Heute besuchte mich das Krafttier Amsel am Fenster. Sie setzte sich auf den Fensterrand und schaute durchs Glas ins Zimmer, während ich am Schreibtisch saß. Und das passierte noch mehrmals an diesem Tag.
Ein Krafttier kann in schwierigen Situationen oder auch einfach so in unser Leben treten und seinen Schützling in dieser Zeit unterstützen, beraten und stärken.
Die Botschaft, die mir die Amsel mitbrachte, passt genau zu meinem letzten Blogbeitrag und meiner derzeitigen Lebenssituation, in der es im Moment viel um die Natur geht.
"Meinen Träumen und Sehnsüchten soll ich nachspüren, da diese erweckt werden wollen. Veränderungen stehen an.
Ich soll mich bewusst an die Natur und dem eigenen Sein anbinden. Bewegung und Transformation wird in meinem Leben Einzug halten."
Es sind alles Themen, die mich schon seit Jahren begleiten, besonders aber in den letzten Tagen.
"Wege suchen, um ins Unbekannte vorzudringen. Die Amsel hilft mir, meine innere Stimme besser zu hören und klarer zu sehen.
Mit Freude und Mut durchs Leben gehen und das Singen nicht vergessen. Meine dunklen Anteile anerkennen, denn sie gehören zu mir."
Seit dem Hirnabszess ist mein Lernen so vielfältig und Krafttiere weisen mir manchmal eine Richtung, in die ich noch hinschauen kann oder besser gesagt, sollte.
"Die Amsel kommt in dein Leben und bringt dir Langsamkeit, Geduld und Selbstvertrauen.
Auf deinem Weg ist es gerade stimmig. Still sitzt du da und ruhst dich aus. In dieser Stille erkennst du deine Schätze. Würdige sie und liebe sie.
Manchmal versteckst du dich mit deinen Gaben und es ist gut so. Erlaube es dir. Das Neue ist noch so jung, dass es wachsen darf. Jetzt vertraust du deinem Gefühl und teilst mit anderen nur das, was wirklich geteilt werden will.
Erlaube es dir, so zu sein, wie du bist. Erlaube es dir, dass du ganz zu dir kommen darfst. In einer Langsamkeit, die zu dir passt.
Ruhe in deiner Mitte, Freude macht sich breit und lebe.
Deine Amsel"
Quelle: https://kathrinsieder.at/
Die Amsel singt besonders gerne bei Morgendämmerung. Der Gesang wirkt angenehm und harmonisch.
Sie zeigt uns Möglichkeiten auf, sich von alten Dingen loszulösen, die nicht mehr zur Lebenssituation passen und neue Projekte oder Ideen anzugehen.
Meine Rehabilitation kommt in eine neue Phase,
danke dir, liebe Amsel!
Draußen zu sein, ist mir seit dem Hirnabszess ein großes Bedürfnis geworden. Gehe ich nicht in die Natur, funktioniere ich nicht. Es macht allerdings einen großen Unterschied, wohin ich gehe?
Ob die Natur oder menschlich gemachte Strukturen, es macht einen großen Unterschied für meinen Körper, aber auch für den Geist.
Stadt - Land, Häuserfronten - Blumenwiese, alles hat seine eigene Wirkung. Der Hirnabszess hat mir damals alle Filter im Gehirn genommen, deshalb nehme ich auch alles in einer sehr feinsinnigen Form wahr.
Das Wort Fraktal ist wohl nur den wenigsten bekannt und war es auch für mich, bis vor kurzem. "Fraktale" werden Muster in der Natur genannt, wie zum Beispiel das Muster eines Farnes, das besonders starke und positive Gefühle erzeugt und die Kraft hat, den Körper zu entspannen.
Im Gegensatz dazu gibt es menschlich gemachte Strukturen und Muster, an die sich der Körper nur schlecht gewöhnen kann und die in unseren Städten vorherrschen. Den meisten fällt das nicht mehr auf, aber wer einmal die Kraft der Natur kennengelernt hat, der lernt zu unterscheiden.
Früher einmal hat mir die Stadt, zumindest nicht offensichtlich, nicht geschadet und ich konnte mich problemlos darin bewegen, trotz Hochsensibilität. Mit dem Hirnabszess bekam meine Feinfühligkeit allerdings eine andere Dimension und ich habe seither alles neu zu lernen, besonders aber zu unterscheiden zwischen notwendigen und nicht notwendigen.
Fraktale Strukturen findet man im Gehirn, im Muskel, in den Luftwegen der Lunge und in Blutgefäßen, aber auch in Adern von Pflanzen, Ästen und Wurzeln. Deswegen ist die Natur so wichtig für uns, denn wir sind Natur.
Im Krankenhaus lernte ich die Technik, wieder 30 bis 50 Meter am Stück zu gehen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie wichtig es für mich war, vom ersten Moment an, wieder Gehen zu erlernen. Gehen ist für mich ein Synonym für Bewegung. Gehen bewegt, Körper wie Geist!
In den letzten zwei Wochen meines Krankenhaus-Aufenthaltes durfte ich erstmals ohne Begleitung gehen, denn bis dahin, also über vier Monate lang, durfte ich ohne das Beisein einer Krankenschwester nicht einmal alleine vom Bett aufstehen. Die Gefahr, ohnmächtig zu werden und mich dabei zu verletzen, war zu groß. In diesen letzten zwei Wochen bewegte ich mich dann zum ersten Mal seit Monaten alleine im Freien.
Wenige Tage vor meiner Entlassung, schaffte ich einen 250 Meter langen Rundgang im Freien, mit vielen Pausen, alleine und voll am Limit. Auf halber Strecke gab es eine Parkbank, auf der ich mich 15 Minuten hinsetzen musste, bevor ich den Rest in Angriff nahm. Schon damals bemerkte ich den so positiven Einfluss der Natur, stärker als je zuvor.
Gegenüber der neurologischen Station beginnt der Leechwald, wo früher mein Trainingsgebiet für das Radquerfeldeinrennen war. Die Bäume, auf die ich in den letzten Monaten nur durch das Fenster schauen konnte, waren plötzlich so nahe. Berühren konnte ich sie nicht, denn das Gehen war so anstrengend und die wenigen Schritte durch die Wiese zu den Bäumen, war für mich noch nicht machbar.
Trotzdem war ich glücklich wie nie zuvor. Noch unbewusst nahm ich schon damals die Natur als besonders heilsam wahr, hatte aber noch keine Ahnung davon, welch große Rolle sie in meiner weiteren Rehabilitation spielen sollte.
Meine Hochsensibilität hatte ich vor dem Hirnabszess sehr gut im Griff und konnte sie auch beruflich gut nutzen, zum Beispiel als Energetiker. Nach dem Hirnabszess bekam ich aber auch die nicht so guten Seiten zu spüren. Alles, was vorher keine Probleme bereitete, war auf einmal nicht mehr möglich, belastete mich riesig und raubte mir die wenige Energie, die ich vorrangig zum Überleben brauchte.
Draußen in der Natur hingegen fühle ich mich wohl und komme trotz der Belastung beim Gehen, innerlich gestärkt zurück. Gehe ich in die Stadt, ist es genau umgekehrt. Nur ein kurzer Aufenthalt raubt mir Energie, trotz vorsichtigem Verhalten.
Das hat mich schon immer stutzig gemacht, dass der Unterschied so groß war, aber ich trainierte die ersten zwei, drei Jahre daran, das zu verbessern. Vorrangig versuchte ich mich wieder der Stadt auszusetzen, mit mäßigem Erfolg. Allein das Straßenbahnfahren bleibt bis heute ein schwieriges Unterfangen.
Und da wären wir wieder bei der Inklusion. Selbst heute noch brauche ich einen Sitzplatz in der Straßenbahn, denn das Ruckeln verträgt mein Körper nicht und lässt mich leicht umfallen. Mein Gehirn kann die sich so schnell verändernden Gleichgewichtsverlagerungen nicht schnell genug ausgleichen. Allerdings, wer sieht mir das an und bietet mir seinen Sitzplatz an?
Das sind die unsichtbaren Behinderungen, mit denen weit mehr Menschen zu tun haben, als allgemein bekannt ist. Inklusion bedeutet auch, andere Menschen Vorurteilsfrei anzunehmen. Da haben wir noch eine Menge aufzuholen.
Besonders am Jakobsweg blieb es bis zum Schluss eine Herausforderung, mich durch eine Stadt zu bewegen. Mit "die Stadt", meine ich auch, Museen zu besuchen, ins Kino gehen oder durch die Altstadt schlendern. Das alles sind "Anstrengungen", mich wieder daran zu gewöhnen. Es ist nur in "sehr" kleinen Schritten möglich.
Wobei ich die Worte "Anstrengung, Kämpfen, Problem und noch manch anderes", versuche zu vermeiden, da sie negativ behaftet sind. In der Pandemie habe ich mich dann, "gezwungenermaßen", entschlossen, die Stadt sein zu lassen und mich besser ganz der Natur zu widmen, deren positiver Effekt mir besser tut und ich mir mehr Fortschritte erhoffen kann, denn es geht um mehr, als nur mich wieder in der Stadt bewegen zu können.
Deshalb setzte ich mich auf meinem letzten Camino France auch lieber den Elementen der Natur aus, als den Unbilden der Stadt. Draußen unterwegs zu sein bedeutet mir viel und mein Spüren bekommt dabei eine andere Dimension. Die zwölf Tage Dauerregen am Schluss des Camino waren, trotz der Belastung, unglaublich heilsam für mich. Ich bin so froh, dass draußen erleben zu dürfen, dass Regen mir nichts anhaben kann. Ich tanze singend durch den Regen!
Ich fühle mich noch immer wie eine vertrocknete Blume, die im Regen wieder die Chance bekommt, aufzugehen. Deshalb gehe ich auch gerne im Regen.
Beim Klettern verbinde ich mich mit den Händen zur Natur, was mich erdet. Nach meiner Rückkehr vom Jakobsweg in Spanien, tat ich mich schwer mit der Umstellung auf zu Hause und ich fühlte mich unrund und nicht geerdet. Da war der Weg zum Zigeunerloch genau das richtige, um zu Klettern, bzw. zu Bouldern, um mich mit der Erde zu verbinden.
Diese gewaltige Fels Formation fasziniert mich immer wieder und diesmal habe ich auch eine Bezeichnung dafür, nämlich Fraktal. Diese natürlichen Muster im Felsen, mit dem das Auge besonders gut umgehen kann, im Gegensatz zu unnatürlichen Linien, wie an Häusern. Ich könnte stundenlang darauf schauen.
Zuerst war mein Gang noch unsicher auf dem Weg dorthin, aber unter den gewaltigen Felsen fühlte ich mich gleich wohler. Ich legte Rucksack und Daunenjacke ab und lehnte mich mit den Handflächen an den Felsen, der zwar kalt war, aber eine unglaubliche Energie verströmte. Wer das nicht einmal selbst erlebt hat, der wird es kaum verstehen können.
Die Energie strömte durch meine Finger in jeden Bereich meines Körpers und ich fühlte mich sofort besser geerdet. Die Unsicherheit verschwand binnen Minuten und ich versuchte es sogar mit dem Klettern, allerdings in der Waagerechten, wie auch sonst immer.
Die Koordination zwischen unten und oben im Körper bereitete mir diesmal einige Schwierigkeiten, aber es tat so gut, mich im Felsen zu bewegen. Bewegen bewegt, das spürte ich diesmal besonders stark. An diesem Tag konnte ich viel vom therapeutischen Tanzen umsetzen, denn da geht es ja um Bewegen und Spüren. Gehirn und Bewegung gehören untrennbar zusammen.
Dieser Tag ist wieder eine Bestätigung für die jahrelange Arbeit an mir, besonders mit dem therapeutischen Tanzen. Es bildet die Grundlage für all meine Übungen und das Training. Viele kleine Steps bedeuten irgendwann einen größeren und mit vielen Großen, mache ich einen Schritt weiter in meiner Rehabilitation.
Gehen und Alleinsein, ist eine Kombination, die besonders wirkungsvoll für mich ist. Mit dem Alleinsein habe ich kein Problem und schon gar nicht, wenn ich allein gehe.
Der Mensch ist ein Wesen, das sich nach Beziehung sehnt, in einer Welt, die nicht verbunden und entwurzelt ist. Diese Entwurzelung habe ich nach dem Hirnabszess sehr stark gespürt und ich hatte/habe zum Lernen, wie ich mich wieder verwurzle und mit der Welt verbinde. Das Gehen nimmt dabei eine besondere Stellungen ein, mit all ihren Varianten.
Beim Alleinsein entwickle ich mein eigenes Tempo, mit all seinen Variationen. Mal schnell, mal langsam, immer im richtigen Tempo, wie ich mich gerade fühle. Mit diesen Tempo- und Rhythmusvariationen übe ich seit 2019, das ich damals im therapeutischen Tanzen kennengelernt habe.
Als Hilfe für eine verbesserte Wahrnehmung nehme ich mir den Fotoapparat und fotografiere, was mich interessiert. So erstelle ich mir eine Fotostrecke, die ich mir ausdrucke und jederzeit auf meinem Schreibtisch analog anschauen kann. So hole ich mir Fraktale ins Heim und kann mich jederzeit damit verbinden, indem ich sie anschaue. Da ich ein visueller Typ bin, arbeite ich viel mit Fotos, die mir guttun.
