Bevor es mit meinen Erlebnissen auf der Normalstation der Neurologie weiter geht, zu etwas Aktuellen.
Letztes Wochenende fuhr ich das erste Mal von zu Hause weg. Ich nahm am Karma Yoga des Buddhistischen Zentrum in der Südwest Steiermark teil. Dabei ging es um Achtsames arbeiten. Meine Leistungsfähig war zwar noch beeinträchtigt, aber zumindest Gras zupfen ging schon. Es war ein gutes Ergo Training, mit meinen gefühlsarmen Fingern das Gras zu greifen.
Auf dem Weg dort hin, durfte ich wieder die Vergänglichkeit des Lebens mitbekommen. Ich erhielt die Nachricht das Ueli Steck, ein begnadeter Bergsteiger, im Everest Gebiet tödlich abgestürzt war.
Ich hatte Ueli beim Eiger Ultra Trail 2013 kennengelernt, wo ich für ein Filmprojekt einen Film-Dreh hatte. Unter anderem führte ich ein Interview mit ihm und hatte Gelegenheit, mich privat mit ihm zu unterhalten.
Seine Art zu sprechen, seine Bilder, aber noch mehr sein Tun, war sehr inspirierend für mich. Die Jahre darauf verfolgte ich sein Tun mit großem Interesse.
Es macht mich traurig und betroffen das Ueli gestorben ist und das mit nur vierzig Jahren.
Sein Tod hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben und das zu machen, was man wirklich möchte, da man nie weiß, wann das Leben zu Ende ist.
Auch für mich war nach der Krankheit Zeit, Résumé über mein bisheriges Leben zu ziehen.
Habe ich wirklich gelebt oder wurde ich gelebt. Wie viel Zeit habe ich genutzt oder vergeudet? Was machte in meinem Leben Sinn, was machte keinen Sinn?
Ich konnte es mir nur schrittweise erarbeiten, denn weiterführendes Denken war lange nicht möglich. Auch heute ist es noch schwer, an Vergangenheit oder die Zukunft zu denken. Wenigstens kann ich mich schon ein wenig mit weiterführende Denken beschäftigen. Nur als Beispiel, für einen Artikel wie diesen, brauche ich mehrere Tage. Und das Niederschreiben hilft mir es weiter zu verfolgen.
Aber weiter mit dem Résumé meinen Leben. Vor der Krankheit war es auch schon Thema, aber mit dem Stress, dem heute fast jeder ausgesetzt ist, hatte ich keine Zeit, mich damit auseinander zu setzen.
Mein Schluss war - Ja, ich habe mein erstes Leben bisher gelebt. Ich habe so viel erlebt, gesehen und gemacht. Ich kann zufrieden sein. Allerdings - mein Freund Harry würde jetzt sagen: „Friede und zu (den Sarg)!“. Und da hat er in gewissem Sinn recht. Es wäre auf diese Art nicht mehr weiter gegangen. Ich war sprichwörtlich tot.
Aber ich habe die Chance auf ein zweites Leben bekommen. Mein Freund Alexander hat einen Link auf Facebook geteilt, wo eine 101-Jährige an der 100 m Staatsmeisterschaft teilnahm. Nach ihr hätte ich jetzt Halbzeit, habe also die nächsten 50 Jahre Zeit, ein neues Leben zu gestalten.
Ich sehe jetzt viele Dinge anders als früher und reagiere auch anders. Und, um wieder auf Ueli Steck zurückzukommen, ich möchte jeden Abend das Gefühl haben, etwas Sinnvolles getan zu haben. Ueli hat es mit Sicherheit für sich getan.
Ein Kaufmann wurde einmal gefragt: “Wie alt sind Sie?”
Er antwortete: “Dreihundertsechzig Jahre.”
Der andere konnte es nicht glauben. Er sagte: “Wie bitte? Können Sie das wiederholen? Vielleicht habe ich mich verhört.”
Der Kaufmann rief laut: “Dreihundertsechzig Jahre?” Der andere sagte: “Verzeihung, aber das kann ich nicht glauben. Sie sehen nicht älter als sechzig aus.”
