertrauen, dass ich es kann.
In den kommenden Wochen und Monaten kann ich daran arbeiten und habe das Vertrauen, es zu können.
Am meisten profitierte ich von der Physio- und Ergotherapie. Die Bewegung ist für mich einer der wichtigsten Teile, um zurück ins Leben zu gelangen. Diese Erkenntnisse helfen mir sehr weiter.
Auf jede einzelne Einheit mit meinem Physiotherapeuten Markus freute ich mich. In Summe gesehen, habe ich über diese sechs Wochen in der Physio das meiste mitgenommen. In erster Linie hat er mir wieder Vertrauen in mich selbst gegeben.
Mein Problem war, dass ich mit dem Schwerpunkt beim Gehen zu weit hinten liege. Ich gewöhnte mir das im Krankenhaus an. Ich hatte Kraft und Motorik neu zu lernen und aus der Vorsicht, nicht zu stürzen, gewöhnte ich mir diese Haltung an.
Diesen Schwerpunkt zu verlagern, erfordert viel Vertrauen in mich und Kraft, die ich aber noch nicht habe. Bergab gehen ist zum Beispiel gleich anstrengend wie bergauf. Einfach gesagt, die Nase vorn lassen, würde oft schon reichen. Aber in mir sitzt die Angst, zu stürzen. Und diese Angst heißt es abzulegen. Meinen Schwerpunkt wieder mehr nach vorne zu verlegen.
Im Fernsehbeitrag von Puls4 sieht man sehr gut mein eckiges und schwerpunktmäßig nach hinten geneigtes Gehen.
Ein großes Problem ist für mich noch das Steigen. Stiegen steigen, über eine Lacke steigen, egal ob hoch oder weit. Wir übten es hier unter sicheren Umständen. Vor allem auch das Vertrauen in mich, es zu können. Das Können aber mit Einschränkungen. Meine Muskeln kann ich nicht überlisten, sie sind noch zu schwach. Es sind viele neue Erkenntnisse, an denen ich die nächsten Monate gezielt arbeiten kann.
Ich stieg fast Kniehoch und bekam die Technik dazu. Es war super anstrengend und nach einigen Versuchen war Ende. Dazu lernte ich noch, wieder hinunter zu springen. Denn ich muss erst wieder die Technik lernen. Körperneigung und vor allem die Landung zu überstehen.
Am Jakobsweg waren große Lacken noch mein Problem. Ich lernte jetzt, mich vom Boden abzudrücken, also abzuspringen. Das klingt so einfach, aber es war wiederum derart anstrengend, dass ich am nächsten Tag fast nicht gehen konnte. Ich hatte keinen Muskelkater, aber ich war so müde und hatte keine Kraft in den Beinen.
Solche Therapieeinheiten, mit Steigen und Springen, kosten mir immens viel Energie und ich brauche oft mehrere Tage, um mich davon zu Erholen.
Da ich hier sehr intensive Einheiten trainierte, war ich auch recht schnell erschöpft. Zu Mittag hatte ich eigentlich schon alles verbraucht und die Nachmittagseinheiten konnte ich nur mehr mit halber Kraft tätigen.
Die Energie ist halt zu Ende, bevor der Tag zu Ende ist. So ist alles, was ich mache, eben ein Grenzgang. Denn wenn die Energie aus ist, wird alles danach zum Grenzgang.
Das Gehirn kostet gleich viel Energie, wie die Bewegung. Daher musste ich auch hier darauf achten, für gut einzuteilen. Denn das Denken ist ebenfalls ein Schwerpunkt in Zukunft.
Nach 20 Minuten Training am Computer, wo es um Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ging, fühlte ich mich wie nach einem Krafttraining. Ich war erledigt. Die Erkenntnisse für mich waren, das Verbesserungen möglich sind, aber noch viel Üben notwendig ist.
Ich konnte mich in der Merkfähigkeit bessern, bin aber noch weit weg von vorher. Wobei ich das Vorher nicht als Maßstab nehmen darf.