Dieses fokussierte Beschäftigen damit, was mir guttut, ermöglicht mir die Sicht durch das Objektiv. Das alles passiert draußen in der freien Natur und so lerne ich auch, mit dem Fotoapparat umzugehen. Filmen geht noch nicht, mein Gehirn ist zu schnell damit überfordert. Auch Malen kann eine solche Fokussierung sein.
Sehr entscheidend ist, ob ich alleine gehe oder in Begleitung. Beides hat eine unterschiedliche Wirkung. Im Moment gehe ich die meiste Zeit alleine, ich bin dabei mehr mit der Natur verbunden und nehme alles anders wahr, als mit Begleitung.
Es war ein nasser. kalter und regnerische Tag, mit tollen Aussichten, trotz des Nebels. Die Bilder sprechen für sich.
Im Gegensatz dazu ein Spaziergang durch Frohnleiten, bei Sonne, aber mit Kälte. Auch hiervon wieder mit Fotos. Ich füge auch Bilder der Stadt ein, da kann jeder die Wirkung von Fraktalen an sich ausprobieren und ob man es überhaupt wahrnimmt oder wie sich Strukturen von Häusern und der Stadt anfühlen, als Gegensatz zu Wald und Blumen?
Seit ich mich noch mehr "draußen" in der Natur aufhalte, stabilisiere ich immer besser meinen Zustand. In der Stadt muss ich mehr aufpassen oder mich dem erst gar nicht dem aussetzen.
Ob Sonne oder Regen, ich nutze eigentlich jeden Tag, um in die Natur zu gehen und sie in mir aufzunehmen. Mein Gehirn profitiert davon und wird BEWEGT!
Am Camino Frances spüre ich immer wieder ein besonderes Lebensgefühl, immerhin hilft er mir seit Jahren, wieder mehr ins Leben zu kommen. Er wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, denn er zeigt mir Lebensgefühle auf eine Art, wie es kaum eine Therapie bisher besser vermochte, ausgenommen das therapeutische Tanzen.
In der Pandemie bekam ich zu spüren, wie sehr mir der Camino bisher geholfen hat. Jetzt heißt es viel Nachzuholen für mich, denn die Corona-Zeit hat mir in meiner Rehabilitation gesundheitlich viel gekostet, mehr als ich mir am Anfang eingestehen wollte.
Jeder Camino hatte bisher eine andere Lernaufgabe für mich, vom Gehen lernen, bis dahin, wieder mit anderen Menschen kommunizieren zu lernen oder überhaupt, mit dem Leben wieder zurecht zu kommen. Diesmal stand die Wahrnehmung im Außen im Vordergrund, die viel mit dem Lebensgefühl zu tun hat. Es war diesmal weniger das Gehen, den das ist sowieso immer dabei.
Über allem steht ein positives und glückliches Lebensgefühl, sowie überhaupt eine positive Lebenshaltung, denn diese ist das Wichtigste, wovon Rehabilitation abhängt. Denn nur unter positiv gestimmten Zellen ist Heilung möglich, was immer auch Heilung für jeden einzelnen bedeutet!
Dieser Herbst-Camino, mein insgesamt fünfter und davon der vierte auf dem Camino Frances, brachte mich wieder ein ganzes Stück näher ans Leben. Ein wichtiger Part war darin, dass mich mein Sohn Elvin begleitete. Es war die erste gemeinsame längere Zeit seit dem Hirnabszess mit ihm zusammen und daher etwas besonderes.
Es war schön zusammen mit ihm am Camino unterwegs sein zu dürfen und ist eine Zeit, die mir immer in Erinnerung bleiben wird. Die Überquerung der Pyrenäen, in den Herbergen, das Leben allgemein als Pilger, es hat einen solchen Wert das zu erleben und für mich war es schön ihm zeigen zu können, was mir in den letzten Jahren nach dem Hirnabszess so sehr geholfen hat.
Es ist für uns beide eine Lebensschule, für ihn ein Abenteuer und für mich wird meine Wahrnehmung besonders gefordert, wenn ich auf jemanden achten soll. Das bin ich nicht gewohnt und ich muss aufpassen, nicht zu viel zu wollen. Da spielen natürlich auch Emotionen und Gefühle mit, denn Null bringt mich derzeit meist besser durchs Leben, als Hundert Prozent.
Das zu differenzieren, ist oft noch schwierig für mein Gehirn. Trotzdem möchte ich wieder lernen Zwischenstufen zu ermöglichen, denn nichts ist schädlicher, als Emotionen zu verdrängen. Ist es noch ein Schutz oder nur Verdrängung, das ist oft die Frage?
Noch ist es oft ein Schutz, denn mit manchem kann und soll ich mich nicht befassen. Meinem Gehirn ist es nicht möglich gewisse Dinge zu verarbeiten, auch wenn ich möchte. In so einem Fall muss ich meinem Herz vertrauen, dass es das richtige für mich wählt und darf hier nicht auf den Verstand hören.
Leider machte die Achillessehne von Elvin nicht lange mit und so verließ er mich nach 10 Tagen in Logrono. Es war aber auf jeden Fall bis dahin ein Abenteuer für ihn. Für mich war es gut zu erleben, wie er mit den entsprechenden Situationen umging, denn es geht am Camino, so wie im täglichen Leben, eigentlich nur um das Hauptsächliche:
Walk - Eat - Sleep, Repait!
Alles andere ist nur Draufgabe, wenn diese drei Grundbedürfnisse befriedigt sind. Mit "Walk" ist auch "Bewegung" gemeint, in die auch sinnvolle Arbeit fällt. Man bekommt am Camino einen schärferen Blick dafür, worin man gut ist, was einem gefällt und wo man hin möchte. Das kann in jungen Jahren eine gute Orientierungshilfe sein.
An erster Stelle steht das Lebensgefühl, dass im Idealfall positiv ist. Damit ich es positiv wahrnehmen kann, dazu ist meine innere und äußere Wahrnehmung wichtig, wo ich noch viel Aufholbedarf habe.
Wikipedia hat eine gute Zusammenfassung:
"Wahrnehmung ist bei Lebewesen der Prozess und das subjektive Ergebnis der Informationsgewinnung und -verarbeitung von Reizen aus der Umwelt und aus dem Körperinneren. Das geschieht durch unbewusstes Filtern und Zusammenführen von Teil-Informationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken."
Wikipedia
Puuhhh, na dann! Wenn ich das lese, wird mir ganz schummrig, denn dieses Zusammenführen aller Aspekte ist meine Herausforderung, die es zu lernen gilt und funktioniert noch nicht so, wie ich es gerne hätte. Es ist aber entscheidend dafür, wieder ins Leben zu kommen.
Anfangs konnte ich ja kaum mit anderen Menschen, schon gar nicht mit Fremden, ein sinnvolles Gespräch führen. Dafür war der Camino hervorragend geeignet, mit anderen Menschen wieder in Kontakt zu kommen. Man wird dort so akzeptiert, wie man ist und es wird auch verstanden, wenn man einmal seine Ruhe haben möchte oder gar nicht spricht.
Diesmal waren es nur wenige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, denn mein Augenmerk lag eben auf der Wahrnehmung. Dazu kam, dass ich in den ersten zehn Tagen von meinem Sohn Elvin begleitet wurde, der meine ganze Energie und Aufmerksamkeit beanspruchte. Das bekommt man von Außen gar nicht so mit.
Ich bekomme es aber immer besser in den Griff, wenngleich Elvin auch anmerkte, dass ihm manches zu viel sei. So lerne ich immer mehr dazu, meine Emotionen und Gefühle besser zu steuern. Daran arbeite ich seit Jahren, aber ich musste zur Kenntnis nehmen, dass alles in sehr langsamen Schritten passiert, so wie auch alles andere. Auch wenn ich schon schneller gehen kann, bin ich noch immer in der Langsamkeit gefangen.
Ich fühle mich oft wie ein kleines Kind, das alles noch zum Lernen hat. Auf meine Frage an einen Arzt, als ich noch im Krankenhaus lag, wie lange ich zum Gehen lernen brauche, erhielt ich nur die Gegenfrage:
"Wie lange braucht ein Kind, bis es gehen kann?"
...und genauso wie mit dem Gehen, ist es mit allem anderen. Es braucht Zeit, aber auch den Willen, dranzubleiben. Dranbleiben, auch wenn Fortschritte lange nicht erkennbar sind, denn genau dort liegt der Punkt, wo die meisten aufgeben.
...sind meine besondere Herausforderung, denn alle meine Filter im Gehirn haben sich geöffnet. In der Natur habe ich sie mehr oder weniger im Griff, aber noch nicht in der Stadt. Da habe ich in der Corona-Zeit den größten Rückschritt machen müssen. Die Eindrücke dort sind zu intensiv, zu stark und ich kann es noch nicht ausreichend filtern, was mir guttut und was nicht. Es wird einfach alles zu viel.
Unterwegs am Camino hat mir oft geholfen, dass mein Sohn dabei war und ich mich dadurch leichter in und durch die Stadt bewegen konnte. Museen, Menschenandrang und größere Städte waren aber trotzdem nur schwer ertragbar. Leider war die Corona-Pandemie sehr stark daran beteiligt, da die vielen Maßnahmen, ob gut oder schlecht, mich in meiner Rehabilitation behinderten.
Ich kann es nicht oft genug betonen, dass ich es einzig meiner Tanz-Therapeutin Hanna zu verdanken habe, die mich so gut mit dem therapeutischen Tanzen durch diese zwei Jahre gebracht hat. Alle anderen Therapien waren beendet, eingestellt oder vieles war für mich nicht zugänglich. Da hatte ich das einzigartige Glück, mit der Tanz-Therapie so viele verschiedene Dinge abzudecken, den der Hirnabszess verursachte.
Aus diesem Grund war ich auf diesem Camino darauf aus, meine Wahrnehmung zu verbessern oder zumindest dorthin zu bringen, wo sie vor Corona war und dadurch ein gutes Lebensgefühl zu bekommen.
Ich konnte auf der einen Seite meine Wahrnehmung verbessern, was mir besonders in der Natur geholfen hat. In der Natur ist es auch deswegen einfacher, weil die Natur natürlich ist und der Körper mit weniger Stress reagiert.
Auf der anderen Seite war die Stadt, viele Menschen, Verkehr und öffentliche Nahverkehrsmittel, darin konnte ich mich nicht verbessern. Im Gegenteil, ich habe mich verschlechtert und das bekam ich am Camino sehr zu spüren. Mein jahrelanges Training vor Corona war dahin. Es bedarf erneut einer Menge Training, wieder dort hinzukommen, wo ich vor der Pandemie war.
Mein Highlight diesen Herbst-Camino war sicher, dass ich mich endlich einmal durch die Nacht bewegen konnte. Durch die reduzierte Tiefensensibilität oder Propriozeption muss ich normalerweise meine Füße oder den Weg vor mir sehen, um Unebenheiten zu erkennen und wie/wo sie auftreten. Darum tue ich mich in der Nacht besonders schwer.
Es ist seit Jahren mein Ziel, wieder mehr Automatik zu bekommen, um endlich mehr Lebensgefühl zulassen zu können. Diese Automatik hat sich in der Pandemie zurückgebildet, da mein Gehirn mit so vielen anderen Dingen beschäftigt war und ich es nicht kompensieren konnte.
Mein Tag für die Nachtwanderung beginnt in Santo Domingo de Calzeda. Ohne Tagesziel gehe ich erst einmal los, denn etwas als fix zu planen, ist mir unmöglich. Im Hinterkopf habe ich es schon, dass ich die Nacht eventuell durchgehen werde, allerdings habe ich doch recht Bammel davor. In Villafranka, 34 Kilometer nach meinem Aufbruch, entscheide ich mich, es doch zu versuchen. Ich sollte es nicht bereuen. Es wurde ein Erlebnis, dass mich wieder einmal weiterbrachte.
Immer wieder an die Grenze gehen, nur so kann ich weiterkommen und ich habe eine Menge Grenzen auszuloten und nachzuholen. Es ist natürlich in dieser Nacht auch eine gehörige Portion Euphorie dabei. Seit meinem ersten Camino träume ich davon, durch die Nacht gehen zu können, jetzt, nach vier Jahren, ist es endlich so weit.
Das Gehen gestaltet sich schwierig, ist aber nicht unmöglich. Es erweitert meinen Horizont ungemein, denn bisher war alles nur Theorie für mich, wenn ich meinte: "Dann gehe ich eben weiter und durch die Nacht."!
Bisher habe ich es vermieden, später als 18 Uhr noch unterwegs zu sein. Zu Hause gehe ich im Normalfall nie später als 15 Uhr, da schaue ich, dass alles erledigt ist. Meine Energie fällt um diese Zeit rapide ab, daher muss ich aufpassen. In Spanien fällt aber viel vom alltäglichen Kram weg, so bleibt mehr Energie fürs Gehen über.
Natürlich kann ich nicht öfters hintereinander so weitermachen, denn der Körper verlangt den verpassten Schlaf nach. So gehe ich in der Früh nur mehr bis ins nächste Dorf oder Stadt, nehme mir ein Bett in der Herberge und verbringe praktisch den restlichen Tag und die Nacht schlafend. Mein Körper verlangt noch immer mindestens zehn Stunden Schlaf am Tag, egal ob ich gehe oder nicht.
Auf dem Weg nach Burgos lege ich mich dreimal für eine Stunde hin. Sitzbänke am Weg, zusammengeschobene Stühle vor einem geschlossenen Café, ich verwende alles, was ich finde. Die Temperaturen sind für Oktober ganz ok, so brauche ich nur den dünnen Daunenanorak zum Schlafen.