Der Kaufmann antwortete: “Sie haben auch recht. Was den Kalender angeht, bin ich sechzig. Aber was mein Leben angeht, habe ich sechsmal so viel gelebt wie alle anderen. In sechzig Jahren habe ich es geschafft, Dreihundertundsechzig Jahre zu leben.”
Ich habe damals auch einen Film über den Eiger Ultra Trail gemacht. Wer Lust und Laune hat, kann ihn sich hier anschauen.
Endlich! Nach vier Wochen durfte ich die Intensivstation verlassen. Ich konnte es gar nicht glauben. Zuerst war ich noch vier Tage auf der Überwachungsstation und wurde dann in ein normales 4-Bettzimmer der Neurologie verlegt. Hier herrschte ein anderer Ton. Wecken war um 6h30, zwischen 7 und 8 Frühstück, dann haben die Therapien begonnen. Alles war viel lauter als in der Intensivstation.
Mein Zustand war noch immer sehr gebremst. Aufmerksamkeit, Konzentration, Gehen, Sprechen - es war alles mühsam. Ich war zwar draußen aus der Intensivstation, aber kräftemäßig am Boden. Besuch vertrug ich noch immer nicht. Eine sinnvolle Verständigung war mir nicht möglich.
Einzig auf Silvia und meine Tante freute ich mich. Abwechselnd kamen sie einmal wöchentlich. Silvia brachte mir emotionale Kraft. War ich zu müde zum Reden, reichte es mir, wenn Silvia meine Hand hielt. Mehr Verständigung brauchte ich nicht. Meine Tante brachte die andere Seite ein. Frische Wäsche und Unterhaltung, soweit dies ging. Zu mehr war ich noch nicht fähig.
Der Tagesablauf war immer derselbe. Um 6h30 kam der Morgendienst. Fieber, Blutdruck und Puls messen, Austeilen der Medikamente, beginn der Morgenwäsche. Ich wurde im Bett gewaschen oder konnte mich teilweise selbst waschen. Zwischen 7 und 1/2 8 Uhr wurde das Frühstück gebracht.
Mein Tagesplan im Einzelnen:
So sah mein Tagesablauf über Wochen aus. Seit Beginn auf der Intensivstation bekam ich Antibiotika. Ich weiß nicht mehr wie oft am Tag genau, aber es war jedes Mal eine Antibiotika-Bombe. Und das sicher fünf bis sechs Mal am Tag, über Infusionen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich vorher Antibiotika zu mir genommen. Dementsprechend war die Wirkung. Nach Umstellungen ging es mir immer besonders schlecht. Ich erbrach und hatte ein flaues Gefühl. Es dauerte immer drei bis vier Tage, bis ich mich einigermaßen daran gewöhnt hatte.
Nebenbei musste ich wieder gehen lernen. Die Basis dazu hatte ich noch in der Intensivstation gelegt. Der Anfang war nur aufstehen und stehen. Später auf der Reha Station der Neurologie begann ich mich am Bett entlang hanteln. Erst nach zwei, drei Wochen erreichte ich meinen Kasten. Der Schwindel behinderte mich lange. Deswegen durfte ich nur mit Begleitung gehen. Selbst die kleinsten Erledigungen innerhalb des Zimmers, geschahen unter Aufsicht.
Nach Wochen konnte ich zum ersten mal aus dem Zimmer gehen. Fünfzehn Meter auf den Gang und zurück. Bis dahin hat sich mein Leben im Zimmers abgespielt. Einzig aufs Bad/WC konnte ich im Rollstuhl gefahren werden. Erst nach viereinhalb Monaten durfte ich ohne Begleitung gehen.
Die Neurologie hat ihre eigenen Gesetze. Das musste ich schmerzlich anerkennen.
In den ersten Tagen bekam ich von meiner Logopädin einen Zettel zum Ausfüllen. Da erfuhr ich, dass ich unter Wortfindungsstörungen litt. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich funktionierte meines Erachtens doch normal.
Und was sollte dieser Fragebogen, das konnte ja jeder leicht ausfüllen. Na ja, schreiben ging schwer bis gar nicht. Aber ich probierte es doch. Und dann kam die Überraschung. Nur nach langem Überlegen fand ich die gesuchten Wörter und konnte sie mit noch größerer Mühe schreiben.