Obwohl ich in allem von Null begann, startete ich von einem hohen Ausgangslevel. Mein früheres Leben als Sportler kam mir dabei zu Hilfe. Gerade körperlich ist mir sicher mehr möglich, als anderen. Darum war es für manche sehr verwunderlich, dass ich zum Jakobsweg fuhr.
Ich legte aber im Sport den Grundstein, dass ich die Folgen des Hirnabszesses so überstehen konnte. Mir ist es heute noch nicht bewusst, dass ich damals ums Überleben rang. Das ist ein Phänomen, das ich zwar darüber schreiben und reden kann, aber so, als ob es um eine andere Person geht. Es ist mir so fern, dass ich es selbst noch gar nicht realisieren oder nachvollziehen kann. Als ob ich davor geschützt werden sollte, darüber nachzudenken.
Es bringt in Wirklichkeit auch nichts. Wozu mir über etwas Gedanken machen, dass nichts bringt? Eigentlich logisch. Es würde nur Energie kosten, die ich doch für meine Rehab brauche.
Über manche Sachen kann ich einfach nicht nachdenken. Eine weiße Wand ist plötzlich da und es dreht sich die Frage immer im Kreis. Zumindest kann ich relativ schnell schon davon aussteigen. Denn wie gesagt, Energie ist nur beschränkt da, warum sie also für Sachen vergeuden, die ich nicht denken kann.
Zurück zum Niveau. Auf viele andere mache ich einen guten Eindruck, der aber täuscht. In mir drinnen sieht es anders aus. Es ist eine Frage des Niveaus. Als Videojournalist war die Arbeit für mich normal, aber in Wirklichkeit arbeitete ich auf einem sehr hohen Niveau. Dieses kann ich jetzt nicht mehr als Maßstab nehmen.
Ich kann mir aber auch nicht das Niveau anderer aneignen. Ich habe mich selbst zu finden, unabhängig davon, was das Niveau anderer ist. Dabei stoße ich auf Grenzen von außen. Ich bin gleich behindert, aber auf einem anderen Niveau. Damit muss ich erst einmal klar kommen und verstehen was das heißt. Aber dieses Verstehen macht es mir schwer. Ich kann es noch nicht.
Wenn ich das hier schreibe, kommt mir öfters das Lachen. Es ist sehr verwirrend, was ich meine. Ich kann es nur mit meinen Worten wiedergeben und kann nicht darüber nachdenken, ob es überhaupt wer versteht. Ich verstehe ja selbst so viel noch nicht.
Aber es tut gut, darüber zu Schreiben. Denn oft wird mir nach einigen Tagen etwas klarer, wenn ich es noch einmal durchlese. Natürlich könnte ich das auch im Tagebuch machen. Aber vielleicht wird so mehr Verständnis geweckt, gegenüber Personen, die in einer ähnlichen Lage wie ich sind. Dann hätte ich schon viel erreicht mit meinem Blog.
Damit schließe ich für heute, denn ich muss mir noch Energie aufsparen für die letzten Tage der Therapie. Neue und andere Gedanken, sowie weitere Erkenntnisse das Nächste mal.
"Man kann die Erkenntnisse der Medizin auf eine knappe Formel bringen: Wasser, mäßig genossen, ist unschädlich"
Mark Twain
Zwei Jahre dauert jetzt schon mein Weg zurück ins Leben und noch ist kein Ende in Sicht. Ende August 2016 kam ich, nach 5 Monaten Aufenthalt im Krankenhaus nach Hause.
Mein Weg zurück ins Leben hat begonnen, von dem ich aber noch immer keine Ahnung habe, wie lange er dauern wird. Daher ist es wieder einmal an der Zeit, einen Zwischenstand zu erheben.
Das ist immer schwer zu sagen, seit Anfang an. Als Ausgangspunkt nehme ich die ersten Tage zu Hause, nach dem Krankenhaus, als Vergleich dazu.