Den Aufstieg zum Crux de Matagrande en Atapuerca absolviere ich mit dem Mond an meiner linken Seite und unter guter Beleuchtung, es ist nur wenige Tage vor Vollmond. Oben am Kreuz herrscht eine mystische Stimmung, die ich genieße. Es ist das erste Mal, dass ich diese Zeit im Freien verbringe, nicht einmal zu Silvester war ich bisher munter.
Um am Tag mehr Zeit zu haben, möchte ich diese Zeit gerne verlängern, also weniger Pausen brauchen. Auch hier gilt wieder, ich kann es nur Stück für Stück machen und ich kann oder besser gesagt, ich darf nichts überspringen. Manchmal versuche ich zu Hause mich auch am Nachmittag zu betätigen, aber Tätigkeiten am Abend sind mir bisher verwehrt geblieben. Der Camino gibt mir aber Hoffnung, dass sich das in Zukunft ändern wird.
Leider musste ich einsehen, dass ich mich in den Städten noch immer schwertue. Die Filter in meinem Gehirn arbeiten noch nicht so gut, wie ich es vielleicht gern hätte. Seit Corona hat sich das sehr verschlechtert und ich schaffe es noch nicht, das zu überwinden. Meist gutgelaunt komme ich aus der Natur in die Städte, um dann festzustellen, dass ich überhaupt nicht damit klarkomme.
Schon auf den ersten Metern in die Stadt überkommt mich ein sonderbares Gefühl der Überforderung. Ich kann Kilometerlang durch die Natur gehen, aber beim Betreten einer Stadt bekomme ich sofort Unsicherheiten beim Gehen und der Blickwinkel engt sich ein. Es sind mehr Fußgänger, mehr Autoverkehr, mehr Hupen und Lärm. Inmitten von Häuserschluchten bin ich so vielen Reizen ausgesetzt, die mein ganzes System überfordern. Es war schon einmal besser, das war aber vor Corona.
Von März 2020 bis September 2022 bin ich nur einmal mit der Straßenbahn gefahren und ein paar mal mit dem Öffi-Bus. Das Angewöhnen an die Stadt habe ich nach Corona neu zu lernen, all das vorangegangene steht wieder auf null. Die Auswirkungen sind leichter Schwindel, Unsicherheiten, roboterhaftes Gehen, eine Orientierungslosigkeit und eine "ich will nur weg" Einstellung. Es wartet noch viel Arbeit, mich wieder daran zu gewöhnen.
Ja, in der Natur blühe ich auf und ich spüre eine verbesserte Wahrnehmung. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ich mich in zwei Jahren Pandemie praktisch nur zu Hause und in der Natur aufgehalten habe.
Wollte ich mich vor der Pandemie wieder unbedingt an die Stadt gewöhnen, so ist es mir jetzt nicht mehr so wichtig. Die Natur am Camino war so viel schöner und es geht ums Wohlfühlen und nicht darum, mich mit aller Gewalt an etwas zu gewöhnen. Die Stadt erfordert wieder ein langsames Annähern, so wie am Anfang meiner Rehabilitation.
Der einzige "Erfolg" in Santiago war es, dass ich diesmal alleine in die Kathedrale ging und erstmals den Botafumeiro anschauen konnte, das große Weihrauchgefäß, das bei einer Messe geschwenkt wird. Bei meinem Winter-Camino 2020 war die ganze Kirche eine Baustelle, weil sie für das heilige Jahr restauriert wurde und der Botafumeiro abgebaut. Dafür konnte ich damals den heiligen Jakob von hinten umarmen, was diesmal wegen Covid nicht mehr möglich war.
Schlechtes Wetter kann mir kaum was anhaben, doch diesmal war es einen Tick zu viel. 12 Tage Dauerregen machte es unmöglich sich am Weg niederzulassen, etwas anzuschauen oder eine Pause im freien Gelände zu machen. Es waren Sturzbäche, die sich über Galizien ergossen.
Auch der Wind war stark, riss aber ein-, zweimal am Tag für zehn Minuten den Himmel auf und zeigte kurz blau. Das erfreute das Auge, auch wenn man selbst noch im Regen stand. Beim Gehen wurde ich immer wieder ans Krankenhaus erinnert, wo ich monatelang nur beim Fenster hinausschauen konnte und den Regen berühren wollte. Vielleicht auch deswegen meine positive Einstellung zum Regen.
Da war der Wind ein anderes Thema. Meine Tiefensensibilität kann Wind nicht so schnell ausgleichen und daher gehe ich meist wie betrunken. Allerdings verfalle ich nicht mehr so oft wie früher in ein roboterhaftes Gehen, sondern kann die im therapeutischen Tanzen gelernte Beweglichkeit immer besser umsetzen.
Am Ende der Welt, in Finesterre, konnte ich am Cap die zehn Minuten mit ein wenig blauen Himmel ausnützen, um Fotos zu machen. Der Sturm war aber stark und Windlose Stellen gab es kaum.
In Santiago hatte ich noch ein paar Tage, bis mein Bus nach Hause ging. Es gab Parks und Spaziergänge, statt Museen und Sehenswürdigkeiten. Nach dem anstrengenden Camino Finesterre, suchte ich die Ruhe und weniger die Stadt. Ursprünglich hatte ich vor, Museen und nochmals die Kathedrale zu besuchen, allerdings musste ich meine Pläne ändern. Die Hochsensibilität machte mir einen Strich durch die Rechnung.
Deshalb ging ich rund um Santiago und bekam die Kathedrale von allen Seiten zu sehen. Immer wieder kurze Regenschauer waren auch jetzt noch an der Tagesordnung.
Der Weg war wieder ein weiterer Baustein auf dem Weg ins Leben. Gehen ist aber nicht nur Therapie für mich, sondern eigentlich das einzige, was ich wirklich kann und gibt mir Sinn im Leben. Natürlich trainiere ich auch weiterhin alle anderen Bereiche, allerdings sind die Fortschritte überschaubar.
Seit dem Hirnabszess bin ich mit diesem Camino einmal rund um die Welt gegangen, also rund 40.000 km. Die Aussage eines Arztes vor sechs Jahren blieb mir bis heute im Gedächtnis:
"Neurologisch kann man gar nicht zu viel machen, es gibt kein zu viel!"
Vielleicht habe ich es zu wörtlich genommen, aber dieser Satz treibt mich bis heute an und gibt mir bisher auch recht. Es machte das Gehen zum Wichtigsten in meinen Leben. Zum Glück, denn ohne die Millionenfachen-Wiederholungen wäre ich ein Pflegefall geblieben, denn meine Propriozeption oder auch Tiefensensibilität genannt, ist zum größten Teil durch den Hirnabszess verloren gegangen.
Dieses "einmal rund um die Welt", sind ca. 40.000 Kilometer, die ich mit dem Camino im Oktober bisher zurückgelegt habe. Wenn mir das jemand vor sechs Jahren gesagt hätte, ich hätte es ihm nicht geglaubt. Allerdings hat mich diese obige Aussage damals angetrieben, immer noch diese Extrameile zu machen, von der Bruce Lee sprach und ich machte manchmal sogar mehr.
Diese Propriozeption kann ein Hund sein. Gehe ich weniger, übe und trainiere ich weniger, lasse ich ein, zwei Tage aus, bildet sie sich zurück. Denn sie ist nicht nur das Gehen, sondern auch die Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum. Zu wissen, wo der Körper endet, ist wichtig. Fehlt sie, ist es wie im Finstern eine unbekannte Kellerstiege hinunterzusteigen.
Die Millionenfachen-Wiederholungen im Gehen, machten es einfacher, mich daran zu gewöhnen und zu versuchen, wieder mehr Automatik zu bekommen. Trotzdem ist immer ein Restgedanke beim Ablauf des Gehens, deswegen tue ich mich noch oft schwer, im Gelände zu sprechen. Single Tasking lässt grüßen, Multitasking wäre gut.
Der Abszess lag an einer ungünstigen Stelle, nämlich am Thalamus, der Steuerzentrale des Körpers. Deshalb auch meine vielfältigen Handicaps, denn es ist praktisch alles von Körper und Geist betroffen. Am Jakobsweg vergesse ich oft während dem Gehen zu Grüßen, da ich oft zu sehr mit dem Bewegungsablauf beschäftigt bin.
Diese Steuerzentrale, der Thalamus, steuert im Körper die Bewegung, aber auch das Denken und die Wahrnehmung. Also alles, was für das "normale" Funktionieren notwendig ist. Bisher war "einmal rund um die Welt" notwendig, um dahin zu kommen, wo ich heute bin. Allein der Aufwand zum Erhalten ist enorm. Das dran bleiben ist notwendig, um es wenigstens gleich belassen zu können oder vielleicht Verbesserung zu erreichen.
Aus diesem einmal rund um die Welt wird ab sofort ein zweites Mal. Rund 8.000 Kilometer habe ich davon auf Pilger- und Fernwanderwegen zurückgelegt, der Rest passierte in der Heimat.
Besonders in der Corona-Pandemie erkundete ich praktisch jeden Tag den Grazer Norden. Der Camino in Spanien bekam einen besonderen Stellenwert in den letzten sechs Jahren, denn er ist meine größte Reha-Anstalt der Welt geworden. Wie kaum sonst wo kann ich hier Therapie und Leben verbinden.
Jeden einzelnen Meter habe ich unter Freude zurückgelegt, selbst schwierige Bedingungen konnte sie mir nicht nehmen. Egal ob im Sturm am Jakobsweg, im Regen am Walkabout durch Österreich oder im Schnee zu Hause hinter dem Haus, die Freude ist mir dabei immer geblieben. Gelang etwas nicht, war es nur ein Ansporn, es immer und immer wieder zu versuchen.
Diese Freude am Tun ist eine Grundvoraussetzung für meine Genesung und dass ich überhaupt wieder gehen gelernt habe.
Die ersten 10 Tage war ich mit meinem jüngeren Sohn Elvin unterwegs. Wir starteten in Saint Jean Pied del Port, dem Beginn des Camino France. Kühle Temperaturen begleiteten uns dabei. In Logrono verließ er mich, um nach Hause zu fahren, seine Achillessehne schmerzte zu sehr. Ich setzte meinen Weg allein fort.
Ich bin glücklich nun beiden Kindern einen Teil des Camino in Spanien gezeigt zu haben, nämlich das, was mir nach dem Hirnabszess so sehr geholfen hat.
Für diesen Camino hatte ich mir ja einiges vorgenommen. Wenn die Bedingungen passen, wollte ich eine Nacht durchgehen, bzw. unter freiem Himmel verbringen. Zwei Tage vor Vollmond war es dann`` so weit.
Ich startete in Santa Domingo und kam bei Tageslicht bis etwas nach Villafranka. Damit hatte ich die ganze Nacht Zeit, bis nach Burgos zu kommen, wo mir zwei Bergüberquerungen bevor standen. Da bald Vollmond war, begleitete mich der Schein des noch nicht vollen Mondes. Die Stirnlampe brauchte ich jedoch fast nie, so hell schien der Mond. Dafür war die Milchstraße nicht so gut zu sehen, was aber verschmerzbar war, angesichts der herrschenden Stimmung.
Dreimal legte ich mich für eine Stunde aufs Ohr, zum Glück spielten die Temperaturen mit. Der dünne Daunenanorak reichte aus und ich begnügte mich damit, mich auf eine Parkbank zu legen oder um drei Uhr früh, auf zusammengeschobenen Sesseln eines Cafés kurz die Augen zuzumachen. Es war einfach nur herrlich, zum ersten Mal diese Momente zu erleben, wo ich doch normalerweise schon um 6 - 8 Uhr zu Bett ging. Nichtsdestoweniger, hatte ich den Schlaf nachzuholen, was zum Glück leicht ging, erreichte ich doch die nächste Stadt schon am Vormittag und legte mich dann ab Mittag in der Herberge zum Schlafen.
Das besondere war aber, wie ich mit der Tiefensensibilität umging? Denn im Finsteren konnte ich meine Füße kaum sehen und ich musste meist, ohne sie zu sehen, auftreten. Aber nur fast, denn der Mond unterstütze es, die Konturen des Weges zu sehen, damit war es doch einfacher, als in stockdunkler Nacht.
Der Aufstieg zum Cruz de Matagrande en Atapuerca war wegen der vielen Steine nicht leicht, aber bewältigbar. Oben am Kreuz war ich gegen Mitternacht, bei einzigartiger Stimmung. Im fernen sah ich die Lichter von Burgos, dass ich dann in der Früh erreichte.
Nichts denken, nur gehen und Kopf ausschalten. Das war das Motto für die Meseta. Die Tage vergingen wie im Fluge und ehe ich mich versah, war ich in Leon. Hier legte ich einen Ruhetag ein, denn ich wollte danach wieder Kilometer machen. In einem Rutsch ging es nach Astorga und ich war überrascht von der Menge der Menschen am Weg, besonders aus Südkorea.
Um allzu volle Herbergen vermeiden zu können, besorgte ich mir in Leon vorausschauend eine Unterlegmatte, die ich auf 80 x 40 cm verkleinerte. Im Fall des Falles wollte ich die Freiheit haben, eine Nacht auch im Freien zu verbringen.
Ursprünglich nicht geplant, überquerte ich den Bergzug mit dem Crux de Ferro an einem Tag, bis nach Ponferrada. Die möglichen Herbergen beim Abstieg vermied ich, weil sie recht voll waren. Ich war auf Natur gepolt und kam mit zu vielen Menschen auf einem Fleck nicht klar.