Eine andere Aufgabe war das Finden von Wörtern, zum Beispiel das Aufzählen von verschiedenen Gemüsesorten in einer Minute. Ich startete schnell mit Paprika und dann..... nichts!
Ich überlegte und überlegte. Mir fiel nichts ein. Absolut nichts. Ich war schockiert. Wortfindungsstörungen, ich kannte das gar nicht. Mir ist beim ersten Mal tatsächlich nur ein Stück Gemüse eingefallen. Später steigerte ich auf drei, noch später auf fünf und mehr.
Das Gehen steigerte ich in den folgenden Wochen auf vierzig bis fünfzig Meter. Der Rollstuhl war trotzdem mein ständiger Begleiter. Die Gefahr des Schwindels, bis hin zum Ohnmächtig werden, war immer gegenwärtig.
Und das ging recht schnell. Deswegen brauchte ich auch Begleitung an meiner Seite. Innerhalb weniger Sekunden wurde ich ohnmächtig. Trat der Fall ein, wurde ich aufgefangen, am Boden hingelegt und mit dem Rollstuhl zurück ins Zimmer gefahren. Das war dann jedes Mal ein Trara. Deshalb schaute ich darauf, mich früh genug hinzusetzen und Schwindel gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die erste Zeit war ein Kampf um Millimeter. Beim Greifen, beim Gehen und Stück weises erinnern und merken. Die Neurologie war eine neue Erfahrung.
„Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist aufzuwachen – diese Zeit ist jetzt!“
(Buddha)
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als ich auf die Intensivstation kam, an einzelne Abläufe nicht mehr. Sie sind weg, wie so vieles andere auch.
Es ist Ostersonntag, der 27. März 2016, was mir aber egal ist. Ebenso die Kinder, die eigentlich Ostereier suchen möchten. Ich möchte nur liegen und schlafen und nehme nichts um mich wahr.
Ich fühlte mich gar nicht so schlecht. Mein Denken war zwar auf ein Minimum reduziert, aber ich konnte nicht anders. Nichts hatte eine Bedeutung, eine Wichtigkeit. Ich war da, aber zugleich weggetreten.
Ich weiß nur noch, dass es mir furchtbar schwindlig wurde, wenn ich aufstand. Liegen war das Beste. Ich glaubte noch immer an eine Grippe.
Antworten auf Fragen, von Silvia oder den Kindern an mich, müssen auf jeden Fall verwirrend gewesen sein, denn am Ostersonntag ließ mich Silvia vom Roten Kreuz ins LKH-Graz einliefern.
Das folgende Prozedere ließ ich über mich ergehen, heute ist es wie eine verwaschene Erinnerung. Ich wurde untersucht, hatte eine CT, daraufhin ein MR und verschiedene Stationen zu durchlaufen.
Am Ende des Tages war ich froh, endlich in einem ruhigen Bett angekommen zu sein. Alles war mir egal, egal wo ich war, egal was man mit mir machte. Ich wollte nur mehr schlafen, ich konnte nicht mehr „denken“, ich war wie ausgeschaltet.
Die Zeit in der Intensivstation nahm ich gar nicht als bedrohlich wahr. In den kurzen Gedanken, die ich hatte, fragte ich mich, was ich hier überhaupt tat. Ich konnte nicht nachempfinden, was mit mir los war.
Mit jedem Tag wurde das Sprechen schlechter. Ich konnte das gar nicht richtig wahrnehmen, weil ich es nicht so empfunden habe. Besuch wollte, oder besser gesagt, konnte ich gar nicht empfangen. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn nach 10 Minuten war ich so erschöpft, dass ich nur noch die Augen schließen wollte.
Bald bemerkte ich, dass meine rechte Hand immer schlechter greifen konnte. Anfangs wollte ich es nicht beachten, doch immer öfter kam ich in Schwierigkeiten. Schneiden, oder das Messer zu halten, war bald nicht mehr möglich. Ich machte mir zwar darüber Gedanken, aber meine Denkdauer war sehr kurz, ich musste von Mal zu Mal neu beginnen und konnte nichts zu Ende denken. Ein ewiger Kreislauf.
