Bevor es mit meinen Erlebnissen auf der Normalstation der Neurologie weiter geht, zu etwas Aktuellen.
Letztes Wochenende fuhr ich das erste Mal von zu Hause weg. Ich nahm am Karma Yoga des Buddhistischen Zentrum in der Südwest Steiermark teil. Dabei ging es um Achtsames arbeiten. Meine Leistungsfähig war zwar noch beeinträchtigt, aber zumindest Gras zupfen ging schon. Es war ein gutes Ergo Training, mit meinen gefühlsarmen Fingern das Gras zu greifen.
Auf dem Weg dort hin, durfte ich wieder die Vergänglichkeit des Lebens mitbekommen. Ich erhielt die Nachricht das Ueli Steck, ein begnadeter Bergsteiger, im Everest Gebiet tödlich abgestürzt war.
Ich hatte Ueli beim Eiger Ultra Trail 2013 kennengelernt, wo ich für ein Filmprojekt einen Film-Dreh hatte. Unter anderem führte ich ein Interview mit ihm und hatte Gelegenheit, mich privat mit ihm zu unterhalten.
Seine Art zu sprechen, seine Bilder, aber noch mehr sein Tun, war sehr inspirierend für mich. Die Jahre darauf verfolgte ich sein Tun mit großem Interesse.
Es macht mich traurig und betroffen das Ueli gestorben ist und das mit nur vierzig Jahren.
Sein Tod hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben und das zu machen, was man wirklich möchte, da man nie weiß, wann das Leben zu Ende ist.
Auch für mich war nach der Krankheit Zeit, Résumé über mein bisheriges Leben zu ziehen.
Habe ich wirklich gelebt oder wurde ich gelebt. Wie viel Zeit habe ich genutzt oder vergeudet? Was machte in meinem Leben Sinn, was machte keinen Sinn?
Ich konnte es mir nur schrittweise erarbeiten, denn weiterführendes Denken war lange nicht möglich. Auch heute ist es noch schwer, an Vergangenheit oder die Zukunft zu denken. Wenigstens kann ich mich schon ein wenig mit weiterführende Denken beschäftigen. Nur als Beispiel, für einen Artikel wie diesen, brauche ich mehrere Tage. Und das Niederschreiben hilft mir es weiter zu verfolgen.
Aber weiter mit dem Résumé meinen Leben. Vor der Krankheit war es auch schon Thema, aber mit dem Stress, dem heute fast jeder ausgesetzt ist, hatte ich keine Zeit, mich damit auseinander zu setzen.
Mein Schluss war - Ja, ich habe mein erstes Leben bisher gelebt. Ich habe so viel erlebt, gesehen und gemacht. Ich kann zufrieden sein. Allerdings - mein Freund Harry würde jetzt sagen: „Friede und zu (den Sarg)!“. Und da hat er in gewissem Sinn recht. Es wäre auf diese Art nicht mehr weiter gegangen. Ich war sprichwörtlich tot.
Aber ich habe die Chance auf ein zweites Leben bekommen. Mein Freund Alexander hat einen Link auf Facebook geteilt, wo eine 101-Jährige an der 100 m Staatsmeisterschaft teilnahm. Nach ihr hätte ich jetzt Halbzeit, habe also die nächsten 50 Jahre Zeit, ein neues Leben zu gestalten.
Ich sehe jetzt viele Dinge anders als früher und reagiere auch anders. Und, um wieder auf Ueli Steck zurückzukommen, ich möchte jeden Abend das Gefühl haben, etwas Sinnvolles getan zu haben. Ueli hat es mit Sicherheit für sich getan.
Ein Kaufmann wurde einmal gefragt: “Wie alt sind Sie?”
Er antwortete: “Dreihundertsechzig Jahre.”
Der andere konnte es nicht glauben. Er sagte: “Wie bitte? Können Sie das wiederholen? Vielleicht habe ich mich verhört.”
Der Kaufmann rief laut: “Dreihundertsechzig Jahre?” Der andere sagte: “Verzeihung, aber das kann ich nicht glauben. Sie sehen nicht älter als sechzig aus.”
Der Kaufmann antwortete: “Sie haben auch recht. Was den Kalender angeht, bin ich sechzig. Aber was mein Leben angeht, habe ich sechsmal so viel gelebt wie alle anderen. In sechzig Jahren habe ich es geschafft, Dreihundertundsechzig Jahre zu leben.”
Ich habe damals auch einen Film über den Eiger Ultra Trail gemacht. Wer Lust und Laune hat, kann ihn sich hier anschauen.
Endlich! Nach vier Wochen durfte ich die Intensivstation verlassen. Ich konnte es gar nicht glauben. Zuerst war ich noch vier Tage auf der Überwachungsstation und wurde dann in ein normales 4-Bettzimmer der Neurologie verlegt. Hier herrschte ein anderer Ton. Wecken war um 6h30, zwischen 7 und 8 Frühstück, dann haben die Therapien begonnen. Alles war viel lauter als in der Intensivstation.