In der Herberge in Ponferrada war ein sehr unruhiger Spanier im Zimmer, der mehrmals in der Nacht aufstand, um Rauchen zu gehen. Das weckte in mir erneut das Verlangen, die nächste Nacht wieder im Freien zu verbringen.
Im Laufe des folgenden Tages verfestigte sich der Gedanke, die Nacht im Freien zu bleiben. Allerdings stand die Überquerung des C'Obreiro bevor. Ich ließ mir ein bisschen zu viel Zeit davor und musste den schwierigen Aufstieg zu einem großen Teil in Finsternis zurücklegen. Ein traumhafter Anblick der Milchstraße entschädigte mich jedoch.
Um 23 Uhr jausnete ich vor der ältesten Kirche am Camino Frances, in C'Obreiro. Immer noch begleitet vom traumhaften Sternenhimmel, mit der Milchstraße in ihrer vollen Pracht. Von der Schönheit beschwingt, ging ich weiter, um allerdings kurze Zeit später in einen nasskalten Nebel einzutauchen. Das hatte ich nicht erwartet. Die warme Nacht wechselte zu kühlen Temperaturen, mit Nässe und dichtem Nebel. Die Stirnlampe leuchtete mir nur schwer den Weg.
Es beschränkte sich nicht nur auf die Gipfelregion, sondern zog sich bis ins Tal. Am Alto del Plano war der Nebel so dicht und die Nacht so schwarz, dass ich nicht einmal den oberen Teil des dortigen Denkmals erkennen konnte. Auch zum Hinlegen fand ich keinen trockenen Platz, so blieb mir nur das Weitergehen. Erst um vier Uhr früh fand ich eine trockene Bank, die so kurz war, dass ich mich mit angezogenen Beinen darauf hinlegen konnte.
Um halb sechs ging es wieder weiter, wo ich dann beim ersten Öffnen eines Cafés gegen 6h30 in Triacastela eintraf. Bald nach mir fanden sich immer mehr Pilger ein, die gerade beim Aufbruch waren und ihren ersten Kaffee einnahmen.
Die folgenden Tage verschlechterte sich das Wetter immer mehr und ich erreichte im Regen Santiago. Die wenigen Regenpausen nutzte ich für Fotos. Diesmal schaffte ich es sogar allein in die Kathedrale und sah zum ersten Mal den Botafumeiro, das Weihrauchfass, das bei den Gottesdiensten geschwungen wird.
2020, bei meinem ersten Besuch der Kathedrale, war er wegen der Renovierung der Kathedrale für das heilige Jahr nicht zu sehen. Dafür durfte ich damals den heiligen Jakob umarmen, was diesmal wegen der Covid-Regeln nicht mehr erlaubt war.
Nach einem Tag in Santiago brach ich nach Finesterre auf. Schwere Regenfälle mit Sturm sollten mich die nächsten drei Tage nach Finesterre begleiten, ans "Ende der Welt"!
Ich konnte wieder viel über mich erfahren, meine Rehabilitation voranbringen und neue Ideen sammeln. Zunächst muss ich alles noch sacken lassen, bis ich die Zeit aufarbeiten kann. Noch steht mir ja der Weg nach Muxia bevor.
Ein Traum wurde wahr, eine Nachtwanderung am Camino Frances. Seit meinem ersten Weg 2018 spuckte es mir im Kopf herum, den Camino auch einmal bei Nacht zu erleben. Früher aufstehen und etwa eineinhalb, zwei Stunden im Dunkeln zu gehen, daß war mir schon vergönnt. Eine Nacht durchzugehen verhinderten bisher die Folgen des Hirnabszesses.
Damals, auf dem Weg nach Finesterre, ging ich dem untergehenden Vollmond nach. Seit damals bin ich fasziniert vom Gehen in der Nacht. Meine Verbesserte Wahrnehmung sollte es mir diesmal ermöglichen.
Damals entstand der Traum einer kompletten Nacht im Freien. Bisher war es nicht möglich, denn das fehlende Gefühl für die Stellung der Gelenke kann ich zwar kurzfristig ausgleichen, aber noch nie eine ganze Nacht hindurch. Allerdings hat sich meine Wahrnehmung in den letzten Wochen verbessert, deshalb wollte ich es endlich einmal probieren. Es wurde einer dieser Tage (Nächte), für das sich die unzähligen Stunden, Wochen und Monate des Trainings auszahlten.
6 Jahre Training sollten sich in dieser Nacht bemerkbar machen. Was habe ich für diesen Zustand nicht alles getan? In diesen Tagen hatte ich oft davon gesprochen oder auch daran gedacht, wie mir eine Ärztin 2017 sagte, ich solle einen Gang zurück schalten und es akzeptieren wie es ist, weil sich nicht mehr viel verbessern wird. Damals konnte ich 300 (dreihundert) Meter am Stück gehen und ein, vielleicht zwei Kilometer, mit vielen Pausen, als gesamte Tagesleistung.
Es war ihr Glaube, zum Glück nicht meiner. Das ich diese Nacht schaffen konnte, ist wohl auch den endlosen Kilometern schuldig, die ich bisher zurücklegte. Mit diesem Camino bin ich seit 2016 einmal um die Welt gegangen, also rund 40.000 Kilometer. Doch dazu mehr in einem anderen Blog.
Am Camino müssen Herbergen spätestens um 8 Uhr verlassen werden. Das zögerte ich bis zuletzt hinaus, denn ich wollte jede mir mögliche Kraft über den Tag sparen. Eigentlich war ich mir noch gar nicht sicher, ob ich es machen wollte oder nicht, aber zumindest im Hinterkopf hatte ich es. Ich verließ Santa Domingo de la Calzeda und nahm mir das 22 Kilometer entfernte Belorado zunächst als Ziel. Dort wollte ich weitersehen.
Es war geradezu heiß, sodass ich mich erstmals entschied, meinen Sonnenhoody zu tragen. Langarm und mit Kapuze, ist es selbst hier noch ein Novum. Bei den Amerikanischen Thru-Hikern ist es gang und gäbe, bei starker Sonne Langarm und mit Kapuze zu laufen.
Wie so oft am Camino, brachte er auch diesmal eine, wenn auch nur für kurze Zeit, eine Bekanntschaft, die ich sogar unbekannterweise kannte. Zunächst unterhielten wir uns noch auf Englisch, schwenkten aber schnell auf Deutsch um, als wir uns als Landsleute erkannten. Sie war die Tochter eines mir bekannten Ehepaares aus meinem früheren Wohnort Peggau, die ich von früher allerdings nur vom Sehen kannte. So weit entfernt, trifft man unverhofft Bekannte.
In Belorado entschied ich mich fürs Weitergehen, die endgültige Entscheidung sollte aber in Villafranka, vor dem Berg, fallen. Dort angekommen, hatte ich ein tolles und interessantes Gespräch mit Alfonso, der die Bar bediente. Ich konnte dadurch sehr gut selbst reflektieren und dringende Fragen bekamen Antworten, bzw. brachten Denkanstöße.
Nach dem Gespräch und einem Kaffee mit Orangensaft, legte ich mich ins Gras, pflegte meine Füße und entschied mich für die Nachtwanderung. Keine Störung von Außen sollten meine Gedanken beeinträchtigen. Das soeben erlebte, wollte verarbeitet werden. Den Berg überwand ich sogar noch bei Tageslicht und erreichte San Juan de Ortega bei Sonnenuntergang. Es war einfach nur toll, in die untergehende Sonne hineinzuwandern. Eigentlich hört man da meistens auf und kümmert sich um eine Herberge und etwas zu Essen.
Es war zwar noch nicht Vollmond, aber er scheinte doch sehr hell. Der Sternenhimmel kam nicht ganz zur Geltung, aber die Stimmung war einmalig. Der fast Dreiviertelmond brachte jedoch gleich so viel Licht, dass ich die Stirnlampe kaum brauchte. Für den Vollmondtag ist ja leider Bewölkung vorhergesagt, weshalb ich mich unter anderem schon jetzt für diese klare Nacht entschied.
Auf meiner linken Seite wanderte der Mond mit mir mit. Am Cruz de Matagrande en Atapuerca, einer Bergüberquerung vor Burgos, stand ich um Mitternacht am Kreuz. Der Mond leuchtete hell und ich war umringt von einer einzigartigen Lichtstimmung.
An diesem Kreuz habe ich 2018 Freudentränen vergossen, denn der Aufstieg war damals mit der Halbseitenlähmung ein schwieriges Unterfangen, besonders die vielen Steine setzten mir sehr zu. Ich setzte mich wie damals unters Kreuz, diesmal aber bei Nacht und rekapitulierte im Schnelllauf die vergangene Zeit. Um halb eins in der Früh begann ich den Abstieg, begleitet von einem warmen Wind, als ob mir das Universum sagen wollte, gut gemacht!
Eine kurze Schlafpause legte ich im nächsten Dorf in einem Gastgarten ein, wo ich mir zwei Stühle herrichtete. Die Rast tat gut, denn sonst wäre ich zu früh in Burgos angekommen.
Entgegen meiner bisherigen Wege ging ich diesmal nicht den Alternativweg, sondern wollte den Hauptweg hinein nach Burgos kennenlernen. Leider kein guter Gedanke, denn der Weg entlang der Straße war wirklich nicht schön und ich wäre besser bei der Alternative geblieben.
In Burgos legte ich mich nochmal für eine halbe Stunde auf einer Parkbank hin, bevor es in die Innenstadt ging. Es war ein paar Minuten nach sechs Uhr und ich hoffte auf ein offenes Café. Es sollte aber noch bis sieben Uhr dauern, bis eines öffnete. Ich war der erste Gast, aber nach und nach trudelden die ersten Pilger ein, allerdings um vor ihrem Weiterweg zu frühstücken. Ich war sicher der einzige, der gerade angekommen ist und sich jetzt gerne zum Schlafen hingelegt hätte.
Da die Herberge erst um 12 öffnete, spazierte ich in der Innenstadt umher und besuchte mehrere Cafés.
Vorwiegend positiv ist mein Resümee über diese Nachtwanderung. Eigentlich nur positiv, was die Nacht betrifft. Einzig eine verminderte Reaktion, Koordination und Müdigkeit über den Tag blieben zurück. Vor allem das Gehen im Dunklen war zwar anstrengend, aber gut machbar. Ich stiefelte zwar manchmal wie am Anfang in Skischuhen dahin, aber nur in Momenten wo es steinig und schwierig war oder wo ich stürzen konnte.
Eine gute Unterstützung waren mir meine Hoka Schuhe, die auch größere Steine und Unebenheiten schlucken und mir ein leichteres Gehen ermöglichten. Diese Nachtwanderung zeigte mir aber auch auf, wo ich noch Verbesserungsbedarf habe, woran ich noch trainieren kann und wo meine Limit liegen. Ich möchte noch mehr Automatisation bekommen, denn dann wird alles gleich nochmal viel leichter.
Zum Abschluss kann ich nur sagen, gerne wieder! Ich werde es sicher noch einmal probieren, dann aber besser planen, denn Burgos kam viel zu früh und das nichts offen hatte, erschwerte die Sache. Insgesamt hatte ich rund 80 km zurück gelegt, vom Morgen ab Santa Domingo, bis Burgos, um 5 Uhr früh.
Ein intensiver Trainingsblock, der vier Monate dauerte, liegt hinter mir. Das therapeutische Tanzen, die Wahrnehmung und Krafttraining spielten die größte Rolle darin. Zur Belohnung geht es dafür Ende September zum Camino France, zusammen mit meinem jüngeren Sohn Elvin.
Das therapeutische Tanzen hat einen großen Anteil daran, dass es überhaupt möglich sein kann. Nach zwei Jahren Pandemie habe ich viel aufzuholen, um wieder dort zu stehen, wo ich vor der Zeit mit Corona stand, damals im Februar 2020.
Ich hatte gerade den Camino France im Winter beendet und meine Rehabilitation verlief perfekt. Voller Tatendrang kam ich zurück nach Hause und wollte weiter darauf aufbauen, aber Corona kam dazwischen.
Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich meiner Therapeutin Hanna Treu dankbar bin, für Ihre Arbeit. Sie hat mich sehr gut durch die Corona-Zeit begleitet und ihr habe ich es zum größten Teil zu verdanken, dass ich einigermaßen gut durch die gesamte Pandemie gekommen bin. Die Zeit war nicht ohne, denn bis auf ihre Therapie, ist alles andere weggebrochen. Ich konnte zwar meinen Walkabout durch Österreich im letzten Jahr unternehmen, aber der letzte Winter gab mir dann den Rest, vor allem mit dem Nierenstein, der ein Andenken an die vielen Kontrastmittel der unzähligen MRT war.
Vor mittlerweile drei Jahren habe ich mit dem therapeutischen Tanzen begonnen, damals nicht wissend, auf was ich mich einlasse. Mich hat der Name "therapeutisches Tanzen" extrem angesprochen und von der ersten Stunde weg war ich bestätigt, dass es das richtige für mich ist. Wenn ich zurückdenke an die erste Stunde und meinen körperlichen Zustand im Gegensatz zu heute vergleiche, so liegen Welten dazwischen. Mit herkömmlichen Therapien wären auch Verbesserungen möglich gewesen, aber nicht in dieser Art und in diesem Umfang, wie es die Tanztherapie möglich gemacht hat.
Der Abszess am Thalamus, die Steuerzentrale des Körpers, hat meine gesamte Körperfunktion gestört, die ich nur "Step by Step" wieder zu reparieren vermag. Die Tanztherapie hat genau diesen ganzheitlichen Ansatz, den ich brauche.