Wenn ich sehe, was sich seit damals getan hat, so kann ich auf der einen Seite sagen, es hat sich viel getan. Auf der anderen Seite muss man das immer in der Relation sehen. Und diese Relation ist so anders, als das allgemeine Verständnis.
Und dazu gibt es das Wörtchen ABER. Als Beispiel: Ich kann von außen gesehen gehen, aber .......!
Es sind die Relationen, die in meinem Fall gerne verkannt werden. Gehen ist zum Beispiel nicht unbedingt Gehen. Das musste ich kennen und erfahren lernen. Ich habe mich bisher nur fortbewegt. Gehen beginnt jetzt. Darum lerne ich noch immer Gehen und das seit über zwei Jahren.
Alle Zeiterfahrungen gelten nicht mehr. Zeit hat eine andere Bedeutung bekommen.
Mein Zwischenstand ist also immer in Relation zu sehen.
(Zum Beitrag: Die Sehnsucht nach dem Gehen)
Ein bisschen anders schaut die andere Seite aus. Dieses "viel getan" muss man in der Relation sehen. Mir selbst wurde es nur nach und nach bewusst, wie schwer die Defizite nach dem Hirnabszess wirklich sind. Ich bin ja noch immer vor zu vielem Denken geschützt. Ich verstehe nur so viel, wie mir zumutbar ist. Vieles kann ich noch nicht einordnen oder muss es neu lernen.
Besonders das Denken ist noch immer mein großes Handicap. Hier merke ich am leichtesten, wenn ich ans Limit stoße. Mein Gehirn lässt nur eine gewisse Menge Denken zu, dann schaltet es ab. Es lässt es gar nicht zu, dass ich mehr, als ich vielleicht möchte, denken kann. Mein Zwischenstand im Denken ist der, dass ich viel erreicht habe und noch viel lernen muss, möchte ich je wieder etwas arbeiten oder nur mit Lebensqualität leben.
Hier muss ich großen Dank an meinen Physiotherapeuten aussprechen. Er begleitet mich in der Reha und vermittelt mir, wieder Vertrauen in mich zu finden. Ich habe für Monate Übungen, die mir mehr Vertrauen in die Bewegung geben. Erneut heißt es aber: Üben, üben und üben. Jetzt geht es langsam wirklich ans Gehen. Im Nachhinein ist bisher alles unter Fortbewegen gefallen. Richtiges Gehen ist wesentlich komplizierter.
Zuerst war ich froh, mich überhaupt fortbewegen zu können. Ich musste erst lernen, dass ich keinen Schritt auslassen kann. Alles braucht seine Zeit und überspringen geht nicht.
Es ist alles ein sehr komplexer Vorgang und ich neige dazu, über alles nachzudenken. Das hat natürlich mit meinem Alter zu tun, aber auch das Kind in mir zuzulassen. Ich glaube nicht nur mir, es ergeht auch vielen anderen so. Wir haben das spielerische Lernen verlernt.
Unsere Gedankenkonstrukte machen alles schwer. Dabei könnte es so spielerisch einfach sein. Das sollte ich wieder in mir finden. Der Zwischenstand beim Gehen ist der, dass ich jetzt erst richtig Gehen lerne. Bisher war es nur Fortbewegen.
Ich habe nie gelernt zu tanzen. Dabei würde mir diese Bewegung sehr viel helfen. Einfach die Lockerheit und Leichtheit in mir zulassen. Es würde mir das Gehen sehr viel leichter fallen. Besonders im Oberkörper ist das Zusammenspiel der Muskeln gestört. Die Koordination würde unterstützt werden.
Zur Zeit versuche ich es mit Pendeln der Arme beim Gehen, Tanzen wäre ideal für mehr Leichtigkeit. Ich sollte es wirklich einmal versuchen.
