Ich definiere mich deswegen als behindert, weil ich es schlichtweg bin. Wenn ich sage „Ich bin behindert“, dann ist das kein Selbstmitleid und kein Eingeständnis von Schwäche, sondern es ist derzeit so.
Es ist nun an der Zeit, dass ich einmal über mein Handicap schreibe. Denn ja, ich habe eines (oder mehrere). Und Handicap meint, dass ich Behinderungen habe, die mir das Leben erschweren, besonders wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Ich muss damit rechnen, dass sich einiges eventuell nicht mehr viel verbessert.
Also, was versteht man unter Handicap?
Seit März 2016 kämpfe ich um meine Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr wie zuvor. Ich musste von 0 anfangen.
Ich hatte 2014 ein Projekt vor, dass sich mit dem Beginn von 0 an beschäftigte. Damals wurde von mir die Idee des "von 0 auf 101" geboren. Es sollte meinen Weg zum Trailrunner zeigen. Mein Leben war bestimmt vom Radfahren und ich hatte mit Laufen nichts am Hut. 2013 dann der Wendepunkt. Ich filmte beim Eiger Ultra Trail für eine Werbeagentur. Die lockere Atmosphäre gefiel mir und ich entschied mich, ein Jahr später am Start zu stehen.
Mein Trailrunning-Fieber war ausgebrochen. Ich lief zwar kaum Wettkämpfe, war aber viel in den Bergen unterwegs. Für 2016 hatte ich die Teilnahme am Großglockner Ultra-Trail (GGUT) geplant. Doch es kam anders.
Ab März 2016 stand mir ein 5-monatiger Krankenhausaufenthalt bevor. Erst Ende August kam ich mit den Nachwehen eines Hirnabszess aus dem Krankenhaus.
Die folgenden Monate musste ich mein Leben komplett von vorne beginnen. Wie ein Kind lernte ich wieder Gehen, Greifen und sogar Denken. Ich war noch viel mit dem Rollstuhl unterwegs, da ich nur wenige Meter zu Fuß zurücklegen konnte. In der letzten Woche machte man mich darauf aufmerksam, dass ich einen Behinderten Ausweis beantragen soll.
Es war schwierig für mich, den Antrag zu stellen, stand dann doch schwarz auf weiß fest, dass ich behindert bin. Damit wollte ich mich nicht abfinden. Es sollte noch drei Monate dauern, bis ich soweit war. Denn ich brauchte lange, um zu realisieren, dass ich mit meiner Rehabilitation noch länger brauche werde.
Meine Blogbeiträge behandeln in erster Linie, was ich im Krankenhaus erlebte oder was ich daraus lernen konnte. Was meine Defizite für Auswirkungen auf mich im Alltag und in der Öffentlichkeit haben, dieses Thema behandelte ich kaum. Die Öffentlichkeit eigentlich nie, denn dort halte ich mich ja kaum auf.
Und dann war er da. Mit dem Erhalt des Behindertenausweises wurde mir schwarz auf weiß bestätigt, dass ich behindert bin. Ein komisches Gefühl. Am Ausweis steht, dass mir das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zumutbar ist. Dafür darf ich gratis in Kurzparkzonen parken. Allerdings, seit März 2016 bin ich nicht mehr Auto gefahren.
Es ist zurzeit so, dass ich reaktionsfähig noch nicht in der Lage dafür bin. Es ist schwer für mich, darauf angewiesen zu sein, dass ich einen Chauffeur brauche, um wohin zu gelangen. Das war sicher die größte Herausforderung für mich, nicht mehr selbständig unterwegs zu sein, wann und wohin ich will.
Man sieht mir eigentlich kaum etwas an. Hätte ich ein Gipsbein, würde mir in der Straßenbahn jeder Platz machen oder auf der Straße ausweichen. Bei mir ist es anders. Rein äußerlich kann man kaum was erkennen. Trotzdem sind die Defizite da. Sie sind kaum sichtbar.
Die ARD Moderatorin Monica Lierhaus, von einer Hirnblutung betroffen, sagte einmal:
"Es gibt nicht nur den äußeren Teil einer Behinderung, den jeder außenstehende sofort erkennt. Von den unsichtbaren Behinderungen bekommen die wenigsten etwas mit."
Wie recht sie hat. So geht es auch mir. Man sieht es mir nicht an, dass ich Handicaps habe. Den sie sitzen im Gehirn, schränken mich zwar ein, sind aber kaum zu sehen. Schon im Sport war ich ein eher nicht so kräftiger Typ. Daher versuchte ich mit einer perfekten Technik, die fehlende Kraft auszugleichen.