Das therapeutische Tanzen ist die einzige Therapie, die ich seit drei Jahren mache und ich möchte keine einzige Stunde missen. Nach jeder Stunde habe ich etwas dazugelernt, dass mich oft bis zur nächsten Stunde beschäftigte und ich weiter übte. So gelang es mir bisher Schritt für Schritt, mein Gehen, mein Vertrauen, mein Bewegen und meine Wahrnehmung zu verbessern.
Wenn ich zurückdenke, mit welchem Druck in meinen Reha-Aufenthalten gearbeitet wurde, um nach sechs Wochen stationärer Therapie herzeigbare Ergebnisse präsentieren zu können? Mit einem Bruchteil der Summen, welche die SVS damals aufwendete, wäre die Tanztherapie und damit eine wesentlich bessere Rehabilitation möglich gewesen. Gerade diese ersten zwei Jahre sind so wichtig, da hier die größten Verbesserungen zu erwarten sind. Da sie aber nicht im Katalog der SVS aufscheint und von der Sozialversicherung nicht anerkannt wird, wurde mir diese Möglichkeit weder gesagt, geschweige denn angeboten.
Es geht halt, wie so oft, nur ums liebe Geld und nicht darum den Menschen wirklich helfen zu wollen. Geld umzuverteilen ist meist der Grund, denn an Krankheit verdienen viele, der Mensch steht dabei an zweiter Stelle. Wie das so läuft, hat die Pandemie gezeigt, wenn man sich die Nutznießer anschaut und wohin vieles Geld und Leistungen geflossen sind. Mit großer Mehrheit nicht zu den Menschen, die es gebraucht hätten.
Die Politik ist kaum mehr für uns Menschen da, sie bestimmen aber die Richtung. Irgendwas läuft da verkehrt.
Am Anfang nach dem Hirnabszess war einzig und alleine der Druck da, mich wieder in den Arbeitsalltag eingliedern zu können. Bei jedem Gespräch mit der SVS kam im Nachsatz, "...aber sie wissen schon, dass sie nach der Reha wieder arbeiten müssen, zwar eventuell nur in einem Teilbereich, was sie bisher machten, aber arbeiten gehen müssen sie!".
Dabei war ich damals nur daran interessiert, mich wieder alleine bewegen zu können, denken zu lernen und mein Leben wieder irgendwie auf die Reihe zu bekommen. Da hatte ich wirklich andere Sorgen, als mich ums Arbeiten zu kümmern.
Trotz therapeutischen Tanzen bin ich noch weit davon entfernt, wieder Arbeiten gehen zu können. Das ist und war allerdings auch nie mein Anspruch. Ich habe den Hirnabszess überlebt und das war meine größte Leistung, alles Weitere ist nur Draufgabe. Hätte ich nicht durch Zufall von der Tanztherapie erfahren und mich darüber getraut, so hätte ich mich mit Sicherheit mehr in Richtung eines Pflegefalls bewegt, denn 2019 war ich noch immer einer.
Dass ich mich 2018 trotz der Defizite auf den Camino in Spanien begeben habe und die Tanztherapie 2019 begann war, schlichtweg gesagt, die Rettung für mein Leben.
In der Therapie lerne ich, wieder mit mir in Verbindung zu kommen, meinen Rhythmus zu finden, meine Gefühle und Emotionen zu regulieren, mit anderen Menschen in Kontakt treten zu können und vieles mehr. Das und der Camino sind mein Lebenselixier. Diese beiden sind mir die größte Hilfe, wieder ins Leben zu finden.
Ende August hatte ich erstmals einen Zustand beim therapeutischen Tanzen erlebt, wie ich ihn mir seit sechs Jahren wünsche. Ich hatte immer diesen Wunsch, mich einfach nur 10 Minuten, ohne nachzudenken, bewegen zu können, einfach nur zu SEIN und die Welt um mich herum wahrnehmen zu können, wie früher. Für ca. 45 min. hatte ich nach der Therapie erstmals dieses Gefühl. Es ist meine Motivation für das weitere Training, es wieder zu können. Es war zwar nur kurz, aber es war ein traumhaftes Gefühl. Ich werde später in einem eigenen Blogartikel darauf näher eingehen, was und wie ich das erlebte und werde versuchen, die Tanztherapie vorstellen.
Soviel sei dazu gesagt, dass mir diese rund eine Stunde zeigte, dass jeder der bisher über 2.600 Tage oder 52.900 Stunden es wert war, das doch oft recht mühsame Training zu machen, weiter zu üben und jeden Tag dranzubleiben, selbst wenn es manchmal sinnlos erschien. Dafür bin ich so dankbar, den der Schritt zum Pflegefall war näher, als man glaubt, vor allem wenn man mich heute sieht, glaubt man es kaum. Es hätte definitiv anders ausgehen können.
Zur Belohnung für diesen intensiven Sommer, geht es zum Camino France. Mein jüngerer Sohn Elvin wird mich begleiten und das ist für mein Gehirn eine besondere Aufgabe, alles zu planen und auch unterwegs damit umzugehen. Andererseits plane ich nicht zu viel im Voraus, den der Camino wird auch diesmal wieder seine Magie, seine Schätze und manchmal auch seine Herausforderungen bereithalten. Einfach darauf einlassen, schauen was kommt und vertrauen.
"Du bekommst, was du brauchst, nicht, was du dir wünscht!"
Camino Sprichwort
Planvoll ohne Plan ist das Motto. Da mein Sohn arbeitet, ist es für uns ein großes Privileg, vier Wochen freizubekommen. Trotzdem bin ich zum ersten Mal mit einem Limit in der Zeit unterwegs. Das wird eine Herausforderung für mich, aber auch für Elvin. Theoretisch müssten wir im Schnitt 30 Kilometer am Tag gehen. Schaffen wir das nicht, werden wir für ein Stück auch den Bus nehmen.
Da ich Kraft und Stabilität in der Pandemie eingebüßt habe, muss ich am zu tragenden Gewicht feilen. Durch die Erfahrung mittlerweile, habe ich alles optimiert, immer meinem Gesundheitszustand angemessen, das Leichteste zu verwenden. So werde ich nur 3,5 Kilogramm Basisgewicht tragen, zu dem sich noch Wasser und Verpflegung dazugesellt.
Der Oktober kann noch recht warm sein, trotzdem kann es auch recht kühl werden. Dünne Daunenjacke, Regenschutz und Wärmeschicht ist wichtig, um für alles gerüstet zu sein. Man glaubt aber nicht, mit wie wenig man in Wirklichkeit auskommen kann. Für mich bedeutet weniger Gewicht, halt sehr viel mehr an Genuss, denn durch die Muskelschwäche bin ich nur begrenzt belastbar. Dadurch, dass ich aufs Gewicht schaue, sind Fernwanderungen erst möglich geworden.
Auf Zelt oder Campingausrüstung muss ich derzeit noch verzichten, trainiere aber darauf hin. Ich möchte gerne endlich von zu Hause aus nach Santiago aufbrechen oder eine große Runde durch Deutschland gehen. Immerhin 3 - 4.000 Kilometer. Allerdings muss das noch warten, bis ich meine Muskeln so weit hinbekommen habe.
Weit- oder Fernwandern schenkt Selbstvertrauen und Freiheit und macht mich glücklich. Drei Eigenschaften, an denen ich auch zu Hause arbeite. Es sind Grundvoraussetzung für Heilung.
Diese Reduktion aufs Wesentliche macht einen empfänglicher für die oft kleinen Schritte in meiner Rehabilitation. Zu Hause wird man ständig von Reizen überflutet, überhaupt ich, mit meinem löchrigen Gehirn, das Reize ungefiltert hindurchlässt. Darum gehört eine ungeheure Selbstdisziplin dazu, mich in der Stadt oder neben Verkehr zu bewegen. Deswegen suche ich so oft die Natur auf, um meinem Gehirn die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen.
Hingegen macht eine Weitwanderung oder Pilgerfahrt den Kopf frei. Man wandert dann nicht nur mit den Füßen, sondern auch der Kopf wird bewegt, im geistigen Sinne. Die aufkommenden Glücksmomente spürt man beim Wandern sehr direkt, schnell und intensiv. Das fördert mein Wohlbefinden. Kleine Dinge, wie ein wärmer Sonnenstrahl, eine Blume oder ein Insekt, bekommen eine größere Wertigkeit.
So werde ich auch diesmal wieder das Pilgern mit beim therapeutischen Tanzen gelernten Sachen verbinden. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Leichtigkeit. Dafür habe ich wieder eigens von meiner Therapeutin Tücher bekommen, die diese Leichtigkeit unterstützen werden. Ich hatte sie schon am Walkabout dabei.
Für Elvin wird es ebenso eine tolle Erfahrung werden, denn schon bei meinem ersten Mal im Jahr 2018 wollte ich ihn meinen Kindern näherbringen. Mit meinem älteren Sohn Noah bin ich ja gleich nach meiner Rückkehr 2018 noch einmal hingefahren. Auch er hat den Camino speziell in Erinnerung behalten. Für Elvin kam dann die Pandemie dazwischen, daher bin ich froh, dass es jetzt klappt.
Los geht es Ende September. Ich werde auf Facebook hin und wieder berichten oder in der Story Bilder posten. Ende Oktober wissen wir jedenfalls, wie die Pilgerfahrt verlaufen ist.
Gehen in der Natur ist Leben, dazwischen steht Üben, Therapie und Training, das zwar auch dazugehört, ich aber nicht unbedingt zum Leben dazuzählen möchte. Ich muss dazusagen, dass ich jetzt im siebenten Jahr nach dem Hirnabszess stehe.
Die Therapie an der Propriozeption ist etwas, was ich nicht an einem Tag erlernen kann und bei mir sowieso einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Es geht darum hineinzuspüren, wie es mir aktuell geht und dann daran trainieren. Gewisse Dinge lassen sich allerdings auch nicht mehr herstellen, wie manches am Nervensystem.
Deshalb komme ich auch vom Reha-Gedanken nicht los. Von Anfang an in der Reha, in der Physiotherapie, Ergotherapie oder im therapeutischen Tanzen, hat sich der Reha/Therapie-Gedanke festgesetzt und ist nach wie vor in mir präsent. Dranbleiben ist wichtig und dafür muss ich meine Motivation fürs Training und Üben hochhalten, auch wenn ich einmal nicht möchte.
Zu Hause ist noch zu viel im Gedanken der Therapie, etwas verbessern zu wollen oder wenigstens behalten zu können. Das Leben tritt dabei in den Hintergrund. Leben und Therapie passen noch nicht zusammen, denn mein Leben ist von Therapie bestimmt.
Besonders die Corona-Pandemie mit ihren Maßnahmen hat mich sehr aufgehalten wieder ins Leben zu kommen. Daher war der Camino Frances eine willkommene Abwechslung zum täglichen Training zu Hause. Die täglich vielen Stunden Gehen in der Natur taten mir gut. Allerdings zeigte der Weg mir auch alles gnadenlos auf, was nicht passte.
Seit dem Camino arbeite ich konzentriert an allem. Durch die vielen Einschränkungen in der Pandemie habe ich mich seit zwei Jahren immer mehr zum Gehen in die Natur zurückgezogen. Vieles schon gelernte, ist jetzt wieder neu zu erfahren. Doch dieses "neue" kann auch abschrecken, es kostet mir oft zu viel Energie. Dann heißt es ruhig bleiben und weitermachen, wie ich eben schon vor drei Jahren an mir arbeitete.
Oft bleibe ich dafür lieber im Wald, der mir Ruhe gibt, um wieder Energie fürs Weitermachen zu haben.
Es sind so viele Bereiche zum Trainieren, dass ich nur langsam vorwärtskomme und die Propriozeption ist dabei eine der wichtigsten. Unterteilen kann ich sie in die Empfindungsnerven, in Nerven, welche die Muskeln steuern und Nerven, die die Organe steuern.
Jeder einzelne Bereich gehört trainiert und therapiert, um meine Wahrnehmung und die Bewegung zu verbessern. Beim Gehen merke ich es sofort, wie ich drauf bin. Höre ich auf an etwas zu trainieren oder gibt es eine zu lange Unterbrechung, bildet sich alles immer wieder schnell zurück.
Daher waren die Einschränkungen in der Pandemie wenig hilfreich, da ich nicht alles kompensieren konnte. Ich tat zwar, was ich konnte, aber in Summe war der Rückschritt zu groß.
Besonders die Hände fühlen sich pelzig an und das Gefühl ist mal besser oder schlechter. Besonders das Gefühl über die Stellung von Muskeln und Sehnen ging verloren. Durch die wenigen Informationen über die momentane Körperhaltung entsteht eine Gang-Unsicherheit. Nur durch die endlosen Wiederholungen im Gehen, besonders beim Pilgern, kann ich mittlerweile recht sicher gehen. Dranbleiben heißt aber das Zauberwort, denn es bildet sich immer recht schnell zurück und Unsicherheit ist dann die Folge.
Enge Gehsteige neben einer befahrenen Straße erfordern dann noch mehr Aufmerksamkeit als sonst. Sicherheit gibt mir dann das entlang gleiten mit einem Finger am Zaun oder einer Mauer neben mir. Damit kann ich Entfernungen besser abschätzen und bleibe stabiler.
Bei der Temperatur muss ich noch besonders aufpassen. Das Wärme- und Kälte-Empfinden hat sich zwar gebessert, ist aber noch immer gestört. Ich kann oft nicht richtig abschätzen, wie starker Sonnenschein oder Kälte schnell zu Sonnenbrand oder Erfrierungen führen kann. Die Nerven senden falsche oder gar keine Reize an das Gehirn. Die Folge können ein Schweregefühl, ein Kältegefühl, Missempfindungen oder ein verändertes Schmerzgefühl sein.