In der Rehabilitation habe ich sehr viel gelernt. Aber um ein Ding komme ich nicht herum. Ich muss endlich das Gefühl der ewigen Reha abwerfen und mich auch darum kümmern, zu Leben. Hier einen Zwischenstand zu ziehen, ist mir wichtig. Denn erstmals seit zweieinhalb Jahren lerne ich, mit meinen Behinderungen zu leben.
Zu Leben bedeutet, am öffentlichen Leben teilhaben. Bisher war ich zu sehr mit mir beschäftigt. Ich habe zu lernen, dass ich trotzdem am Leben um mich herum teilnehmen kann.
Ich werde im September noch einmal zum Jakobsweg aufbrechen. Diesmal möchte ich versuchen, mich auf die Menschen und die Kultur einzulassen. Mir Zeit dafür zu nehmen. Es ist Zeit, mich wieder in das Leben zu integrieren. Mit meinem Tempo. Die Schnelligkeit der Gesellschaft darf für mich kein Hindernis sein.
Es geistern noch viele Themen in meinem Kopf herum, aber ich schaffe es nicht, es zu verbalisieren oder Niederschreiben. Aber wie so oft, kommt Zeit kommt Rat. Ich darf nach meinem Tempo leben und darf akzeptieren das mehr zur Zeit nicht möglich ist.
"Das beste Mittel für ein langes Leben ist Laufen: Der Gesundheit hinterher- und der Krankheit davonlaufen!"
Helmut Glaßl (geb.1930), Maler und Aphoristiker
Nach dem Jakobsweg hat der Reha Aufenthalt in Judendorf begonnen. Es ist eine große Umstellung, von der weiten Natur, plötzlich in der Klinik wie "eingesperrt" zu sein. Eine intensive Arbeit an und mit mir steht an.
Meine Haut wurde sofort wieder dünner und war wieder leichter verletzbar. Auch das intensive Denken strengte mich an. Mir fehlt das ohne Absicht, einfache dahingehen.
Jede Therapie Einheit dauert eine halbe Stunde und das vier bis sechsmal am Tag. Ich musste mich erst wieder an diese neuen Gegebenheiten gewöhnen.
Meine täglichen Gedanken sind enorm wichtig für mein Weiterkommen. Dieser Spruch von Marcus Aurelis begleitet mich schon lange. Aber Wissen und es Leben sind zwei paar Schuhe. Auch der Hirnabszess war nur ein Produkt meiner Gedanken.
Die kleinsten Bewegungsabläufe muss ich mir wieder oder noch besser gesagt, noch immer, aneignen. Am Jakobsweg braucht man nur zu Gehen, niemals steigen. Damit habe ich nämlich noch große Probleme. Stiegen rauf und hinunter sind noch immer nicht einfach. Es liegt einerseits am Mangel der Kraft, andererseits aber auch am Neurologischen. Nur ein Bruchteil der trainierten Kraft kommt an.
In der Physiotherapie werden mir Übungen für die kleinsten Muskeln beigebracht, um das Steigen zu lernen, aber auch größere Schritte zu meistern.
Hand in Hand geht die Ergotherapie, wo daran gearbeitet wird, die Steifigkeit aus dem Oberkörper zu bekommen.
Spartanisch, aber alles was ich brauche. Bett, Nachttisch und Kasten. Da hatte ich am Jakobsweg weniger, daher bin ich auch nicht verwöhnt. Die vorangegangenen Reha-Aufenthalte waren für mich noch schwieriger durchzustehen, diesmal fällt es mir leichter und ich bin seit dem Jakobsweg motivierter, die Defizite zu verringern.
Dem Barfuß gehen bleibe ich auch hier treu. Es ist unter der Woche fast mein einzige Kontakt mit der Natur.
Der Judendorfer Kirchberg ist mein Ausgleich zur Reha. Hier hole ich mir Kraft und kann in den Wald eintauchen.
Der Wald spielt für mich seit dem Hirnabszess eine besondere Rolle. Ohne ihn wäre es unmöglich, meinen Fortschritt zu erlangen. Es ist für mich unvorstellbar, wie es Menschen in Großstädten geht. Viele habe verloren, sich selbst wahrzunehmen und leiden unwissend dahin. Sie geben ihre Verantwortung zur Heilung lieber an andere ab, als sich selber darum zu kümmern.
