Gehen lernen - über 30.000 km oder 45 Millionen Schritte in 6 Jahren!

13. Mai 2022
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5 Minuten Lesezeit

Gehen lernen - über 30.000 Kilometer oder 45.000.000 Schritte in 6 Jahren!

Nach dem Hirnabszess 2016 war nur eines in meinem Kopf, ich wollte wieder gehen lernen. Zunächst wollte ich nur eigenständig wieder aufs WC im Krankenhaus kommen und so fing ich Schritt für Schritt an. Der erste Schritt war, mich wieder aufsetzen zu können, das Gehen kam erst viel später.

In den letzten sechs Jahren bin ich dann über 30.000 Kilometer oder 45.000.000 Millionen Schritten gegangen und versuchte die verlorene Propriozeption zurückzugewinnen. Einen Tag vor dem Hirnabszess ging ich damals am Meer noch Laufen, daher wurde es mein Ziel, wieder Laufen zu können.

Ich gehe jetzt in das siebente Jahr nach dem Hirnabszess, laufen kann ich noch immer nicht.

Gehen lernen am Jakobsweg
rpt

Trailrunning

Im Jahr 2013 begann ich mit dem Trailrunning. Für meinen Freund Matthias filmte ich beim Eiger Ultra Trail und das faszinierte mich so, dass ich entschied, Trailrunner zu werden. Ein Jahr später stand ich selbst am Start, allerdings war nach 63 km Schluss, von 101 km.

Ich gründete die Website von0auf101, die meinen Weg vom absoluten Laufanfänger, bis zum Trailrunner begleiten sollte. Detailliert wollte ich berichten, wie ich vom Radfahrer zum Läufer wurde.

Eiger Ultra Trail
Beim Eiger Ultra Trail 2014

Meine Basis waren 20 Jahre (Leistungs-)Sport, zuerst als Straßenradrennfahrer und dann als MTB-Extremradfahrer. Das für mich schönste Rennen war das Iditasport Race in Alaska, wo ich 1995 überraschend zweiter wurde und die 100 Meilen (ca. 161 km) Distanz 1997 gewinnen konnte. Schon 1995 musste ich das Rad 40 Kilometer schieben und dementsprechend Laufen und Gehen trainieren.

Iditasport Race in Alaska
Iditasport Race in Alaska

Viele Wettbewerbe lief ich als Trailrunner nicht, mir gefiel mehr das alleine unterwegs sein, oft über mehrere Tage und mit minimalistischer Ausrüstung. Übernachtet wurde in Berghütten und Biwakschachteln.

Der Hirnabszess und Gehen lernen

Es kam der März 2016. Mit der Familie war ich ein paar Tage in Kroatien und nutze die Zeit für Läufe am Strand. Irgendwie ging es schwer und ich schob es auf das ungewohnt milde Klima, nach dem Winter zu Hause. Einen Tag vor der Heimreise musste ich mich hinlegen und bin von dort weg für lange Zeit nicht mehr aufgestanden. Am 27.März wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert.

Hirnabszess am Thalamus
Abszess am Thalamus

Noch auf der Intensivstation dachte ich an Trailrunning und dass ich es wieder machen wollte. Die Bilder vom Eiger oder dem Hochschwab waren so stark in mir, dass ich nur daran dachte, wieder dorthin zu kommen. Dafür wollte ich alles unternehmen.

Trotz neurologischer Ausfälle und einer Halbseitenlähmung begann ich die vier elastischen Binden selbst aufzurollen, vornehmlich mit der rechten gelähmten Hand. Dass mir die Zähne geputzt werden, verweigerte ich, ich wollte es selber machen, obwohl ich die Zahnbürste kaum selbst halten konnte und kaum spürte, wo ich putze.

5 Monate im Krankenhaus
5 Monate im Krankenhaus

Später auf der Reha-Station war es nicht viel besser. Trotzdem versuchte ich so viel wie möglich selbst zu machen. Eine riesige Hilfe war mir meine Ergo-Therapeutin Kerstin, die mich mobilisierte und mir unglaublich viel beibrachte.

Ich sah alles wie im Sport, es wurde für mich diesmal der längste Wettbewerb, den ich jemals zu bestehen habe und alle bisher erlebte Anstrengung verkam im Gegensatz dazu, wenn man wieder "zurück ins Leben" möchte.

Etwa eineinhalb Jahre nach dem Hirnabszess sagte ein Arzt zu mir: "Herr Krasser, ich sehe und weiß, was sie tun. Schalten sie zurück, akzeptieren sie, wie es ist, es wird kaum mehr besser werden!"

Meine Antwort war nur: "Wenn sie das glauben, ok. Ich glaube es nicht und werde weitermachen."

Damals konnte ich mit vielen Pausen gerade mal ein paar hundert Meter gehen, danach war ich fertig für den Tag. Am meisten behinderte mich der Schwindel und die Körperschwäche, die ich nur durch tägliches Tun verbessern konnte. Die Fortschritte waren so langsam, dass ich es selbst nicht bemerkte.