Eine Schwierigkeit ist es, das immer richtig einordnen zu können. Da hat mir das therapeutische Tanzen beim Üben der Eigenwahrnehmung sehr geholfen. Damit lerne ich immer besser, alle Empfindungen besser einordnen zu können. Diese mittlerweile immer bessere Wahrnehmung meiner selbst hilft mir über die fehlende Wahrnehmung im Außen hinweg.
An Brücken oder ausgesetzten Stellen muss ich nach wie vor aufpassen, es geht aber schon viel besser. Klettern in der Waagrechten, einen Schritt die Wand hoch, geht schon. Senkrecht die Wand hoch, funktioniert noch nicht. Schwindel haltet mich noch davon ab.
Notwendige Impulse werden nicht richtig oder gar nicht an Muskeln weitergeleitet. Das bekomme ich besonders beim Bergauf gehen zu spüren oder wo ich Kraft brauche. Außerdem spüre ich die Halbseitenlähmung wieder stärker, besonders am rechten Fuß. Besonderes Augenmerk lege ich deshalb darauf, beide Beine gleich zu belasten oder im Fitnessstudio das Richtige zu trainieren.
Ich bekomme sonst immer wieder Kreuzschmerzen durch die ungleiche Belastung, besonders beim Tragen vom Rucksack. Wenn ich nicht darauf achte, kann es zu schmerzhaften Überreaktionen kommen.
Daher ist auch sechs Jahre nach dem Hirnabszess noch Therapie notwendig, die ich aber größtenteils in Eigenregie durchführe, denn genug Übungen kenne ich von vergangenen Physiotherapien. Mein Tagesablauf ist geprägt von so vielen verschiedenen Dingen, auf die ich achten möchte und die notwendig sind. Mein Leben gleicht einem Spitzensportler, der auf so viele Sachen achten muss, um Leistung erbringen zu können.
Der Unterschied zu mir ist, ich möchte nur wieder leben oder überleben können. Deshalb bezeichne ich diese Zeit auch als "das längste Rennen, dass ich je gefahren bin".
24 Stunden am Tag sind dazu da, um besser zu werden. Mindestens 10 Stunden dauert die Nachtruhe, nur dann habe ich genug Energie für den Tag. Seit einem Monat verwende ich eine Uhr, die viele Parameter aufzeichnet. Es ist ein recht genaues Abbild meines Zustandes und zeigt mir, dass ich mit meinem Gefühl richtig liege. Ich werde demnächst einen eigenen Artikel darüber schreiben, was mir die Uhr sagt, zeigt und wie ich sie benutze.
Hier kann es zu unterschiedlichsten Folgen kommen, je nachdem, welches Organ betroffen ist. Meine Haut ist sehr trocken und außerdem sehr dünn. Das macht sich schnell in Verletzungen bemerkbar. Kleine Rempler erzeugen oft blaue Flecken.
Die Blendempfindlichkeit ist mal besser, mal schlechter und Sonnenbrille ist sowieso Pflicht bei mir, wegen der Gefahr von epileptischen Anfällen, die oft mit einem Hirnabszess einhergehen. Ich bin zwar lichtempfindlicher und habe Aura-Wahrnehmungen, aber keine der allgemein bekannten epileptischen Anfälle, wo man mit Zuckungen am Boden liegt.
Meinen schnellen Herzschlag, der nach dem Hirnabszess selbst in Ruhe über 80 betrug, konnte ich durch Ausdauertraining senken. Das dauerte aber dreieinhalb Jahre. Derzeit liegt mein Ruhepuls bei etwa 55. Als Radrennfahrer lag er bei etwa 38. Alleine das Aufstehen von einem Sessel brachte meinen Puls auf 130, der bis heute auf 100 gefallen ist.
Das viele Gehen brachte mir also in allen Bereichen etwas. Wichtig ist das kontinuierliche Gehen bei mir und da waren meine Pilgerwege in Spanien und andere Fernwanderungen das Beste dafür. Natürlich spielen noch viele andere Aspekte eine Rolle, aber Gehen ist für mich die wichtigste Basis geworden. Zu Hause fühle ich mich im Wald am wohlsten.
Kein Jahr war bisher gleich und ich bin manchmal von mir selbst überrascht, wie ich meine Motivation seit so vielen Jahren hochhalten kann. Dieses Jahr ist allerdings erstmalig kein so leichtes für mich, denn es waren erstmals Rückschritte. Besonders mental muss ich es verkraften, dass mir die Pandemie doch mehr zu schaffen machte, als ich dachte.
Auf Kinderspielplätzen werde ich oft daran erinnert, wenn ich das Himmel-Höllenspiel sehe, wo ich stehe. Im Moment ist das Leben wieder weiter fort gerückt, als es schon war. Wieder Leben zu lernen, ist mein vorrangiges Ziel geworden. Dafür arbeite ich an mir. Wieder einmal ins Kino gehen zu können oder am Abend genussvoll Essen gehen zu können, davon kann ich derzeit nur träumen.
Ich bin mir noch nicht wirklich darüber klar geworden, welcher Weg dorthin führen kann. Zunächst heißt es aber einfach weitermachen, dort, wo ich vor der Pandemie aufgehört habe.
"Man muss das Leben gut studieren, und jeden Tag von Neuem ausprobieren."
Da gilt besonders für mich.
Die Lebensenergie muss fließen, damit man gesund sein kann. Seit dem Hirnabszess bin ich dran, diesen Fluss wieder herzustellen, der damals massiv unterbrochen wurde.
Meine Rehabilitation besteht noch immer aus zahlreichen Therapien, einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Natur ein. Hier kann ich meine Lebensenergie am besten spüren und wiederherstellen.
Als Lebensenergie wird definiert, unter den vorgefundenen Lebensbedingungen zu gedeihen und zu überleben. Für mich heißt es, mit meinen Handicaps leben zu lernen, in der Umwelt, die mir zur Verfügung steht.
Der Hirnabszess und die Folgen davon, hatten Verspannungen im gesamten Körper zur Folge, unter denen die Lebensenergie nicht mehr frei durch mein System fließen konnte.
Eine grundlegende Frage dabei ist: Worauf richte ich meinen Focus in der Aufmerksamkeit?
Dieser Focus war früher auf Tun, etwas Leisten müssen und etwas zu Erreichen, gerichtet. Der Druck, die Familie zu ernähren, die Steuern und die Miete zu bezahlen, lässt einen oft die falsche Abbiegung nehmen und ehe man sich versieht, ist man im Hamsterrad.
Seit dem Hirnabszess ist mein Focus auf die Lebensenergie gerichtet, also auf Freiheit, Sein, Geschehen-Lassen, Liebe und Genießen. Das Nervensystem folgt der Aufmerksamkeit und der äußeren Ausrichtung. Deswegen sollte man sich immer darüber bewusst sein, wo liegt die Aufmerksamkeit.
Mit dem Hirnabszess habe ich mich an den Fast-Endpunkt meiner Lebensenergie begeben. Vor sechs Jahren stand ich praktisch bei fast Null. Allerdings war mein Lebenswille so groß, dass ich noch einmal die Kurve gekratzt habe. Mit jedem einzelnen Atemzug hole ich mir Lebensenergie zurück, bis heute.
Die Lebensenergie zurückzubekommen, kann auf verschiedene Art erfolgen. Meine liebste ist der Aufenthalt in der Natur, zwischen Bäumen, im Wald, auf Bergen oder an Flüssen. Deshalb gehe ich auch so oft Pilgern oder unternehme Fernwanderungen.
Daraus gehe ich jedes Mal gestärkt hervor, erhalte mehr Lebensenergie und kann mich physisch und psychisch stärken. Trotzdem sind die Fortschritte oftmals sehr klein und nicht sofort bemerkbar.
Den Kontakt zum Körper wieder herstellen, lerne ich sehr gut beim therapeutischen Tanzen. Dafür ist es wichtig, im Moment zu bleiben, die Anspannung spüren und sie auch benennen zu können. Das hilft mir sehr. Die Abwechslung zwischen Tun und Nichts-Tun gehört dabei dazu.
Die ersten drei Jahre war kaum ein Unterschied zu spüren, innerlich ging die Aktivität ständig weiter und hielt den Körper unter Anspannung. Erst seit dem Camino Norte 2019 und danach, mit dem Beginn des therapeutischen Tanzen, konnte ich mein System immer mehr beruhigen und diese ständige Anspannung lösen.
Innerlich frei sein, ist wohl unser aller Ziel. Schade ist nur, dass ich den Hirnabszess brauchte, um es zu erreichen. Denn dieses innerlich frei sein, hätte ich vorher auch haben können. Aber der Mensch bekommt so lange Lernaufgaben, bis er es lernt oder eben auch nicht.
Am besten ging es mir damit beim Walkabout durch Österreich, dort fühlte ich mich frei, wie noch nie zuvor. Es war ein jahrelanges Annähern, um diesen Zustand zu erreichen. Noch aber bin ich schwankend, gerade die Pandemie hat erneut alles gehörig durcheinander gewürfelt.
Die Natur hat einen großen Anteil in den letzten Monaten und über den Winter in meiner Rehabilitation gehabt, wo ich trotzdem erstmals seit Jahren Rückschläge hinnehmen musste. Diese Rückschläge entpuppen sich aber immer wieder als Fortschritt, wenn ich es auch nicht immer sofort erkennen kann.
Freiheit ist mir ein wichtiges Gut, wenn nicht das Höchste. Gerade die Pandemie brachte viel Unfreiheit, in der es wichtig wurde, im Inneren freizuwerden.
Am Camino France im April, wurde es mir wieder einmal mehr bewusst, wie sehr mir die Freiheit wichtig ist. Und es ist nicht die Freiheit im Außen gemeint, erst mit der Freiheit im Inneren kann die Lebensenergie richtig zirkulieren. Ein großer Schritt ist schon gemacht, aber ich habe noch viele Schritte vor mir. Schritt für Schritt, und wenn sie noch so klein sind, komme ich meinem Ziel wieder zu leben näher.
Die Lebensenergie finde ich immer wieder in der Natur und in den kleinen Dingen, die sie bietet. Ob Blumen, Pflanzen, Insekten oder Vögel, alles gibt mir Energie und Lebensfreude. Darauf kann ich aufbauen, diese Lebensenergie so oft wie möglich zu fühlen.
Heute ist Hirn-Tumor-Welttag. Er wird abgehalten, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Erkrankung oft nicht erkannt wird. Auch mein Hirnabszess hat schon über ein Jahr vorher begonnen, ohne dass ich was spürte.
Von einem auf den anderen Tag brach es aus und streckte mich nieder. Die graue Schleife gilt als Symbol und wurde in Anlehnung an die rote Schleife (HIV) entwickelt. Ein Hirntumor hat keine typischen Warnzeichen und bleibt oft für lange Zeit unentdeckt. Vom Schicksal sind auch die Familie und das Umfeld massiv betroffen, denn es endet oft als Pflegefall. Das ist für viele eine enorme Belastung, nicht nur für den Betroffenen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Hilfe meistens aus Selbsthilfe besteht und es in der Nachversorgung meistens kaum Unterstützung gibt. Man ist auf Eigeninitiative angewiesen. Auch bin ich noch oft auf die Hilfe anderer angewiesen, was durch die Pandemie sehr erschwert wurde.
Es zählt: #nevergiveup
Hochsensibilität kann ein Fluch und Seegen sein. Der Hirnabszess hat es dahin verändert, dass alle Filter im Gehirn geöffnet wurden, die uns normalerweise vor diesem zu viel an Eindrücken schützen. Der Hirnabszess hat bei mir alle Filter entfernt und ich versuche jetzt seit sechs Jahren, das wieder in den Griff zu bekommen. Dieses zu viel an Empathie, aber auch die Wahrnehmung im Außen, muss ich erst einmal in den Griff bekommen.
Ich war schon früher hochempfindlich, hatte es allerdings im Griff und konnte es als Energetiker gut handhaben. Das hat sich verändert, denn ich habe alles neu zu lernen, neu zu bewerten und vor allem, damit umgehen zu lernen.
Sensible Menschen sind emphatisch und können extrem auf die Emotionen und Energien anderer reagieren. Sie nehmen diese Emotionen anderer schnell auf und werden als ihre eigenen empfunden. Sie sind hoch intuitiv und spüren weit über oberflächlicher Eindrücke, gegenüber Menschen und Situationen. Deshalb arbeiten sie auch oft in Heilberufen, weil sie die Bedürfnisse, Emotionen und Feinheiten spüren, die andere nicht wahrnehmen können. Das ist einerseits eine erhöhte Empathie im Inneren, andererseits die Wahrnehmung im Außen, zum Beispiel auf Brücken oder an Abgründen.
Wir registrieren alles feiner, wie den Anflug eines Stirnrunzeln oder eines Lächelns wahr und durch die Gesamtheit aller Wahrnehmungen, können wir fühlen, was ein anderer Mensch empfinden könnte. Es aktiviert die gleichen Regionen im Gehirn, wie das anderer, die für das Ausführen der Tätigkeit im Gehirn aktiviert werden. Ein kleiner Teil hat auch das Phänomen, dass sie an sich fühlen können, wenn sie sehen, wie der Körper eines anderen berührt wird.