Gerade das Waldbaden hat heuer an Bedeutung gewonnen und wird in Japan als Therapie für unterschiedlichste Befindlichkeiten angewendet. Langsam findet es auch bei uns Einzug.
Die Kirche hoch über der Klinik ist heuer öfter mein Ziel. Vor einem Jahr habe ich es noch nicht geschafft, den Berg zu erklimmen. Jetzt geht es, ist aber noch immer eine Herausforderung. Am Jakobsweg hatte ich nie einen vergleichsweise so schweren Anstieg zu bewältigen. Ich tue mich noch immer schwer und wie in fast allen Fragen: STEP BY STEP
Ich entkomme dem Pilgern auch in Judendorf nicht. Der Weg führt über den Kirchberg und weiter den Weststeirischen Jakobsweg entlang. Pilgern wird immer moderner, was wieder zeigt, dass immer mehr Menschen die Langsamkeit suchen, die sie im Alltag nicht bekommen.
Langsamkeit fördert Aufmerksamkeit, das kann ich mittlerweile bestätigen. Deswegen tut mir Pilgern so gut.
Hier geht es zu einem Video von Alexander Rüdiger, der heuer am Weststeirischen Jakobsweg unterwegs war. (Zum Video)
Es liegt noch für längere Zeit viel Arbeit vor mir. Es ist mein Full Time Job, wieder "gesund" zu werden. In der Reha Klinik wird so intensiv gearbeitet, dass ich öfter mein Limit wieder lange vor dem Abend erreiche.
Aber dieses gefordert sein, bringt mich natürlich weiter. Im Moment befinde ich mich in einer Art Überkompensation, es geht mir eigentlich sehr schlecht. Ich bin immer aus Prinzip die Stufen in den zweiten Stock zu Fuß gegangen. Allerdings musste ich die letzten zwei Tage davon abweichen, es war mir unmöglich. Schweren Herzens musste ich den Lift benutzen.
Noch stehen mir drei Wochen hier bevor. Ich werde den Reha Aufenthalt bestmöglich nutzen, gerade die Physio- und Ergotherapie geben mir hervorragenden Input.
So schließe ich mit den Worten:
"Willst du den Körper heilen, musst du zuerst die Seele heilen."
Platon
Was habe ich am Jakobsweg gelernt? Achtsamkeit oder war es doch ein Grenzgang? Wahrscheinlich habe ich das erfahren, was alle am Jakobsweg erfahren, jeder aber auf seine eigene Art und Weise. Achtsamkeit ist ein Schlüssel dazu. Allein die unterschiedlichen Wege. Ohne Achtsamkeit war das Gehen unmöglich.
Jeder Pilger hat einen anderen Beweggrund zu Pilgern, dadurch einen anderen Zugang und andere Erlebnisse. Ich musste meine Komfortzone endlich wieder einmal verlassen. Bin ich doch seit über zwei Jahren gefangen in einer Welt voll von Therapie, Training und Übungen. Ein Vorteil war, ich musste alles mit Achtsamkeit angehen.
Im Frühjahr 2018 machte mir allgemein viel zu schaffen, besonders Rückschläge. Prägend war eine falsche Übung in der Physiotherapie. Mit einer kurzen Übung waren Monate Training dahin. Sieben Wochen therapierte ich nur an den Auswirkungen und nicht an meiner Verbesserung. Ich war im Kopf derart am Limit, dass ich den Ausweg nur in einer Veränderung der Situation sah. Es war kein flüchten, ich musste nur einmal aus meinem System raus.
Ich habe schon des Öfteren vom Jakobsweg geschrieben und das ich dort einmal hin möchte. Es kam früher als gedacht. Meine Behinderungen nahm ich natürlich mit. Ich war mir nicht sicher, ob es schon geht, aber was hatte ich zu verlieren. Wenn es nicht ging, wäre ich eben wieder nach Hause gefahren.