Mein Gedächtnis und das Denken war außerdem so stark beeinträchtigt, dass ich damit immense Schwierigkeiten hatte, alles zu verfolgen.

Dranbleiben, war und ist das Erfolgsrezept noch heute

Auf die Muskelschwäche und die verlorene Propriozeption kam ich erst im Laufe der Zeit selbst darauf. Nach den Reha-Aufenthalten verzichtete ich auf die Ärzte und versuchte in Eigenregie meine Rehabilitation fortzusetzen.

Ob Fitnessstudio, therapeutisches Tanzen, Radfahren und Gehen, alles unternehme ich in Selbstorganisation. Das Gehen bekam einen immer höheren Stellenwert.

Gehen als Therapie

Das Gehen diente mir auch fürs Gehirn. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie hatte ich auch hier Verbesserung. Nach der Trennung von meiner Lebensgefährtin und den Kindern, startete ich 2018 meinen ersten Camino in Spanien. Der Jakobsweg wurde zu einer der besten Therapien, um wieder Gehen und Leben zu lernen.

Nur unterbrochen von meinem letzten Reha-Aufenthalt, legte ich die 950 Kilometer nach Santiago de Compostela und Finesterre in insgesamt zwei Monaten zurück. Bis heute absolvierte ich den Camino del Norte, noch zweimal den Camino France und weitere Jakobswege in Österreich. Dazu der Walkabout rund um Österreich, wo ich mehr als 2000 Kilometer zurücklegte.

Am Walkabout gehen lernen
Walkabout durch Österreich

Die Millionen Schritte braucht mein Gehirn, um die Propriozeption zu erlernen. Vorfälle wie der Nierenstein, kosten mich Wochen bis Monate, um das bereits Gelernte wieder zu erlernen. Darum vermeide ich alles, was mir nicht guttut, denn es hat zu großen Einfluss auf mein körperliches Befinden.

"Step by Step", ist mir von Anfang an treu geblieben. Schritte überspringen war und ist nie möglich, es geht nur einer nach dem anderen.

Wie kann ich gehen lernen?

Von Außen ist mir kaum was anzumerken. Vielleicht, wenn jemand weiß, was ich habe, dann fällt die eigene Bewegung auf. Mit meiner Konzentration muss ich nach wie vor beim Gehen lernen bleiben, das ist auf Dauer sehr anstrengend und nicht sichtbar. Gleichzeitig Gehen und Sprechen kostet mich viel Energie, bzw. geht auch nur auf halbwegs gutem Weg. Mein früheres Multitasking als Videojournalist ist einem Single-Tasking gewichen.

Hier spreche ich nur vom Gehen lernen, aber es geht mir in allem so. Ob beim Kochen, Essen oder Schreiben, das Single-Tasking ist allgegenwärtig. Essen und Trinken ist zum Beispiel für jeden etwas Selbstverständliches, bei mir nicht. Beim Essen bin ich gerne alleine, da ich sehr konzentriert bleiben muss. Durch die Halbseitenlähmung gerät zu schnell etwas in die Luftröhre und ich verschlucke mich. Das Trinken wiederum geschieht sehr vorsichtig und langsam und ja nicht unter Stress. Es ist nicht gut, wenn Essen oder Flüssigkeiten in die Luftröhre gelangen.

Beim Gehen kann ich schon ganz gut ohne Nachdenken auf ebener Straße dahingehen. Ich erinnere mich an Zeiten zurück, wie am Jakobsweg 2018, wo ich praktisch noch jeden Muskel andenken musste, um Gehen zu können. Treppen steigen oder steil bergauf, kostet mir noch viel Energie, vor allem Gehirn mäßig. Da spielt die Muskelschwäche eine große Rolle darin. Ich mag mir gar nicht ausdenken, was wäre, wenn ich nicht so viel gegangen wäre. Dann hätte der Arzt wahrscheinlich sogar recht gehabt mit seiner Aussage, dass es nicht mehr besser wird. Denn wer würde das alles auf sich nehmen?

Am Jakobsweg in Spanien gehen lernen
Camino France 2018

Mein großer Vorteil war sicher, dass ich vom Sport kommen und Training für mich der normale Alltag war. Im Grunde lebe ich jetzt den Traum eines jeden Sportlers, nämlich als Profi 24 h nur darauf zu schauen, dass ich besser werde. Allerdings geht es nicht um Platzierungen und Ergebnisse, sondern um nichts anderes als das Leben. Mein Wettkampf ist es, wieder Leben zu können und dafür alles zu geben.

Gleich wie ein Radprofi, muss ich auf alles schauen, damit es mir gut geht. Von der Ernährung, über die Erholung bis zum Training.

Und da bin ich wieder beim DRANBLEIBEN!

Stetig und immerfort ist es notwendig. Im Moment noch kein Problem, obwohl Corona Rückschritte brachte. Aber auch wenn es einmal zurückgeht, Niederlagen machten mich im Radsport nur stärker und das gilt auch für jetzt.

NEVER GIVE UP!


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One comment on “Gehen lernen - über 30.000 km oder 45 Millionen Schritte in 6 Jahren!”

Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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