5. Nach der OP und kräftig Zähne lassen

19. Mai 2017
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7 Minuten Lesezeit

Nach der OP und kräftig Zähne lassen

Die OP habe ich überstanden. Was kann jetzt noch kommen?

Zunächst einmal von den Strapazen der Operation erholen. Ich checke mich Körperlich wie geistig ab. Alles was mir bisher selbstverständlich schien -gehen, denken, essen - ist nicht mehr möglich!

Drei wesentliche Punkte

  1. DENKEN  -  Ich bin müde. Kann kaum denken. Weiterführende Gedankengänge sind nicht möglich. Kann nur festhalten, was im HIER und JETZT ist. Ich habe kurz vor der Verlegung ein Tagebuch bekommen. Es stehtIch, nach der OP noch nichts drin. Ich schaffe es nicht, einen einzigen Satz zu konstruieren und nieder zu schreiben. So sehr ich mich auch anstrenge, ich habe nur eine weiße Wand vor mir.Es ist mir nicht möglich, an die Zukunft oder Vergangenheit zu denken. Das schreckt mich, zugleich aber auch die Erkenntnis, dass es mich vor etwas schützen soll.  Ich darf nur SEIN. In vielen Büchern steht, man soll im HIER und JETZT leben.Das klingt ja gut und im Sport früher, besonders im Extremsport, praktizierte ich es auch. Später, aus diversen Gründen, konnte ich es nicht mehr. Die Sorgen und Probleme nahmen überhand. Der Verstand hatte es begriffen, aber der Geist wollte nicht mit. Es war schwer umzusetzen.Was es wirklich heißt, im HIER und JETZT zu leben, dass zeigt mir jetzt die Krankheit wieder auf. Soviel zum Denken. Es ist sehr mächtig. Das im Sport gelernte, aktiviere ich jetzt und kann es auch umsetzen. Die Krankheit ist ein wichtiger Teil im Puzzle.
  2. GEHEN -  Gehen ist noch weit weg. Ich bin froh, wenn ich vor die Tür komme. Das vom Zimmer zehn Meter entfernte WC erreiche ich nur per Rollstuhl. Trotz der Operation werde ich beim Gehen noch immer schnell schwindlig. Außerdem fehlt mir die Kraft. Bei solchen Zahnstochern als Beine kein Wunder. Da fehlt Training. Das geht aber nur, wenn ich nicht mehr so schwindlig bin. Zum ersten mal wird mir bewusst, was es heißt,  bei NULL zu beginnen. Ich hadere nicht, sondern sehe die Krankheit als Chance für mich.
  3. GREIFEN - Wie das Gehen, fange ich auch da bei Null an. Ich kann mit der rechten Hand nichts halten. Die ganze rechte Seite ist betroffen, auch das Bein. Es ist immer der gegenüberliegende Teil der Gehirnhälften betroffen, links hatte ich die Operation, also rechts die Lähmungen. Am Bein spüre ich sie noch nicht, da mir sowieso die Kraft zum Gehen fehlt. Aber die Hände, sie brauche ich Handzum Essen, Schreiben und Waschen. Es ist ein Gefühl, als hätte ich dicke Fäustlinge an. Es geht fast gar nichts. Ich esse mit der linken Hand, dabei kommt nur der Löffel oder die Gabel in Frage. Bekomme ich Fleisch zum Essen, weigere ich mich, es mir klein schneiden zu lassen. Ich werke so lange daran herum, bis es in kleinere Stücke ist oder spieße es mit der Gabel auf und beiße einfach ab. Egal wie. Das hat wieder mit dem Willen nach Eigenständigkeit zu tun. Und die Krankenschwestern akzeptieren es und unterstützen mich darin. Sie wollen ja selbständige Patienten bekommen. Ein großes Danke dafür.

Das Pflegepersonal

Überhaupt gehören die Krankenschwestern, Pfleger, Therapeuten und Personal einmal besonders erwähnt. Sie leisten unglaubliche Arbeit, sind stets freundlich, auch wenn die Arbeit oft stressig ist. Darum kann ich nicht nachvollziehen, dass man als Patient unfreundlich ist. Man ist ja angewiesen auf sie.

Für mich ist es nicht selbstverständlich, dass mir so viele Handgriffe abgenommen werden. Auf jeden Fall bin ich jedem einzelnen unendlich dankbar für ihre/seine Arbeit. Ein großes Lob den Krankenschwestern, Pflegern, Therapeuten und Putzfrauen. Ich habe ein neues Bild von ihrer Arbeit und ihrem Tun bekommen. Es begleiteten mich in dieser Zeit viele. Ich habe mir kaum einen Namen gemerkt, aber die Gesichter vergesse ich nicht.