Für unnötige Gedanken war keine Energie da. Als ich schlussendlich nur mehr einen Löffel mit der linken Hand halten konnte, wusste ich, jetzt sitze ich ziemlich tief in der Sch…..!
Zugleich kam etwas anderes auf. Ich saß nämlich wirklich in der Sch....! Ich musste nämlich aufs Klo. Der Urin wurde im Harnbeutel gesammelt, aber was war mit dem Stuhl? Denn ich merkte nicht, wann er kam. Er war einfach da. Für mich, dem Einzelkämpfer, ein schwieriges Unterfangen. Wenigstens konnte ich nicht viel darüber nachdenken. Das war wohl die erste Lektion für mich - DELEGIEREN und VERTRAUEN.„
Das war unglaublich für mich. Für ihn war es selbstverständlich – es gehörte zu seiner Arbeit. Es so vermittelt zu bekommen, machte mir die Sache leichter.
Denn es sind die vielen Kleinigkeiten, die sich summieren und die einem Gesunden nicht einmal auffallen. Ich musste mich nämlich auf die Seite legen beim Putzvorgang. Ich war aber so kraftlos, dass es Schwerstarbeit wurde, mich auf die Seite zu drehen. Jetzt war ich langsam wirklich bei null angelangt.
Zum Hirnabszess kam auch noch ein Ödem. Das drückte auf meinen Thalamus. Der Thalamus vorverarbeitet alle Informationen im Gehirn, die der Großhirnrinde zugeführt werden. Er entscheidet darüber, welche Informationen im Augenblick so wichtig für den Organismus sind, dass sie ins Bewusstsein gelangen sollen.
Er wird auch das „Tor zum Bewusstsein“ genannt. Je nachdem, welche Gehirnhälfte betroffen ist, sind die Störungen auf der entgegengesetzten Körperseite. In meinen Fall die rechte Seite, mit Sensibilitätsverlust, Ataxien (Störungen der Bewegungskoordination), und Hemiparese (unvollständige Lähmung einer Körperseite).
Na Bumm, zum Glück wusste ich nicht viel davon. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Silvia hielt alle negativen Dinge, Gedanken und Emotionen fern von mir. Es sollte mich nichts belasten. Ich war total abgeschirmt von draußen. Besuch erhielt ich nur von Silvia und meiner Tante. Ich freute mich jedes Mal, wenn Silvia kam.
Aber mehr wie eine Viertelstunde war nicht drin. Zu mehr Aufmerksamkeit reichte es nicht. Daliegen und nichts denken, das war mein tägliches Programm. Mit schlafen und in die Luft schauen verbrachte ich die meiste Zeit.
Zum Glück wusste ich nicht um die Gefährlichkeit meiner Lage. Es wurde nur deswegen nicht operiert, weil der Abszess so tief lag. Die Ärzte haben es mit hoch dosierten Antibiotika Gaben behandelt, weil eine Operation in ihren Augen zu gefährlich war. Das alles wusste ich zum damaligen Zeitpunkt nicht.
Es kam später auch eine Ergo-Therapeutin hinzu. Bereits in diesem Stadium begann die Mobilisierung. Auch wenn es nur oft 10 Minuten am Tag waren, hilft es sehr für später. Ich versuchte, das Beste aus mir heraus zu holen. Mein Aufenthalt sollte so kurz wie möglich sein. Dachte ich mir zumindest – soweit ich denken konnte. Das Sprechen wurde immer anstrengender und kraftraubender.
Mittlerweile hatte die Lähmung auch Teile meines Gesichts ergriffen. Der rechte Mundwinkel war schwer zu bewegen. Nicht besonders lustig beim Essen. Schön langsam hatte ich alle möglichen Defizite ausgereizt und eine Halbseitenlähmung hatte von mir Besitz ergriffen.
Nach zwei, drei Wochen sollte ich mich einmal am Tag außerhalb des Bettes auf den Sessel setzen. Es schauderte mich davor. Ich war an unzähligen Schläuchen und Drähten angehängt und es war umständlich mich davon loszumachen. Unzählige Handgriffe waren notwendig, um mich aus dem Bett zu bekommen.