Es war ein lautes STOPPP!!! in mir. "Du musst raus aus dem Alltag". Den Fehler, weswegen ich den Hirnabszess bekam, wollte ich nicht wieder begehen. Glauben nicht wegzufahren zu können oder zu dürfen, kein Geld oder keine Zeit dafür zu haben. Es waren alles Ausreden. Ich durfte diesmal, vielleicht zum Ersten mal in meinem Leben, egoistisch sein und an mich denken. Denn es ging immerhin um mich und mein Leben.
Die Entscheidung dazu war sicher ein Grenzgang, aber an der Grenze bewege ich mich sowieso schon seit zwei Jahren. Und das jeden Tag. An der Grenze zu sein, war mir nichts Neues.
Es hat mir dabei sicher geholfen, dass ich früher Extremsportler war. So hatte ich sicher einen anderen Zugang, als so manch anderer.
"Seien wir realistisch, versuchen wir das unmögliche"
Che Guevara
Dieser Spruch beschreibt sicher am besten mein Gefühl dazu. Es war realistisch und unmöglich zugleich. Ich fuhr ohne Erwartungen hin und ließ einfach alles auf mich zukommen.
(Zum Puls4 Beitrag vom Oktober 2017) Wie es damals um mich stand.
Ein Grund war, dass ich mich wieder finden wollte. Meinen Platz im Leben wieder finden wollte, mich eigentlich neu erfinden musste.
Die letzten zwei Jahre lebte ich zwar, aber mit mir war nicht viel anzufangen. Ich konnte nicht unter Menschen gehen, keine kulturellen Aktivitäten besuchen, nur beschränkt wandern, tat mich schwer in der Stadt und alles musste sehr langsam vor sich gehen.
Besonders für die Familie eine besondere Belastung, da sie immer auf mich Rücksicht nehmen musste.
Es wurde für mich zur Belastung, in allem unterstützt zu werden, ja, unterstützt werden zu müssen. Ich konnte ohne Begleitung kaum außer Haus gehen, musste mich überall mit dem Auto hinführen lassen, ich war abhängig von anderen. Das genaue Gegenteil von meinem bisherigen Leben. Diese Abhängigkeit belastete alle.
Der Jakobsweg war die Gelegenheit, in einem geschützten Rahmen, mich wieder im Leben zu finden. Außerdem konnte ich meine Achtsamkeit ohne große Ablenkung schulen.
Es war mir nicht wichtig wie weit ich komme. Das Gehen war schon für längere Zeit meine Medizin. Warum es also nicht am Jakobsweg versuchen. Mein Ziel war so weit zu gehen, wie mich die Füße tragen.
Wenn es sein sollte, nur über die Straße in die nächste Herberge. Ich erwartete mir nichts.
Die Infrastruktur hat sich am Jakobsweg in den letzten Jahren sehr verbessert. Mehr Herbergen, mehr Einkaufsmöglichkeiten und besonders die Wegmarkierungen boten mir die Sicherheit, trotz Handicap zu bestehen.
Ausserdem ist die Hilfsbereitschaft unter den Pilgern besonders groß. So hat man mich unter die Fittiche genommen oder mir bei Städtedurchquerungen geholfen.
Die Natur war mir sehr wichtig. Kleine Dinge am Weg erfreuten mich. Ein Käfer, eine Blume oder eine Wolkenformation. Dazu wertet sie nicht, sie war einfach da.
Meine Achtsamkeit steigerte sich und ich war für die kleinen Dinge des Lebens offen.
Alle Städte durchquerte ich nur, hielt mich nicht lange auf. Die Tage draußen in der Natur hingegen genoss ich. Egal ob schönes oder nicht so schönes Wetter. Es war egal, auch ich wertete nicht. Regen war genauso willkommen wie Sonnenschein. Eins werden mit der Natur, sie so akzeptieren wie sie ist.