Verwirrender Arzt

Arzt

Es geht aber auch anders. Einige Tage nach meiner OP, kurz vorm Wochenende, kommt ein mir bis dahin unbekannter Arzt zur Visite. Wir sind alleine im Zimmer. Er sieht sich die Befunde an und meint, alles gut gelaufen, ich könne am Wochenende nach Hause gehen.
Ungläubiges staunen bei mir. Ich und nach Hause? Ich äußere Bedenken, aber er meint nur, "Was wollen sie noch hier? Erholen können sie sich auch zu Hause, dafür brauchen sie kein Spital!". Ich kann noch nicht so weit denken und bin total verwirrt. Auf jeden Fall weiß ich, in meinem Zustand nach Hause, dass geht auf keinen Fall.

Ich kann nicht einmal aufstehen, geschweige denn, komme ich alleine aufs Klo. Wer soll mir helfen? Die Situation wirkt so komisch und unreal, dass ich lachen muss. Der Arzt geht wieder und ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Ich möchte zwar heim, aber gleichzeitig weiß ich, dass geht noch nicht. Wie soll ich mit den Defiziten zu Hause klar kommen. Das kann er nicht ernst gemeint haben. Was soll das?

Am Nachmittag schaut meine Tante vorbei. Sie war vor ihrer Pensionierung im Medizinischen Bereich tätig und klärt vieles für mich ab und behaltet die Übersicht. Ich schildere ihr den Vorfall und trotz der Tragik, müssen wir lachen, das die Tränen fließen. Ich kann nicht alleine aufstehen und soll nach Hause gehen. Es ist zu komisch. Sie wird versuchen alles abzuklären.

Die Ärzte

Der Vorfall oben war nicht typisch. Es sind einige Ärzte mit meinem Fall betraut, ein Hirnabszess ist ja doch recht ungewöhnlich. Besonders erwähnen möchte ich den Chef der Universitätsklinik für Neurologie, Univ.Prof.Dr. Franz Fazekas. Immer wieder schaut er vorbei und seine Worte beruhigen mich.

Besonders in Erinnerung bleibt mir Dr.med.univ. Mohamed Dergham. Seine ruhige und bedächtige Art tut mir gut. Er war immer für mich und meine Angehörigen da und hat großen Anteil daran, dass ich soweit alles gut überstand. Ich bedanke mich hier bei allen beteiligten Ärzten für Ihre Arbeit, Unterstützung und Hilfe in allen Bereichen.

Zum ersten mal Stufen steigen

Stiegen

In den folgenden Tagen erhole mich langsam. Am dritten Tag nach der OP wird mir eine Physiotherapeutin zugewiesen. Sie hat eine etwas ruppige Art, aber ich komme ganz gut klar damit. Unter ihrem Training steige ich zum ersten Mal Stufen hinauf. Allerdings, ich muss  sie auch wieder hinunter. Und das hat Folgen für mich. Ich habe derart verkürzte Muskeln und außerdem keine Kraft, das Bergab gehen fast unmöglich ist. Ich muss aber wieder hinunter.

Erst, wenn ich auf der unteren Stufe den Fuß ganz aufsetze, kann ich auch den oberen entlasten und nachziehen. Ich würde sonst umfallen. Eine riesige Belastung für die Bänder und Muskeln. Der Schwindel ist sowieso immer gegenwärtig. Ich habe mir dabei nicht nur einen Muskelkater geholt, sondern auch die linke Wade gezerrt. Stufen steigen ist in den nächsten Tagen somit gestrichen und auch im Flachen gehen wird schwierig.

Rückkehr auf die Reha-Station der Neurologie nach der OP

Neurologie Graz

Die Unwissenheit belastet mich. Niemand weiß genau was los ist, immer wieder höre ich anderes. Muss ich nach Hause, komme ich zurück auf die Neurologie, komme ich auf Reha nach Judendorf. Keiner weiß etwas, will oder kann es mir sagen. Ich bin so verwirrt und kann nicht denken. Wieder einmal.

Ich bin abhängig davon, dass für mich gedacht und entschieden wird. So sehr ich mich auch mit dem Denken anstrenge, ich komme zu keinem Schluss. Ich weiß nicht, wie ich weiter denken kann. Ich habe auch nicht die Kraft dazu, besonders jetzt nach der OP.

