Es gibt zwei Arten des Gehen, die ich anwende. Nach mittlerweile über fünf Jahren und trotz der vielen Weitwanderwege, habe ich noch immer Gehen zu lernen.
Eine Strategie ist es (neben einigen anderen), durch möglichst viele Wiederholungen, die Bewegung im Gehirn zu verankern. Das können nicht viele nachvollziehen, aber 30.000 km seit dem Hirnabszess haben mir viel gebracht.
Das Gehen zu automatisieren, ist mir nach wie vor ein großes Anliegen und notwendig, um eine Entlastung des Gehirns zu erreichen. Ich muss mich sonst zu viel auf den Bewegungsablauf konzentrieren, was viel Energie kostet und nichts anderes zulässt.
Mich während des Gehens zu unterhalten oder Musik zu hören ist eine gute Taktik dafür. Je nach Wegunterlage geht das besser oder schlechter.
Das andere Gehen ist einfach um des Gehens willen, so wie die meistens das tun. Von A nach B gelangen, zum Einkaufen oder zur Post gehen oder aus Freude am Gehen - für die meisten normal, doch nicht für mich. Denn selbst nach drei Caminos und dem Walkabout, nicht an meinem Gangbild oder an der Gang-Koordination zu arbeiten, ist nur schwer möglich, denn die Defizite sind immer präsent.
Dieses "Nichts wollen" und trotzdem etwas tun, kann ein schmaler Grat sein, auf dem ich nur zu leicht ins "Verbessern wollen" kippe. Das "Leben lernen" ist in dieser Corona-Krisenzeit noch schwerer geworden und in vielen Bereichen sogar unmöglich.
Die Fußsohle besitzt 250.000 Nervenenden. Nerven, die bei mir nicht mehr richtig funktionieren. Darin sind Bewegungssensoren enthalten, die einem die Stellung des Gelenkes anzeigen und andere, die einem Kälte und Hitze spüren lassen. Sie ermöglichen uns, im Wald über Wurzeln, steil bergauf oder bergab zu gehen und auch schräg, ohne viel darüber nachzudenken.
Die Sicht ist ein weiterer Faktor, der großen Einfluss hat. Bei Finsternis hat man oft zögerliche und ängstliche Bewegungen, beim Vorsichtigen hinunter tasten mit den Füßen, von Stufe zu Stufe. Dieses Gehen ist am ehesten mit meinem vergleichbar. Da merkt jeder die fehlende Propriozeption. Mir fehlt sie noch immer, aber 30.000 km zu Fuß, haben mir mittlerweile viel Übung gebracht.
Bei mir ist das auch am hellen Tage und nur durch die bisher vielen tausenden zu Fuß zurückgelegten Kilometer, erarbeite ich mir das Gehen ansatzweise zurück. Ansatzweise deshalb, weil mir eben noch immer die Automatik fehlt, die in Kombination mit der Halbseitenlähmung das Gehen nach wie vor schwer macht.
Ich habe vielleicht keine Verbesserung im Sinne, dass es besser oder repariert wird, aber ich kann immer besser damit umgehen und habe Dinge erreicht, die nicht als selbstverständlich anzusehen sind. Dranbleiben ist wichtig, denn die Wahrnehmung geht sonst schnell wieder verloren.
Ich werde nie den Tag vergessen, als ich bei einer Kontrolle im LKH Graz, fast ein Jahr nach dem Krankenhaus von einem Arzt gesagt bekam, ich solle mich nicht so anstrengen, im Gegenteil, ich solle es endlich akzeptieren, dass meine Defizite und Zustand so bleiben wird und es wird sich nichts mehr verbessern.
Damals konnte ich mit vielen Pausen ein paar hundert Meter gehen, danach war ich erschöpft für den Rest des Tages. Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte:
"Wenn SIE das glauben, wird es für SIE schon stimmen. ICH glaube an etwas anderes und werde weiter üben und trainieren."
Ein Jahr später ging ich Pilgern und erreichte nach insgesamt zwei Monaten Santiago de Compostela, nach 800 Kilometern Fußweg. Ich stolperte zwar mehr, als ich ging, aber ich legte den Grundstein dazu, meine Halbseitenlähmung und die Propriozeption zu verbessern.