Meine Langsamkeit konnte ich hier besonders gut ausleben. Denn es geht jeder in seinem Rhythmus und der ist bei einem langsam und beim anderen schneller. Es wird darauf Rücksicht genommen und akzeptiert, dass jeder seinem eigenen Rhythmus geht.
Und es ist wichtig das man seine Geschwindigkeit kennt. Manchmal versucht man sich an eine andere Gruppe anzuhängen. Das geht nur eine Weile gut und bald ist man wieder in seinem Schritt unterwegs.
Diese Langsamkeit zieht sich durch mein ganzes derzeitiges Leben und Tun. Ich fühlte mich aber nie gedrängt oder unter Druck gesetzt. Ich hatte nie Stress und konnte meinen Rhythmus leben.
Für mich ist Gehen ein wichtiger Teil meines Heilungsprozesses geworden. Natürlich tat ich mich noch schwer damit. Gehen ist noch immer ein Defizit von mir. Aber am Jakobsweg herrscht ein eigener Spirit. Weder davor, noch danach, konnte ich mich so bewegen.
Es werden so viele Ressourcen frei, damit hat man die Möglichkeit sich ganz dem Gehen hinzugeben. Man begibt sich in den Fluss des Lebens. Der Stoffwechsel wird angeregt und man fühlt sich freier. Es war ein für mich bedeutender Schritt zurück ins Leben.
Wieder mehr auf meine innere Stimme hören, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Das ist besonders wieder wichtig zu Hause, wo ich darauf vertrauen darf, zu wissen was mir gut tut.
Das Gehen spielte somit in vielen Bereichen eine Rolle. Achtsames Gehen wurde täglich praktiziert. Es tat unendlich wohl. Gehen und nichts zu denken.
Mich zu finden bedeutete, erst einmal leer zu werden. Es wurde mein schönstes Erlebnis am Camino - nämlich an nichts zu denken! Ich konnte leer werden.
Seit zweieinhalb Jahren denke ich, wenn ich die Augen aufmache und höre zum Denken auf, wenn ich die Augen schließe. Ich muss zwar noch für die Bewegungen des Gehens denken, aber jeder Gedanke darüber hinaus fiel weg. Mein Geist kam erstmals seit langem zur Ruhe.
Der Körper meldete mir allerdings sofort, wenn etwas nicht stimmte. Kamen Gedanken auf, reagierte der Körper mit Schmerzen. Meistens waren es Hüft- oder Beinschmerzen. Sie repräsentieren ja quasi den geraden Gang durchs Leben. Ich realisierte bald, dass mit dem Einstellen dieser Gedanken auch der Schmerz verschwand. Es war faszinierend, dass so direkt zu erfahren und mir dessen bewusst zu werden.
Seit dem Hirnabszess lebe ich praktisch nur im HIER und JETZT. Dass was ich in den letzten zwei Jahren, vor dem Hirnabszess, suchte und nicht fand. Jetzt befinde ich mich gezwungenermaßen den ganzen Tag im Jetzt und ich lebe es.
Im Sport war es ebenso möglich, ganz im HIER und JETZT aufzugehen. Ich kannte zwar das Gefühl, es war mir aber nicht mehr möglich es umzusetzen. Ich war gefangen im Hamsterrad.
Der Jakobsweg zeigte mir wieder, worauf es wirklich im Leben ankommt.
Jeder Kilometer am Jakobsweg war Meditation pur. Ich habe das klassische meditieren im Sitzen kaum praktiziert, im Gegensatz dazu die Geh-Meditation aber öfter.
Am Weg findet man immer wieder Metapher fürs eigene Leben. Jeden Tag findest du etwas, läuft dir etwas über den Weg oder fällt dir was auf, was du als Metapher für dich selbst nehmen kannst.