Wir können in feinsten Nuancen den Ansatz von Eifersucht oder Neid in der Stimme spüren, den Ton von Freude oder Ärger, trotz augenscheinlich zurückhaltender Worte. Wir merken sofort, wenn jemand lügt. Das ist oft nicht leicht auszuhalten oder zu verstehen, denn vieles ist einem selbst nicht klar. Sich selbst wieder vertrauen zu können, ist Angesicht dieser vielen Eindrücke oft nicht leicht.
Hochsensible haben ein überempfindliches Nervensystem, mit dem sie mehr als die meisten anderen, alles rund um sich wahrnehmen. Deswegen spreche ich oft darüber, meine Wahrnehmung verbessern zu wollen. Eigentlich meine ich damit, es so weit kontrollieren zu können, dass ich einigermaßen ohne Stress mit mehreren Menschen zusammen kommen kann oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein kann. Das reicht mir derzeit schon.
Als Hochsensibler muss ich mich in einer Welt zurechtfinden, die meine Erfahrungen oft ablehnt und sich gleichzeitig auf mich verlassen kann. Ich habe zu lernen, auf diese meine Kraft zuzugreifen und meiner inneren Führung zu vertrauen. Vertrauen auf mein feinsinniges Spüren von Energien, den Veränderungen in der Mimik, im Tonfall und der Körpersprache und wie das im Gegensatz zu dem steht, wie er spricht. Das fällt mir im Sekundenbruchteil auf und stimmt eigentlich immer. Vertrauen finden, ist ein wichtiger Punkt.
Aus diesem Grund stelle ich meine Gefühle und Emotionen, die durch den Abszess gestört wurden, meistens auf null. Es gibt praktisch nur 100 % Emotionen oder gar keine, ohne Zwischenschritte und da sind gar keine die oft bessere Wahl. In den letzten Jahren habe ich viel dazu gelernt, aber oft fühle ich mich noch wie am Anfang. Emotionen und Gefühle in Stufen wieder zulassen zu können, das ist meine Aufgabe, die mir viel abverlangt.
Dazu kommt die Propriozeption, also zu wissen, wo der Körper endet. Über Gitter zu gehen, mit darunter tiefliegenden Boden, kann mein feinsinniges Gehirn nicht einordnen und lässt mich wo festklammern. Ich habe das Gefühl, jederzeit abzustürzen.
Es ist für mich wichtig, mich im Alltag bewegen zu können, auch wenn es stresst. Ob Einkaufen, durch die Stadt schlendern oder Besorgungen erledigen, das kostet mir viel Energie, dass mich schnell in ein Verhalten der Vermeidung fallen lässt und ich es dann oft nicht mache.
Was viele nicht verstehen, ich kann stundenlang durch die Natur spazieren, aber einmal einkaufen gehen, kann den Tag für mich beenden. Das ist schon für mich schwer zu verstehen, wie soll das dann jemand anderer verstehen. Solche Dinge im Alltag belasten mich am meisten, da sie oft erledigt werden müssen und ich nicht die Wahl habe, zwischen soll und muss.
Der Heilung kommt das allerdings meist nicht zugute. Daher muss ich oft zwischen Therapie oder Alltag im Gehirn entscheiden. Wobei auch der Alltag Therapie sein kann, aber das funktioniert nicht immer. Meistens geht es dann einfach nur ums, übertrieben gesagt, "überleben". Ein Abbruch ist oft nicht möglich.
Wenn es dann doch mal zu viel wird, breche ich ab oder gehe es langsamer an oder ich vermeide es eben. Was anderes ist es, wenn es erledigt gehört. Dann gehe ich auch über die Grenze, im Wissen, dass es das dann war und ich so erschöpft bin, dass nichts mehr geht.
2019 lernte ich mit der Ergotherapeutin Einkaufen gehen. Drei verschiedene Dinge sollte ich mir merken und sie aus dem Kaufhaus holen. Die dreißig Meter zum Eingang hin, hatte ich das Erste vergessen, beim Eingang das Zweite und mit oft nur einem, kam ich wieder heraus. Die vielen Eindrücke ließen das Merken nicht zu. Das machte ich immer und immer wieder, bis ich mich wieder einigermaßen an ein Kaufhaus gewöhnte.
Oft ging ich neben den Regalen in die Knie, weil mich alles derart überforderte. Dann musste ich alles aus den Händen legen und am schnellsten Weg wieder raus. So kam ich Schritt für Schritt langsam vorwärts und lernte einkaufen gehen. Meistens mache ich an solchen Tagen dann nichts mehr.
Das Schreiben heute, kann ich als therapeutisches Schreiben bezeichnen. Denn die Erinnerung daran lebt in mir und es fühlt sich wie wirklich an. Es ist emotional aufregend, denn dann wird mir bewusst, dass ich vieles schon konnte, aber nach der Pandemie erneut wieder zum Lernen habe. Daher weiß ich, was auf mich noch zukommt. Vieles vermeide ich daher von vornherein.
Dinge, wie an die Stadt gewöhnen oder Straßenbahnfahren, habe ich auf unbekannte Zeit verschoben. Denn warum, wenn ich gar nicht weiß, ob es einem nicht unmöglich gemacht wird, wieder für Monate im Herbst/Winter in die Stadt zu gehen oder ein Museum zu besuchen. Corona hat mich vorsichtig gemacht, damit ich nicht wieder Dinge übe, die ich dann eh nicht anwenden kann.
In der Natur und im Wald fühle ich mich anders, als zwischen Gebäuden in der Stadt oder in Einkaufszentrum. Inmitten von Grün und Bäumen fühle ich mich mit meiner Sensibilität weitaus besser. Am Jakobsweg dieses Jahr, habe ich Städte und größere Dörfer vermieden, weil ich es nicht ausgehalten habe.
Meine Hochsensibilität hat sich nach zwei Jahren der Pandemie verändert, leider nicht zum Besseren. Meine Abneigung gegen Städte ist wieder größer geworden. Seit zwei Jahren halte ich mich praktisch nur mehr in der Natur auf, abgesehen davon, wenn ich in der Wohnung bin.
Als Beispiel für Wandern nehme ich einen Ausflug in den Kesselfall, der im Norden von Graz liegt. Natur und Grün, so weit das Auge reicht. Eigentlich, das Beste, was ich mir wünschen kann, trotzdem war es zum Großteil als Therapie zu sehen.
Die steilen Leitern in der Klamm fordern meine Wahrnehmung. Besonders die Holzstiegen, mit den Blicken direkt nach unten in die Klamm, kosten viel Energie. Mein Gehirn kann die Entfernung der Holzstreben beim Steigen, mit dem sich unter mir bewegenden Wasser in der Klamm, nicht abschätzen. Es ist wie beim Gehen lernen, nur durch oftmalige Wiederholung kann ich meinen Geist wieder daran gewöhnen.
Auf solchen Steigen benötigt mein Gehirn gleich viel Energie, wie die Muskeln. Ich komme auf einem ebenen Übergang zumeist gleicher Art ins Schnaufen, als wenn ich steil bergauf gehe. Das Schöne ist aber, ich kann solche Touren wieder unternehmen. 2019 brauchte ich eine halbe Stunde Pause nach einer 500 Meter langen Brücken-Überquerung, am Camino Norte. Sie führte hoch über einen Meeresarm und brachte mich übers Limit.
Solche Sachen sind trotzdem wichtig für mich, denn mit jedem Male kann ich das nächste Mal leichter solche Zustände aushalten. Einfach machen, sage ich mir immer wieder vor, denn ich habe es ja schon einmal gekonnt und ich beginne, meinen alten Fähigkeiten zu vertrauen. Ich werde immer an meinen Physiotherapeuten in der Reha denken, der zu mir beim Steigen sagte: "Trau dich!".
Blumen, Insekten, Bäume und anderes beobachten, gibt mir innere Ruhe. Diese Ruhe brauche ich, damit sich mein Kopf erholen kann, um vom endlosen Denken wegzukommen. Diese kleinen Dinge bringen mich in eine Aufmerksamkeit und in einen erholsamen Zustand. Das wäre in der Stadt nicht möglich.In der Natur komme ich leichter mit meinen Emotionen und der Hochsensibilität klar.
Die Farbe Grün dient als Heilfarbe, lässt einen Kräfte sammeln, bringt Regeneration und vermittelt den Augen Ruhe. Den Aufenthalt in der Natur möchte ich nicht mehr gegen die Stadt eintauschen. Vor der Pandemie dachte ich immer, mich an die Stadt gewöhnen zu müssen. Langsam begann ich mich dem immer mehr auszusetzen, obwohl mir die Natur besser tat.
Stress bleibt Stress und die Stadt bleibt Stadt. Wenn ich rausgehe, dann nur in die Natur oder zum Radfahren auf Radwege und abseits gelegene Straßen. Am liebsten ist mir wandern in unseren schönen Natur. Die Stadt habe ich seit Corona nur ein paar Mal am Rande gesehen.
Denn es geht nicht wirklich darum, mich wieder an etwas zu gewöhnen, sondern an vorderster Stelle steht, Heilung zu erlangen. Vielleicht wird es auch einmal die Stadt sein, aber im Moment helfen mir die Bäume, das Gras, die Berge und das Wasser mehr, als was ich in der Stadt finden könnte. Mir ist das Rauschen eines Baches viel lieber, als das oft ähnlich klingende Rauschen des Verkehrs. Ich habe mich noch nie so in meiner Mitte gefühlt, wie am Walkabout durch Austria, wo ich 85 % der Zeit im Freien und in der Natur verbrachte.
Das Wandern ist ein gutes Mittel, um sich wieder nahezukommen und seine Identität zu spüren. Das war mit der Sinn am Walkabout. In der Natur bin ich 100 % ich und meine Gedanken werden klarer. Die bisher über 30.000 Kilometer zu Fuß waren für mich notwendig, denn ich lernte auf mein Herz zu hören, meine Energien richtig einzusetzen und wieder ausgeglichener zu werden.
Die Hochsensibilität bringt mich oft noch immer in eine Überforderung, aber ich beginne, mit diesen Emotionen und Gefühlen immer besser umzugehen.
Das therapeutische Tanzen hilft mir sehr, dieses hochsensible Spüren in die richtigen Kanäle zu leiten. Es kann ein Seegen sein, so vieles und fein zu spüren. Es kann aber auch extrem anstrengend sein, es nicht steuern zu können, das habe ich noch zu lernen. Bei sich zu bleiben, gesammelt zu sein, hilft dann enorm weiter, manchmal dauert es aber Tage, bis ich mich fange. Darum übe ich weiter und immer weiter, Achtsamkeit und Sammlung.
"Was noch klein ist, lässt sich leicht zerstreuen. Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist. Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist."
Laotse
Mich immer wieder aus den Verstrickungen des Alltags zu lösen, das schaffe ich am besten mithilfe der Natur. Das Wandern führt mich zu Selbsterkenntnis, das meiner Seele wohltut und mir Anstöße gibt, mein Denken und Verhalten zu korrigieren. Intuitiv das Richtige machen, ist mein Endziel.
Sokrates sagte einmal: "Der Mensch ist insbesondere dann glücklich, wenn er das gut tut, was er am besten kann!"
Bei mir ist es das Gehen in der Natur. Dort bin ich mit meiner Hochsensibilität bestens aufgehoben und kann sie verbessern, um wieder mehr Lebensqualität zu erlangen.
Das wird der dritte Teil meiner Reiseerzählung vom Camino France 2022, der diesmal nicht so verlaufen ist, wie ich es mir gewünscht hätte.
"Man bekommt, was man braucht, nicht, was man sich wünscht!"
...dieses Zitat hatte wieder einmal so recht!
Meine Gedanken bekam ich diesmal nicht so recht in den Griff, die PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) schwingt noch immer mit und kleine Auslöser reichen oft schon aus, um mich aus der Spur zu bringen. Ein solcher Auslöser geschah um Burgos herum, daher kam mir die folgende Meseta gerade recht, um durch Gehen meine Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.
Sie beginnt quasi in Burgos, denn nach nur wenigen Kilometern durch die Stadt hinaus, bekommt man den ersten Geschmack der Hochebene zu spüren. Schon zu Hause freute ich mich besonders auf die Meseta, denn ich liebe diese von sanften Hügeln durchzogene Landschaft mit ihren langen Geraden. Diesmal war es allerdings etwas anders. Nicht die Freude am Gehen stand im Vordergrund, sondern ich hatte nur das Ziel, meine Gedanken zum Schweigen zu bringen.
Eine komplexe PTBS hatte von mir Besitz ergriffen und um nicht in endlosen Gedankenschleifen zu enden, wollte ich durch achtsames Gehen versuchen da herauszukommen. Von Freude und Glücklichsein war ich weit entfernt, im Gegensatz zu vor 2 Jahren, meinem Winter-Camino.
Der Versuch, mich auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, gelang zum Glück immer öfter und brachte mich weg von den Gedankenschleifen, die ich ja doch nicht zu Ende denken konnte. Die Meseta war die beste Möglichkeit dafür, wieder einigermaßen mit meinen Gedanken ins Reine zu kommen.
Es fühlte sich allerdings zuerst so an, als ob meine Gedanken explodiert seien und ich war nicht fähig, einen Gedanken zu fassen. Ich stand wie neben mir und verstand die Welt nicht mehr. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut noch vom Anfang meiner Krankheit. Körper und Geist waren damals wie getrennt, und mein Ziel auf meinem ersten Camino war es, die beiden wieder näher zusammenzubringen.