Mein Zustand war noch immer sehr gebremst. Aufmerksamkeit, Konzentration, Gehen, Sprechen - es war alles mühsam. Ich war zwar draußen aus der Intensivstation, aber kräftemäßig am Boden. Besuch vertrug ich noch immer nicht. Eine sinnvolle Verständigung war mir nicht möglich.
Einzig auf Silvia und meine Tante freute ich mich. Abwechselnd kamen sie einmal wöchentlich. Silvia brachte mir emotionale Kraft. War ich zu müde zum Reden, reichte es mir, wenn Silvia meine Hand hielt. Mehr Verständigung brauchte ich nicht. Meine Tante brachte die andere Seite ein. Frische Wäsche und Unterhaltung, soweit dies ging. Zu mehr war ich noch nicht fähig.
Der Tagesablauf war immer derselbe. Um 6h30 kam der Morgendienst. Fieber, Blutdruck und Puls messen, Austeilen der Medikamente, beginn der Morgenwäsche. Ich wurde im Bett gewaschen oder konnte mich teilweise selbst waschen. Zwischen 7 und 1/2 8 Uhr wurde das Frühstück gebracht.
Mein Tagesplan im Einzelnen:
So sah mein Tagesablauf über Wochen aus. Seit Beginn auf der Intensivstation bekam ich Antibiotika. Ich weiß nicht mehr wie oft am Tag genau, aber es war jedes Mal eine Antibiotika-Bombe. Und das sicher fünf bis sechs Mal am Tag, über Infusionen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich vorher Antibiotika zu mir genommen. Dementsprechend war die Wirkung. Nach Umstellungen ging es mir immer besonders schlecht. Ich erbrach und hatte ein flaues Gefühl. Es dauerte immer drei bis vier Tage, bis ich mich einigermaßen daran gewöhnt hatte.
Nebenbei musste ich wieder gehen lernen. Die Basis dazu hatte ich noch in der Intensivstation gelegt. Der Anfang war nur aufstehen und stehen. Später auf der Reha Station der Neurologie begann ich mich am Bett entlang hanteln. Erst nach zwei, drei Wochen erreichte ich meinen Kasten. Der Schwindel behinderte mich lange. Deswegen durfte ich nur mit Begleitung gehen. Selbst die kleinsten Erledigungen innerhalb des Zimmers, geschahen unter Aufsicht.
Nach Wochen konnte ich zum ersten mal aus dem Zimmer gehen. Fünfzehn Meter auf den Gang und zurück. Bis dahin hat sich mein Leben im Zimmers abgespielt. Einzig aufs Bad/WC konnte ich im Rollstuhl gefahren werden. Erst nach viereinhalb Monaten durfte ich ohne Begleitung gehen.
Die Neurologie hat ihre eigenen Gesetze. Das musste ich schmerzlich anerkennen.
In den ersten Tagen bekam ich von meiner Logopädin einen Zettel zum Ausfüllen. Da erfuhr ich, dass ich unter Wortfindungsstörungen litt. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich funktionierte meines Erachtens doch normal.
Und was sollte dieser Fragebogen, das konnte ja jeder leicht ausfüllen. Na ja, schreiben ging schwer bis gar nicht. Aber ich probierte es doch. Und dann kam die Überraschung. Nur nach langem Überlegen fand ich die gesuchten Wörter und konnte sie mit noch größerer Mühe schreiben.
Eine andere Aufgabe war das Finden von Wörtern, zum Beispiel das Aufzählen von verschiedenen Gemüsesorten in einer Minute. Ich startete schnell mit Paprika und dann..... nichts!
Ich überlegte und überlegte. Mir fiel nichts ein. Absolut nichts. Ich war schockiert. Wortfindungsstörungen, ich kannte das gar nicht. Mir ist beim ersten Mal tatsächlich nur ein Stück Gemüse eingefallen. Später steigerte ich auf drei, noch später auf fünf und mehr.
Das Gehen steigerte ich in den folgenden Wochen auf vierzig bis fünfzig Meter. Der Rollstuhl war trotzdem mein ständiger Begleiter. Die Gefahr des Schwindels, bis hin zum Ohnmächtig werden, war immer gegenwärtig.
Und das ging recht schnell. Deswegen brauchte ich auch Begleitung an meiner Seite. Innerhalb weniger Sekunden wurde ich ohnmächtig. Trat der Fall ein, wurde ich aufgefangen, am Boden hingelegt und mit dem Rollstuhl zurück ins Zimmer gefahren. Das war dann jedes Mal ein Trara. Deshalb schaute ich darauf, mich früh genug hinzusetzen und Schwindel gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die erste Zeit war ein Kampf um Millimeter. Beim Greifen, beim Gehen und Stück weises erinnern und merken. Die Neurologie war eine neue Erfahrung.