Als Beispiel nur die Schnecke am Kuhfladen. Die meisten ekelt es davor. Sie sehen nur wie eine schleimige Schnecke über ein Stück Scheiße kriecht. Es kann aber auch die Bedeutung haben: Die Schnecke gleitet sicher auch über Scheiße und bekommt sogar Nährstoffe davon.
Man sieht, alles hat auch andere Seiten. Wir möchten halt nur die Seite sehen, die wir aufgrund früherer Erfahrungen, als wahr erkennen wollen. Es gibt aber mehrere Sichtweisen auf eine Sache und unsere muss nicht stimmen.
Das sollten wir anerkennen.
Ich wurde quasi in die Achtsamkeit gezwungen und sie mir auferlegt.
"Denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dass sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht."
Johann Wolfgang von Goethe
Wahre Achtsamkeit im täglichen Leben, wurde zu einem Schlüsselerlebnis am Jakobsweg. Meine Behinderungen erfordern enorm viel davon. Diese Achtsamkeit habe ich am Camino noch besser ins tägliche Leben integrieren können, aber auch Achtsam gegenüber der Natur und meinen Mitmenschen.
Jetzt liegt es an mir, aus diesem am Camino gelernten, etwas zu machen. Zuerst wurde ich durch die Krankheit gezwungen, aber jetzt ist es mittlerweile ein Teil meines Lebens geworden.
"Ich lebe im hier und jetzt. Ich bin das Ergebnis von allem, was geschehen ist oder geschehen wird, aber ich lebe hier und jetzt."
...schreibt Paulo Coelho in seinem Roman Aleph. Wie wahr!
Achtsamkeit bedeutet, bewusst zu leben! Eigentlich einfach, wenn es nicht so schwer wäre. Oder?
Der Jakobsweg hatte für mich eine vielfältige Funktion. Er zeigte mir die Wichtigkeiten des Lebens als Metapher am Weg. Besonders das Denken nahm eine besondere Rolle ein.
Ich liebte es früh aufzustehen und den erwachenden Morgen am Weg zu erleben. Immer wieder fand sich ein neues Farbenspiel in meinem Rücken wieder.
Das schönste was ich vom Jakobsweg an Erfahrung mitbringen durfte, war mehr über das Denken zu erfahren.
"Es ist ein sehr tiefer und schöner Zustand des Glücks, wenn wir nicht mehr denken können, weil wir so sehr das Leben genießen, das in uns fliest."
Hans Kruppa
Diesen Spruch fand ich in einem alten, vergilbten Buch mit Gedichten von Hans Kruppa. Es lag in einer Herberge und ich schrieb mir verschiedene daraus ab.
Er hat mich deswegen so angesprochen, weil ich am Jakobsweg nicht denken brauchte und mich ganz dem Gehen widmen konnte. Die letzten zweieinhalb Jahre waren oft sehr schwierig für mich, da mir das Denken besonders viel Anstrengung abverlangte.
Vielleicht konnte ich am Weg deswegen nicht denken, nicht weil ich es nicht kann, sondern weil ich in der Zeit des Gehens so glücklich war, dieses Leben so genießen konnte und nach langer Zeit wieder einmal im Fluss war. Ich wurde durch nichts abgelenkt.
Daher stieg die Gehleistung auch gleich an, weil ich viel Energie sparte. Das war schön zu beobachten und zu erleben.
Draußen am Land fühlte ich mich wohl. Wie auch in meiner Heimat rund um Graz, stressen mich besonders die Städte. Ich hielt mich unterwegs nie lange auf und zog die Einsamkeit der Natur vor.
In den Städten, aber auch Dörfern, zeigten einem meist die gelben Pfeile den Weg. So fand ich auch durch die größeren Städte recht schnell wieder hinaus.
Draußen unterwegs zu sein, war mit nichts zu vergleichen. Dort lebte ich auf.
Da ich zur Zeit auf Reha bin, kann ich nur eingeschränkt schreiben. Demnächst also wieder mehr und ausführlicher. Besonders meine Erkenntnisse vom Camino France möchte ich mit Euch teilen.