Beim Gehen lernen versuchte ich möglichst schnell, die perfekte Technik zu lernen. Die Kraft fehlt mir heute noch, aber die gute Technik bewahrt mich vorm Stürzen. Deswegen sieht man mir beim Gehen auch fast nicht an.
Zum Glück bin ich ein positiver Mensch und kann in jeder Widrigkeit etwas Gutes finden. Ich genieße es, dass alles langsamer geht. Natürlich fehlt mir das Laufen, aber die Langsamkeit konnte damit wieder in meinem Leben Einzug halten. Ich arbeite noch an meinem Ziel, laufen zu können. Aber es ist nicht mehr mein vorrangiges Ziel. Da alles so lange dauert, orientiere ich mich mehr an den Zwischenzielen. Das Laufen kommt damit automatisch.
Es ist ungewohnt, mich als Behinderten zu sehen und auch so zu behandeln. Besonders unter Menschen fällt es mir auf. In der Natur bin ich ich. Da ist es egal, ob ich ein Handicap habe oder nicht. Aber unter Menschen ist das nicht so. Da zählen Äußerlichkeiten sehr wohl und man fühlt sich beobachtet, wenn man sich nicht so verhält, wie es erwartet wird.
Es kann passieren, dass ich am Gehsteig nicht so schnell ausweichen kann oder langsam über die Straße gehe. Dazu ist meine Reaktion noch stark verlangsamt. Viele glauben dann, dass ich das absichtlich mache. Besonders Autofahrer fühlen sich schnell geärgert und reagieren sauer. Dabei gehe ich am Limit über die Strasse. Das mein Limit aber noch so langsam ist, können Sie ja nicht wissen. Mittlerweile habe ich mich gut unter Kontrolle und reagiere nicht darauf.
Vor einem halben Jahr war das anders. Mein Thalamus ist betroffen. Das hat zur Folge, dass ich meine Emotionen nicht leicht abstufen kann. Es gibt nur 0% oder 100% Emotion. Das war nicht leicht für mich. Deswegen bin ich auch kaum alleine auf die Straße gegangen. Drängte mich wer mit Hupen, schrie ich lautstark zurück. Heute geht es schon besser, weil mein Denken langsam zurück kommt. Dafür dauert alles länger, weil ich eine verzögerte Reaktionsfähigkeit habe.
Ich weiß, dass ich nur begrenzte Kraft-Ressourcen besitze, die einem Menschen ohne Behinderung nur schwer zu vermitteln sind.
Ich bin ein bisschen konfus derzeit. Ich musste ausbrechen. Neues wagen. An die Grenze gehen, schauen wie weit ich komme. Dieser Test ging nicht unbedingt in die Hose, aber mir wurden meine Defizite eindringlich sichtbar gemacht. Im Wald geht es oft schon ganz gut, besonders die Aufmerksamkeit. Das mit der Stadt werde ich auch noch hinbekommen, noch stresst es mich sehr.
Letzte Woche ging ich mit Silvia auf ein Konzert. Da es mir die letzten Tage im Wald sehr gut ging, dachte ich mir, dass möchte ich jetzt auch unter Menschen ausprobieren. Gesagt getan. Es war das Konzert "Laut gegen Armut", veranstaltet von der Volkshilfe.
Verbindung hatte ich nur zu einer Band, den Gnackwatschn. In meiner Zeit bei Puls4 habe ich sie Interviewt und als sehr angenehme Band kennen gelernt.
Ich wollte das Durchziehen und mir zumuten. Ich kann mich doch nicht ewig vor anderen Menschen verstecken. Bisher wollte ich zwar das ein oder andere Mal eine Veranstaltung besuchen, habe aber jedes Mal einen Rückzieher gemacht. Es ging mir nicht gut im Vorfeld. Im Wissen, dass ich eine Sitzgelegenheit brauche, hält mich immer wieder zurück. Muss ich zu lange stehen, wird mir schwindlig und die Kraft fehlt auch noch.
Was mich auch stört, dass ich in einer Unterhaltung plötzlich nicht mehr weiter weiß. Dann fange ich zum Überlegen an und weiß nicht einmal mehr, worum es im Gespräch überhaupt ging. Früher war es mir peinlich. Jetzt frage ich einfach nach, worüber wir gerade gesprochen haben. So komisch das auch klingt. Meine Freunde haben sich daran bereits gewöhnt. Wer mich nicht kennt, ist verwundert darüber und fragt sich, was soll das denn jetzt.