Es war ein Auftakt zu mehreren Pilgerfahrten, die für mich Therapie im Alltag war. Ein "Reha-Alltag", der mich wieder näher ans Leben brachte und der mir bisher mehr als jeder mehrwöchige Reha-Aufenthalt zu Hause war.
Als ich Monate später die quartalsmäßige Abrechnung der Sozialversicherung bekam, haute es mich fast von den Socken. Mit dem gleichen Geld welche die sechswöchige Reha gekostet hat, hätte ich ein Jahr lang Pilgern gehen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Reha nichts gebracht hat, aber im Vergleich dazu, eineinhalb Monate Pilgern, hat mir in Summe mehr gebracht und ich wäre gerne länger unterwegs gewesen, aber dafür reichte meine Mindestpension nicht. Leider ist Pilgern für mich seit Corona nicht mehr möglich. Damit habe ich meine wichtigste Therapie verloren.
Mein größter Antrieb ist die Freude, überhaupt wieder gehen zu können, egal wie. Es geht mal besser, mal schlechter. Trotzdem genieße ich noch heute jeden Meter, den ich zurücklegen kann. Gerade jetzt im Lockdown ist der Wald noch mehr denn je mein Freund. Das Gewöhnen an die Stadt habe ich seit letztem Jahr aufgegeben.
Beim Pilgern und Weitwandern trainiere ich effizientes Gehen mit minimalem Aufwand. Ich kann es nicht oft genug sagen, wie froh ich bin, mich wieder selbständig fortbewegen zu können.
Dabei geben mir die kleinen Dinge am Weg Freude und ich beachte Sachen, die mir früher nicht aufgefallen sind. Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass ich immer auf den Boden schauen muss, um zu sehen, wo ich hin steige. Dabei fallen mir immer wieder neue Dinge ins Auge, ein besonderer Stein, ein Käfer oder eine sonstige Besonderheit, die mich umgibt.
"Weise ist nicht jemand, der viel weiß, sondern der zu leben versteht, der es versteht, mit sich selbst und mit den anderen umzugehen und die vielfältigen Herausforderungen des Lebens im beruflichen wie im privaten Bereich meistert, auch und gerade dann, wenn es schwierig und leidvoll wird!"
Unbekannt
So lautet eine Erklärung, was Philosophie ist. Ich bin kein Philosoph, allerdings entspricht mir diese Art, mein Leben zu sehen. Weisheit verdankt man nicht Büchern, sondern der aufmerksamen Beobachtung natürlicher Gesetzmäßigkeiten und des menschlichen Miteinanders. Das beobachte ich jetzt seit mehreren Jahren. Auch das Chinesische iGing handelt von den Naturgesetzen und ist mir oft eine Hilfe, besser zu verstehen.
Ein gutes Leben bedeutet für mich, "naturgemäß" leben zu können. Da komme ich wieder zu meinem Hirnabszess. Es war mir davor nicht mehr möglich, "naturgemäß" zu leben, ich war im Hamsterrad des Lebens gefangen. Der Hirnabszess gab mir die Möglichkeit, auf eine neue Art zu leben.
Mit dem Beginn des Lockdowns habe ich mich wieder entschieden, dem "Gedanken der Therapie" zu folgen. Es gibt mir Struktur und Routine. Leben lernen geht im Moment eh wieder nicht, darum konzentriere ich mich erneut darauf, gesundheitlich weiterzukommen. Das bedeutet, Gehen und Wandern ist die erste Wahl, dazu Kräftigungs-, Gleichgewichts- und Wahrnehmungsübungen.
Bei jeder Wanderung erfreue ich mich an der Natur und dem Rhythmus den sie vorgibt. Im Wald und der Natur fühle ich mich gut aufgehoben. Die Stadt und viele Menschen stressen mein Gehirn, stattdessen bin ich viel beim Wandern oder halte mich in der freien Natur auf.
Gerade zu Corona-Zeiten bringen mir die verschieden Arten zu gehen Struktur und Routine ins Leben. Das Gehen ist außerdem eine Lebensschule, bringt mich seelisch und geistig weiter und hilft mir Gesundheit in allen Belangen zu finden!