Wenn möglich, beließ ich es dabei, am Bettrand zu sitzen. In den Rücken und auf die Seiten bekam ich große Polster, um nicht umzufallen. So versuchte ich, es auszuhalten. 15 Minuten waren am Anfang gerade noch drinnen. Dann plagte mich der Schwindel und zwang mich in die Waagrechte.
Einmal waren die Pflegekräfte dabei, andere wichtige Dinge zu erledigen und vergaßen mich. So harrte ich aus. Mit jeder Minute sackte ich immer mehr zusammen. Am Schluss hing ich nur mehr im Sessel, vor mir der festgestellte Tisch, auf den ich niedergesunken war. Über eine halbe Stunde verbrachte ich in sitzender Position. Endlich konnte ich auf mich aufmerksam machen und die Krankenschwester befreite mich schleunigst. Für den Rest des Tages lag ich ermattet im Bett. Mein Tagespensum an Kraft war aufgebraucht.
Zu alldem kam, dass ich normalerweise Kontaktlinsen trage, aber mit der Lähmung nicht in der Lage war, sie in die Augen zu geben. Meine Brille hatte ich kurz davor kaputt gemacht und war nicht zum Augenarzt gekommen. So kam es, dass ich die ersten Wochen ohne Sehhilfe auskommen musste. Ich war faktisch blind.
Ohne Brille oder Kontaktlinsen konnte ich kaum jemanden erkennen. Ein befreundeter Optiker machte mir dann, auf gut Glück, eine Brille. Zum ersten Mal konnte ich die blühenden Bäume vor dem Fenster sehen.
So verbrachte ich die Zeit auf der Intensivstation für mich doch recht ruhig. Von den Schwierigkeiten draußen bekam ich nichts mit. Alles war so fern. Das meine Gewerbescheine in der Zwischenzeit stillgelegt worden und eine Erwerbsunfähigkeitspension für mich angesucht. All das hätte ich nicht verstanden.
Ich lebte in meinem eigenen Universum, das nicht über mein Krankenbett hinausging.
Ein komisches Gefühl, bisher war mir Bloggen immer ein bisschen suspekt. Eigentlich habe ich mich nicht dafür interessiert was ein Blog ist. Erst im letzten halben Jahr habe ich mich dafür zu interessieren begonnen. Davor war es mir nicht möglich, weil ich nichts aufnehmen konnte.
Zuerst wollte ich Tagebuch schreiben, was mir aufgrund der Krankheit lange nicht möglich war. Die Wortfindungsstörungen und Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis waren zu stark. Dazu kam die Lähmung der rechten Körperseite, die mir Schreiben unmöglich machte. Nach etwa vier Monaten begann ich zu lesen. Zuerst Bücher und dann zu Hause Blogs im Internet. Von Lifestyle, Fitness hin zu Reise- und Laufblogs. Dabei kam ich auf die Idee, selber einen Blog zu schreiben.
Einerseits hilft mir das Schreiben die Krankheit zu verarbeiten, andererseits macht es auch Spaß. Da ich viele Jahre als Videojournalist gearbeitet habe, finde ich es toll meine Rehabilitation mit einem ähnlichen Werkzeug zu unterstützen. Schreiben war zwar nicht meine Stärke, aber bis zu einem gewissen Grad lässt es sich ja lernen. Und es ist ein Teil meiner täglichen Therapie geworden.
Meine Therapeuten haben mir auch empfohlen, die Videokamera zur Hand zu nehmen. Ich versuchte es, aber es waren zu viele Eindrücke. Ich tue mir schwer, mehr als zwei Sachen gleichzeitig zu denken, geschweige denn auszuführen. Drei Dinge sind fast unmöglich.
Mit dem Schreiben komme ich besser klar. Es wird zwar keine journalistische Meisterleistung werden, dazu fehlen mir noch zu viele Wörter, wichtig aber ist es, daran Spaß zu haben.
Oft passiert es, dass ich, während ich einen Satz schreibe, vergesse wie ich weiter schreiben will. Denn das Schreiben ist das EINE, das andere ist die Tastatur tippen. Beides zu koordinieren ist nicht leicht. Daher muss ich aufpassen, keine zu langen Sätze zu formulieren.