Wer so etwas nicht selbst erlebt hat, kann es nur schwer nachfühlen. Mein Umfeld versteht es kaum, dass es mir nicht möglich ist, einen Gedanken zu Ende zu bringen, dass er plötzlich weg ist.

Am Montag, den 2.Juni, dann die Erlösung. Ich darf zurück auf die Neurologie in mein altes Bett. Endlich ist alles geklärt. Meine Tante konnte alles regeln. Es war ein Missverständnis zwischen Neurochirurgie und der Neurologie.

Über Mittag werde ich in mein altes Zimmer überstellt. Meine Zimmerkollegen haben inzwischen gewechselt. Alle Betten haben neue Besitzer. Ich bin körperlich so schwach, dass ich kaum jemand wahrnehme, geschweige denn mit jemand reden kann. Wieder einmal möchte ich nur schlafen.

Schwierige erste Zeit

Auch die folgenden Tage unterhalte ich mich kaum mit jemanden. Therapien sind nur kurz zwischen den vielen Antibiotika möglich. Ich bekomme ungefähr 15 Infusionen täglich. Verschiedene Antibiotika und das fünf mal am Tag. Deswegen auch die große Müdigkeit. Ich fühle mich wie von einem anderen Stern. Die OP war anstrengender als gedacht.

Es ist noch ein Rest des Abszesses im Gehirn. Es war bei der OP bereits Gel artig und sie haben nicht alles herausbekommen. Die Ärzte möchten noch eine Bebrütung der Flüssigkeit abwarten und dann eine Umstellung wagen.

Am 7. Juni 2016 gehe ich zum ersten Mal eine längere Strecke. Unter den Augen der Physiotherapeutin schlage ich mich wacker. Es sind an die vierzig Meter, die ich in einem Stück schaffe. Zurück brauche ich allerdings mehrere Sitz pausen.

Training im Krankenhaus

Ich trainiere hart in den nächsten Tagen. Aber was ist hart? Mehr als eine halbe Stunde bin ich nicht belastbar. Trotzdem ist es hart. Ich möchte es fast mit Intervall Training im Sport früher vergleichen. Mein Puls ist sofort oben, bei der geringsten Bewegung. Die vielen Infusionen tragen ihr übriges dazu bei. Die Logopädie kann ich auch während der Infusionen machen.

Beim Ergo Training ist nach 15 Minuten Schluss. Selbst der Weg zum Ergo Raum zählt zum Training. Obwohl es nur Zwanzig Meter sind. Nach einer halben Stunde bin ich erledigt. Zurück werde ich meist im Rollstuhl geschoben.

Zähne ziehen

Zahn

Nach einer weiteren Woche entscheiden die Ärzte, dass ich auf die Zahnklinik soll. Mein Abszess ist von Bakterien aus dem Mundraum entstanden. Die Zähne gehören dringend saniert. Wie ich jetzt erfahre, wurde mir bereits im März ein Zahn gezogen. Ich kann mich daran nicht erinnern. Das einer fehlt, habe ich bis jetzt nicht wahrgenommen.

Mit dem Rollstuhl geht es zur Zahnklinik. Zum ersten Mal so weit im Freien im Rollstuhl fahren, es ist eine Wohltat. Ich atme die frische Luft ein und genieße den Weitblick.

In der Zahnklinik dann etwas Bangen. Zwei Zähne sollen gezogen werden. Ich sitze am Stuhl und lasse wieder einmal alles über mich ergehen. Allerdings, wie der zweite Zahn gezogen wird, überkommt mich eine Art Befreiung. Ich fühle mich plötzlich leicht und frei. Ich bekomme noch auf einem Zahn eine Wurzelbehandlung und werde dann mit dem Rollstuhl zurück gefahren.

Trotz der Behandlung, ich habe noch immer ein eingespritztes Gesicht, geht es mir großartig. Mit dem Ziehen der Zähne habe ich im selben Augenblick eine neue Lebensqualität bekommen. Nach langer Zeit bekomme ich das Gefühl, das es Aufwärts geht.
Die Moral von dieser Geschichte, wie schon im vorigen Beitrag erwähnt:

"Pass auf was du denkst!"
und
"Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare!"
Christian Morgenstern,  1871 - 1914

Unser denken wird im Körper sichtbar! Wir könnten vieles schon früher ändern. Spätestens wenn es am Körper sichtbar wird, ändern die meisten. Mancher geht aber auch da noch drüber.


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Ich bin Jörg, wohne in der Nähe von Graz und blogge hier über meinen Weg zurück ins Leben, das ein Hirnabszess 2016 völlig auf den Kopf gestellt hat.
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