Kurze Ausflüge in die Stadt mache ich ja immer wieder, um mich an den Lärm und die Hektik der Stadt zu gewöhnen. Es ist aber noch immer Grenzwertig. Ich ziehe mich sofort in mich zurück und wirke dann abwesend.
Beim Konzert wollte ich mich erstmals den vielen Menschen aussetzen. Ich war neugierig, wie ich auf das und die laute Musik reagieren werde.
Nervös und aufgeregt fuhren wir hin. Das kannte ich nicht von mir. Ich habe schon bei vielen großen Konzerten gefilmt und mit weltweit bekannten Gruppen Interviews geführt. Nervosität hatte ich nie. Diesmal war es anders. Ich kam mit dem Bewusstsein, dass ich ein Handicap habe. Meine Wahrnehmungen sind komplett gestört und werden von außen beeinflusst.
Die guten Tage im Wald konnten mir nur bedingt helfen. Das war eine neue Situation. Dem wollte ich mich aber aussetzen. Ich muss immer wieder meine Grenzen neu ausloten und verschieben. Mit dem Konzert war es ein neuer Schritt, den ich bisher noch nie wagte.
Bereits beim Hingehen hatte ich einen unsicheren Gang. Vor der Halle waren bereits viele Leute und beim Einlass hatte ich bereits einen einsetzenden Tunnelblick. Fixiert auf Silvia, ging ich hinter ihr nach. An der Wand sah ich Sitzwürfel. Das war mein Ziel, auf das ich zusteuerte. Da ich nicht lange stehen kann, war eine Sitzgelegenheit vonnöten. Erst als ich mich hinsetzte, fühlte mich in Sicherheit. Gleich vor mir, war der Behindertenbereich. Mehrere Rollstuhlfahrer waren da.
Die Laute Musik war gar nicht so schlimm. Da hatte ich die meiste Angst davor und das ich womöglich noch während des Konzerts gehen musste. Auch der Rhythmus der Musik setzte bei mir ein. Lustigerweise mehr bei meiner rechten Hand, wo ich die Lähmungen hatte. Ich merkte eine Unbeholfenheit, denn ganz hatte ich die Hand nicht unter Kontrolle. Es war aber interessant, das ich so stark auf Musik reagierte. Ich werde in Zukunft mehr mit Musik arbeiten.
Das Denken war allerdings ein Problem. Ich muss noch zu viele Sachen einzeln Andenken. Deswegen war meine Hand zwar im Rhythmus unterwegs, aber es fiel mir erst auf, wenn ich daran dachte. Zu viel anderes wollte kontrolliert sein.
Als die Gnackwatschen vorbei waren, war genug. Wir brachen auf. Durch so viele Menschen zu gehen, war der pure Stress für mich. Nur reagieren, nicht agieren zu können. Es waren zu viele. Ausweichen zum Beispiel. Ich muss es erst einzeln andenken, dass ich das Bein, den Arm wegziehe, mich versuche seitlich durchzuschlängeln. Wobei, seitlich gehen, ist fast nicht möglich, da muss ich noch mehr trainieren.
Ich war meist zu spät dran. Ich laufe gegen Beine, ramme andere Menschen. Alles geht mir zu schnell. Das ist auch der Grund, warum ich noch nicht Laufen oder Trailrunning machen kann. Meine Reaktionszeit ist zu langsam. Laufen geht mir zu schnell. Ich kann nicht so schnell denken, wie ich für die Koordination dazu bräuchte.
Meine Denkkraft war aufs Äußerste angespannt und ich funktionierte nur mehr mechanisch. Das war das schlimmste für mich. Alleine hätte ich das nicht geschafft. Ich war trotzdem froh, alles so gut überstanden zu haben. Das Gehen über Asphalt zum Auto, war schleppend. Es hatte mich doch mehr mitgenommen, als gedacht.
Einmal mehr wurden mir meine Defizite wieder bewusst gemacht.
Ja, diesmal war ich als Behinderter unterwegs. Steht auch so in meinem Behinderten Ausweis drinnen. 60% Beeinträchtigung. Und es ist noch immer so.
Da komme ich nicht dran vorbei.
Aber ich werde weiter trainieren und üben, dass wieder mehr möglich sein wird.