Wenn ich an einem komplizierten Wort zu lange auf der Tastatur brauche, ist die Chance groß, den Faden im Satz zu verlieren. Auch darf ich mich nicht überfordern. Doppelbilder und Schwäche sind die Folge.
Der Titel "von 0 auf 101" war ursprünglich für ein Laufprojekt für 2014 gedacht. Innerhalb eines Jahres vom Nicht-Läufer zum 101 km langen Eiger Ultra Trail in der Schweiz. Damals, 2013, filmte ich für eine Werbeagentur, wo der Chef selber bei diesem Rennen an den Start ging.
Ich war zum ersten Mal bei so einem Event dabei und war so fasziniert davon, das ich mich entschloss, in einem Jahr selber daran teilzunehmen. Gesagt, getan. Es war zwar ein Mammut Programm, aber ich stand genau ein Jahr später, im Juli 2014, am Start.
In den Monaten danach hatte ich aber so viel zu tun, dass ich die Fertigstellung des Projekts immer wieder verschieben musste.
Das "von 0 auf 101" bekam für mich dann im Frühjahr 2016 eine dramatisch andere Bedeutung, als ursprünglich gedacht.
Ich war damals, im März 2016, wirklich bei NULL angelangt.
Dass es dann so lange dauern würde, hätte ich nicht gedacht. Viel später verstand ich erst, wie schlimm es wirklich war und dass ich froh sein konnte, so davon gekommen zu sein. Die oftmalige Aussage meiner Ärzte, "Lassen Sie sich Zeit, das wird noch dauern!", ging mir nicht in den Kopf. Ich dachte nur: "Jetzt bin ich schon vier, fünf Monate im Krankenhaus, was meint er mit Zeit lassen, wie lange denn noch?".
Im Nachhinein gesehen hatten die Ärzte recht. Fünf Monate ist im Verhältnis zur Schwere der Krankheit gar nichts. Ich wollte schon im Jänner mit dem Blog beginnen. Jetzt ist es April. Ich musste immer wieder erfahren, man kann nichts erzwingen. Geduld zu lernen war in diesem Fall eine Prüfung für mich. Sich Zeit lassen. Wie so viele andere Dinge auch, die ich noch oder wieder zu lernen habe.
Dafür lebe ich jetzt zu hundert Prozent im HIER und JETZT! Schon der nächste Tag ist so weit weg. Ich kann nicht "denken", was in der Zukunft ist oder sein wird. Es passiert mir immer wieder, dass ich etwas erledigen will und gleich darauf vergessen habe, was ich eigentlich wollte.
Im März 2016 trat ein Hirnabszess auf, welches schon sicher länger bestand. Die körperlichen Auswirkungen spürte ich dann von einem Tag auf den anderen. Es wurde mir schwindlig und ich konnte nur mehr liegen. Zuerst glaubte ich noch an eine Grippe. Zwei Tage später, ich antwortete bereits verwirrt, wurde ich per Rettungswagen ins LKH Graz eingeliefert.
Eine Ärztin fragte mich Monate später, "Was sollte denn anders sein, dass sie sich fühlen wie früher?". Ich antwortete "ALLES!".
Auf der einen Seite sollte sich ALLES ändern, auf der anderen Seite bin ich dankbar dafür, diese Erfahrungen der geistigen und körperlichen Defizite machen zu dürfen. In meinem "ersten" Leben war ich Extremradsportler, Bergsteiger und Trailrunner und konnte auch bei der Videoproduktion schwere Aufträge stemmen. Ich war es gewohnt, jahrelang an meinem körperlichen Limit zu arbeiten. Für einen Prozent mehr Leistungsfähigkeit trainierte ich früher ein ganzes Jahr.
Plötzlich war alles anders. Ich, der Bewegungsmensch, war zum Stillstand gezwungen. Mein Abenteuer war es nicht mehr zu Reisen, tolle Filmaufträge oder sportliche Leistungen zu vollbringen. Nein, mein Abenteuer wurden es, Gehen zu lernen, Essen zu lernen, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
War in meinem alten Leben vieles zu schnell geworden, hat im neuen Leben die Langsamkeit Einzug gehalten. Ich durfte alles NEU FINDEN. Ich musste MICH neu erfinden. Wie schon Monica Lierhaus, die ehemalige ARD Sport Moderatorin, die eine Gehirnblutung erlitt, sagte: "Ich bin keine Andere, nur eine Veränderte!"