Dazu war das Gehen auf der Meseta ideal, denn das Gehen hat mir bisher in so vielen Situationen geholfen. Auf meinem ersten Camino 2018 machte ich den ersten Schritt dazu und in der Folge viele weitere. Der Camino France 2022 sollte aber nach meinem ersten 2018, der Herausforderndste werden.
So hatte ich die Möglichkeit, mich an die Zeit von 2018 zu erinnern und welch langen Weg ich seither geschafft habe und vor allem, was ich seit damals alles erreicht habe. Allen Widrigkeiten zum Trotz, konnte ich langsam, Schritt für Schritt, wieder ans Leben anklopfen. Deshalb erschrak ich auch über die Heftigkeit, mit der es mich diesmal erwischte.
Der Nierenstein war das erste Zeichen, der mir viel aufzeigte. Seither konnte ich mich nie mehr richtig erfangen. Jetzt heißt es, "Back to the Roots!". Besonders mein Muskel- und Knochenkorsett neu aufbauen. Die Pandemie hat mich mehr gekostet, als ich mir eingestehen wollte.
Unterwegs bekam ich von meiner Therapeutin im Therapie-Tanzen den wertvollen Hinweis, mich auf den stabilen und leichten Zustand zu erinnern, und ihn auch zu fühlen. So kam ich, mit der Hilfe der Tanz-Therapie und des Gehens, wieder langsam in einen stabileren Zustand.
Mein Weg über die Meseta wurde somit zur Therapie, um meine Gefühle und Emotionen wieder auf die Reihe zu bekommen. Freude und Glücklichsein wollte ich wieder finden und raus aus diesen Gedankenschleifen kommen, die mir das Leben schwer machten. Mein normalerweise fröhliches dahin Summen am Weg war verstummt, es wiederzufinden wurde meine Aufgabe.
Das Wetter spiegelte mein Inneres wider. Mal schien die Sonne, mal ging Sturm oder es regnete. Das Summen kam nur langsam zurück, aber die Momente waren immer öfter. Darüber war ich froh, denn Gesundheit kann nur in einem positiv gestimmten Körper passieren und das war mir bisher in meiner Rehabilitation das wichtigste, alles unter Freude und Fröhlichkeit zu machen. Diesen Zustand wollte ich wieder erreichen.
Neben meinen Gedankenschleifen konnte ich zum Glück immer öfter die Schönheiten des Weges in mir aufnehmen. Langsam fand ich wieder zurück zu Freude und Glücklichsein. Ich durfte dankbar sein, überhaupt hier gehen zu dürfen. Nach der zweijährigen Zeit des "quasi" Stillstands in meiner Rehabilitation durch die Corona-Pandemie, war es so wichtig für mein Gehirn, wieder neue Reize zu erleben. Der Camino France 2022 brachte mir wichtigen Input für die nächsten Monate.
Ich musste aber auch erkennen, wie fragil und leicht beeinflussbar mein Gehirn noch ist, das in der Folge enorme Auswirkungen auf meinen Körper und Geist haben kann, positiv wie negativ. So machte ich am Weg meine Übungen für mehr Stabilität, die mir wieder mehr Stabilität im Leben bringen sollte. Auch Übungen für Leichtigkeit standen am Programm und so trainierte ich allein auf den endlosen Weiten, durch die Hochebene.
Ich war zum Glück praktisch alleine unterwegs, denn so brauchte ich niemanden die oft komischen Verrenkungen zu erklären, mit denen ich unterwegs war. Über den Tag bekam ich kaum andere Pilger zu sehen, ich war alleine unterwegs. Zwei, drei Pilger über den Tag, war das Maximum.
Achtsam sein gegenüber den kleinen Dinge am Weg, war eine ebenso gute Möglichkeit, mich aus den Klauen dieser Gedankenschleifen zu holen. Es war noch lange nicht alles perfekt, aber es half mir in einen für mich erträglichen Zustand zu kommen. Für die Meseta hatte ich mir eigentlich anderes vorgenommen, aber wie gesagt, man bekommt, was man braucht!
Da sich seit dem Nierenstein das automatische Gehen sehr verschlechtert hatte, blickte ich wieder vermehrt auf den Boden und zu meinen Füßen. Meine Aufmerksamkeit lag dabei nicht nur beim Gehen, sondern auch bei den Insekten, Steinen und Pflanzen am Boden. Oft beugte ich mich zum Boden hinunter, um vielerlei kleine Dinge zu betrachten. Der Camino France 2022 bekam Ähnlichkeit mit 2018.
Der Wind kam mir, anders als in den letzten Jahren, meist von vorne oder seitlich vorne entgegen. Das erschwerte das Vorwärtskommen. Da ich meine Regenjacke verloren hatte, war mein einziger Regenschutz der Poncho, der mir aber bei diesem Sturm, gepaart mit Regen, um die Ohren flog. Ich ignorierte einfach alles und stapfte emotionslos meinem Ziel entgegen, emotionslos vor allem gegenüber den Widrigkeiten. Es war mir egal, ob ich nass wurde, ich wollte nur an mein Ziel gelangen, denn da wartete eine heiße Dusche und mein warmer Schlafsack.
Umso näher ich Leon kam, desto schlimmer wurde es mit meiner Hochsensibilität. Auf geradestem Weg ging ich durch die Stadt zur Herberge in einem Kloster und verließ es nur, um etwas Essen zu gehen. Leon war leider notwendig, da ich die Vortage durch den Sturm nicht so weit vorwärtskam, wie ich wollte. Dadurch war die Etappe durch die Stadt zur nächsten Herberge danach zu weit und ich musste in der Stadt übernachten.
Ich war so überfordert von der Großstadt, dass ich am nächsten Tag noch im Dunkeln aufbrach, um dem Autoverkehr und den vielen Menschen zuvorzukommen. Als es hell wurde, befand ich mich schon in den letzten Vororten Leons, auf dem Weg in die letzten Kilometer der Meseta, nach Astorga.
Diese verstärkte Hochsensibilität gegenüber Städten ist das Ergebnis von zwei Jahren Pandemie, die verhinderte, dass ich mich weiter an Menschen, Städte und Trubel gewöhnen konnte. Ab Leon vermied ich alle größeren Dörfer und Städte und blieb nur in Herbergen vor und nach Ortschaften.
Von Astorga ging ich in einem Stück die 50 Kilometer über das Crux de Ferro, nach Ponferrada. Das Wetter war anfangs sonnig, aber kalt. Gegen 11 Uhr wechselte es auf Regen und einen immer stärker werdenden Wind, der in Sturm überging. Am Crux de Ferro hinterließ ich meinen obligatorischen Stein, den ich von zu Hause mitgebracht habe und mit dem ich Altes symbolisch hinter mir ließ.
Ab dem Crux de Ferro wechselte das Wetter dann in starken Regen und einen Sturmwind, der mir den Poncho um die Ohren fliegen ließ. Hier ging mir die Regenjacke besonders ab, die ich ja schon seit Burgos nicht mehr hatte. Deshalb machte ich nur kurze Pausen und hielt kaum an, da ich zu nass war und schnell auskühlte. Ich musste in Bewegung bleiben.
Ich wollte den schwierigen Abstieg über den steinigen Weg an einem Tag hinter mich bringen und stoppte daher nicht in den Bergdörfern El Acebo und Riego beim Abstieg. Einige Cafés und Herbergen hatten seit einigen Tagen offen, aber ich wollte nicht auskühlen, bevor ich mein Ziel, eine Herberge vor Ponferrada, erreicht hatte.
Nach 11 Stunden Gehzeit kam ich zur Albergue San Nicholas, erschöpft und ausgezehrt vom Wind und Regen. Dafür ersparte ich mir einen weiteren Regentag und eventuell einen Schneetag in den Bergen. Den nächsten Tag nahm ich dafür ganz locker. Gemeinsam mit einem Holländer ging ich die 23 km nach Villafranca del Bierzo, der fast wie ein Ruhetag war.
Die Tageskilometer waren im Gesamten eher gering, nur an ein paar Tagen forderte ich es heraus. Ansonsten waren es selten mehr als 30 Kilometer, eher gegen 25. Hin zum O Cebreiro waren es 28 Km, mit einem steilen Schlussanstieg. Ich übernachtete hier das erste Mal in der öffentlichen Herberge, bisher bin ich immer durchgegangen. In einem großen Zimmer mit 60 Betten, die alle belegt waren, war es für mich ein Kulturschock, nach den vielen einsamen Tagen auf der Meseta und den darauf folgenden Bergen, bis Ponferrada, auf so viele Menschen zu treffen.
Es war knapp vor Ostern und viele Spanier nutzten die Tage, um am Camino zu gehen. So war das plötzlich starke Aufkommen von Pilgern erklärbar. In Obreiro steht die älteste Pilgerkirche am Jakobsweg und der Ort hat eine wichtige Bedeutung für den Camino.
Die folgende Etappe brachte mich nach Samos, wo ich im alten Kloster übernachtete. Es war bisher jedes Mal ein Abenteuer, in den alten Gemäuern die Nacht zu verbringen. Ich suche mir bewusst die Orte und Herbergen aus, wo man noch das alte Pilgerfeeling am ehesten zu spüren bekommt. Samos hat eine alte und lange Tradition, Pilger zu beherbergen.
Das nehmen allerdings nur die wenigsten in Kauf, da der Komfort natürlich fehlt. Ich war allerdings zweimal nur im Winter und Frühjahr hier, das macht es nochmal besonders, denn in den alten Kellergewölben wird nicht geheizt und zum Aufwärmen geht man nach draussen. Dafür ist man fast alleine und hat seine Ruhe. Der Holländer entschied sich gegen das Hotel und versuchte sich mit mir an diesem altehrwürdigen Ort.
Wegen der Kälte freuten wir uns schon aufs Aufstehen und uns in der morgendliche Kühle aufzuwärmen. Nach wenigen hundert Metern kehrten wir ins ursprünglich von ihm geplante Hotel ein und genehmigten uns ein gutes Frühstück, zusammen mit seinem Freund, den wir dort trafen.
Zunächst ging ich nur bis Sarria, wo ich die Osterfeiertage mit zwei Ruhetagen abwarten wollte, bevor ich weiterging. Am ersten Ruhetag testete ich mich mit selbst mitgebrachten Eigentests auf Covid, da ich ein wenig verkühlt war.
Zu meinem Schrecken war ich positiv, verspürte aber keine wirklichen Symptome, außer leicht verkühlt, was aber kein Wunder war, da es fast täglich mehrmals regnete und sehr kalt war. Eigentlich hustete jeder oder war verkühlt. Ein Test am zweiten Tag war dann negativ. Ich fühlte mich nicht krank und war bisher jeden Tag unterwegs, also ging ich am dritten Tag weiter.
Die letzten über hundert Kilometer ging ich an drei Tagen bis nach Santiago. Bis Mittag war ein solches Gewusel von Pilgern am Weg, welches ab Mittag dann verschwand. Ich wollte diesen Abschnitt so schnell wie möglich hinter mich bringen und traf am dritten Tag zu Mittag in Santiago de Compostela ein. Für die gesamte Strecke von den Pyrenäen, etwa 800 Kilometer, brauchte ich 28 Tage.
Aufgrund meiner Hochsensibilität ging ich geradewegs auf den Platz vor der Kirche, wo ich mich hinsetzte. Ich erreichte zum vierten Mal nach einem großen Camino die Kirche in Santiago. Nach einer Stunde stand ich auf, suchte ein Einzelzimmer und ging ohne Umwege dorthin. Die Stadt und die vielen Menschen überforderten mich. Ich verzichtete auf die Compostela, der Urkunde für den zurückgelegten Weg und auch auf den Besuch in der Kirche. Dieses Jahr hatte ich keine Bekannten vom Weg und ich wollte meine Sensibilität nicht herausfordern.
Für mich gab es nur eine Möglichkeit von zweien. Noch weiter ans Meer zu gehen oder heimzufahren. Da die nächsten zwei Wochen kaltes und regnerisches Wetter vorhergesagt wurde, entschied ich mich erstmals für die sofortige Heimreise und nicht dafür, ans Meer zu gehen.
Es war diesmal alles anders, als die Caminos davor. Ich war allerdings froh, mich dem ausgesetzt zu haben, denn es war für mein Gehirn zwar alles andere als einfach, mit dem Thema Covid-19 am Weg umzugehen, aber ich durfte neue Erfahrungen sammeln.
Als wichtigste Erkenntnis durfte ich mitnehmen, dass ich noch immer sehr fragil bin, wenn nicht alles nach Plan läuft. Mein Gehirn ist sehr schnell überfordert und dann geht gar nichts mehr, körperlich wie geistig. Die nächsten Wochen wird es wichtig sein, wieder in eine Ausgeglichenheit und in die Freude zu kommen.
Nach zwei Jahren Pandemie habe ich viel aufzuholen, körperlich, wie auch mit dem Denken, das im letzten Jahr besonders unter den Umständen gelitten hat. Meine ursprünglichen Ziele, am Buch zu schreiben und wieder mehr ins Leben zu kommen, konnte ich nicht durchführen. Zu sehr stand die Therapie im Vordergrund.
Es hat mir aber viel aufgezeigt und ich werde die nächsten Wochen besonders auf mich achtgeben und auf mich schauen. Ein Hauptaugenmerk wird auf der Stärkung meiner für die Stabilität wichtigen Muskulatur sein und nur Sachen zu tun, die mir guttun. Der Weg hat mir gezeigt, dass ich noch sehr aufpassen muss, welchen Weg ich gehe. Der wichtigste Weg ist der Weg der Freude und Leichtigkeit, daran werde ich mich orientieren, wenn es um Entscheidungen geht!