Auch ich hatte mich verändert. Nach einem Monat Intensivstation und insgesamt fünf Monaten Krankenhaus kein Wunder. Trotzdem bin ich der Gleiche geblieben. Und obwohl "der Gleiche", sehe ich viele Dinge anders wie früher. Ich bekam Zeit geschenkt, nicht gestohlen.
Durch meine geminderte Konzentrationsfähigkeit beschränke ich mich auf wesentliche Dinge. Alles, was ich für unwesentlich halte, geht an mir vorüber. Es kann natürlich wichtig sein, doch im Moment hat es für mich keine Wichtigkeit. Ist es wichtig genug, kommt es so lange wieder, bis es mir wichtig wird oder ist. Ich belaste mich nicht mit Unnötigem, kann es gar nicht.
Zum Glück habe ich Menschen um mich, an die ich Sachen delegieren kann oder die manches erst gar nicht an mich heran lassen.
Der Sport ist ein wichtiger Antrieb für mich. Auch wenn ich noch nicht Laufen oder Radfahren kann, gedanklich bin ich jeden Tag dabei. Ich stelle mir vor, eine mir bekannte Strecke durch den Wald zu laufen. Ich gehe voll und ganz in die Emotion hinein. Spüre die Belastung, spüre wie ich die Bodenunebenheiten ausgleiche. Das mache ich täglich.
Ich stelle mir die Bewegungsabläufe vor. Ich trainiere im Kopf. Das kann ich überall. Wenn ich wo warten muss, zum Beispiel. Auch so bekommen meine Muskeln Informationen, wie sie funktionieren sollen.
Ich denke oft an die Kenia Sport Safari zurück. Mein Freund Harry sagte damals: "Mal schauen, wie man eine Rundfahrt ohne Training gewinnt. Das wird interessant?". Die Rundfahrt war im November. Auch er hatte eine längere Pause hinter sich. Im Vorfeld trainierte er fast nur mit seiner Vorstellungskraft. Er hat diese Rundfahrt dann doch gewonnen. Zwar auf den letzten Drücker, aber gewonnen. Das hilft auch mir jetzt sehr.
Ich weiß, der Körper folgt dem Geist. Der Körper folgte auch nur meinem geistig erschaffenen Hirnabszess. Natürlich funktioniert das auch umgekehrt. Der Spruch, "Dir geschehe nach deinem Glauben!" , hat noch immer Gültigkeit. In beide Richtungen. Wie wahr.
Im Moment habe ich nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne über den Tag, in der ich mental und körperlich voll da bin. Die restliche Zeit ruhe ich aus, genieße den Moment und lasse das Leben auf mich einfließen. Manchmal muss ich allerdings drüber gehen, Kinder können einen fordern!
Meine Lebensgefährtin hat mir in einer Zeit im Krankenhaus, wo es mir nicht gut ging, folgendes gesagt: "Schau, andere Leute geben viel Geld für Seminare aus, machen Persönlichkeitsentwicklung, lesen zahlreiche Bücher und sind oft nach Jahren nicht dort angelangt, wo du jetzt bist - nämlich im HIER und JETZT!".
Da hat sie recht. Dieser Satz begleitet mich, wenn ich wieder einmal zu ungeduldig mit mir bin.
Dieses im HIER und JETZT leben beschäftigte mich schon lange vor meiner Krankheit. Durch die Krankheit wurde ich gezwungen im HIER und JETZT zu leben. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr. Nur den Moment. Jetzt, ein Jahr später, kommt langsam das Gefühl wieder, an die Zukunft denken zu können. Aber es ist anders. Es hat keine so große Wichtigkeit mehr.
Auch meine Einstellung zum Tod hat sich geändert. Er schreckt mich nicht mehr. Ich habe keine Angst mehr davor, was danach sein wird, oder etwas versäumt zu haben. Nein, er ist freundlicher geworden.
So hat alles (s)einen Sinn für mich bekommen.
Das LEBEN geht weiter und der Blog hilft mir dabei!