Nach fast drei Jahren suche ich noch immer den Weg zurück zu einer Normalität. Aber was ist das? Ist mein Zustand so abnormal? Ja und nein!
Ich befinde mich noch immer in einer Ausnahmesituation. Es hat sich zwar einiges verändert, ja, auch verbessert, aber ich bin noch weit weg von einer Normalität des Lebens.
Mein körperlicher und geistiger Zustand ist noch fern von dem, was man einen "normalen" Zustand nennt. Ein Leben wie ich es gewohnt war, lässt es nicht zu.
Zu groß sind die Anforderungen, welche die Gesellschaft von mir verlangt. Mit Gesellschaft ist jeder gemeint. Von den Behörden, den Menschen im öffentlichen Raum, selbst die Kinder und die eigenen Familie.
Es kann niemand nachvollziehen, was wirklich in mir vorgeht. Ein normales Begreifen oder Verstehen funktioniert nicht, wenn ich nicht die entsprechende Zeit dazu bekomme. Aber wer gibt einem schon Zeit heutzutage. Ich brauche Tage, um schwerwiegendere Entscheidungen zu verstehen.
Was ich für normal empfinde, ist meine Entscheidung. Was für mich bisher als normal galt, kann für jemanden anderen zuwenig oder zuviel sein. In meiner Lage zum Jakobsweg zu fahren, kann verrückt sein oder normal. Es ist eine reine Ansichtssache.
Mein Anspruch ist es, mich trotz der Defizite gut zu fühlen. Es gelingt mir, kann aber auch ins Gegenteil umschlagen. Solche Momente gibt es natürlich, dauern aber zum Glück nicht länger an. Darum die Suche nach Normalität. In ihr kann ich mich ausruhen und gut fühlen.
Im Krankenhaus wollte ich am Schluss nur nach Hause. Obwohl ich mit meinen Defiziten die Familie zusätzlich belastete, fühlte ich mich geborgen und gut aufgehoben. Zuhause oder Daheim hat für mich einen neuen Stellenwert bekommen.
Es ist mir klar, dass ich das was ich mache, um wieder am Leben teilnehmen zu können, für viele nicht denkbar ist. Viele geben sich mit weniger zufrieden, ich aber nicht! Hätte ich mich von Anfang an mit weniger zufriedengegeben, ich wäre nicht da, wo ich jetzt bin. Ich hätte mir damit zu viele Grenzen gesetzt.
Ich stelle mir diese Frage öfter: Was ist denn Normalität?
Eine Definition ist:
"Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt."
Erklärung Definition für Normal
Nun, laut dieser Definition kann ich mich, zumindest glaube ich das, unter "Normal" einordnen. Trotzdem ist da noch etwas, was nicht normal ist. Ich reagiere halt nun einmal nicht mehr so, wie das allgemein erwartet wird. Bin ich deswegen nicht normal
Mein bisheriges Leben verlief nicht unter dem, was allgemein unter normal verstanden wird. Nach 14 Jahren (Beamten-)Tätigkeit bei der Post, kündigte ich. Ich gab meinen Job als Beamter auf. Da verstand kaum einer. Die nächsten Jahre verbrachte ich mit MTB-Rennen, Reisen und Bergsteigen.
Auch mein weiteres Leben, nach dem Sport, verlief nicht ganz der Normalität entsprechend. Ich war Energetiker, im Vertrieb tätig und war am Schluss Videojournalist und hatte eine Filmproduktionsfirma.
Ich könnte nicht sagen, dass ich ein normales Leben gehabt hätte. Für mich war der Sport und das Abenteuer normal. Abenteuer fand ich auch im Berufsleben.
Nach dem Hirnabszess erkannte meine psychologische Betreuerin in der Reha mein "Problem". Ich begann zwar, wie andere vor mir, bei null, aber mein Ausgangsniveau war sehr hoch.
Bewegungsmuster begriff ich sehr schnell und konnte sie, trotz der Behinderung, sehr schnell umsetzen.
Trotzdem ist die Behinderung noch da, obwohl man sie mir in vielem nicht ansieht. Was Gedanken mäßig jedoch dazugehört, um Dinge wie gehen auszuführen, ist von außen nicht sichtbar.
Gehen habe ich in den letzten Jahren am meisten trainiert. Es wurde mir das Wichtigste. Allein am Jakobsweg legte ich rund 2.000.000 Schritte zurück und bei jedem einzelnen dieser Schritte, war ich gedanklich dabei. Mein Gehirn lässt gar nichts anderes zu. Jede Bewegung muss nach wie vor angedacht werden.
Denke ich einmal nicht, kommt alles durcheinander und ich bin in Unfallgefahr. Das war lange Zeit mit meinem rechten, ehemals gelähmten, Bein so. Das konnte ich erst dieses Jahr verbessern.
Versuchte ich automatisch zu gehen, so brauchte ich mich nur nebenbei zu unterhalten. Dabei konnte ich aber nicht auf das Anheben der Fußschaufel denken. Der Fuß blieb an einer leichten Bodenwelle hängen und aus war es mit dem Automatisch Gehen. Elektrotherapie und die Arbeit mit meinem Physiotherapeuten brachten enorme Verbesserungen. Dazu die vielen Schritte am Jakobsweg.
Mein Ziel, automatisches Gehen zu lernen, ist dadurch erleichtert worden. Noch ist es so, je schlechter der Weg, umso mehr muss ich denken. Deshalb versuche ich mich immer wieder abzulenken oder zu unterhalten. Kaum wird der Weg schlechter, höre ich oft zum Reden auf, oft mitten im Satz. Ich bin dann gedanklich nur beim Gehen. So ist es aber auch bei allen anderen Tätigkeiten, Multitasking funktioniert noch nicht.
Beim Laufen ist Automatismus noch wichtiger. Automatismus bedeutet für mich eigentlich Multitasking. Ohne nachzudenken, mehrere Dinge gleichzeitig machen zu können.
Beim Laufen ist eine so schnelle Abfolge nötig, es ist unmöglich jeden einzelnen Schritt zu denken. Deshalb ist Laufen so gesund, nicht nur für mich, eigentlich für jeden der in der Lage dazu ist.
Es würde mir helfen, wieder mehr Automatismus auch in andere Bereiche zu bekommen. Versucht es einmal, wirklich nur eines zu tun und dann erst das andere. In manchen Bereichen fast unmöglich.
Das hat oft fatale Auswirkungen beim Kochen. Ich kann nur eines machen und dann das andere. Komplexe Rezepte sind nicht möglich. Ich vergesse auf folgende Schritte oder kann nichts parallel dazu machen.
Das Abdrehen der Herdplatte ist so ein Problem (Herausforderung). Ich bin so konzentriert darauf, den Topf von der Platte zu nehmen, dass ich aufs Abschalten vergesse. So einfach das klingt, aber es ist so.
Wenn dann niemand dabei steht, kann das blöde Folgen haben. Eine davon ist, dass ich den Herd putzen will und die heiße Herdplatte berühre. Verbrennungen sind die Folge. Da kann ich ein Lied darüber singen.
Die Defizite beim Denken behandle ich hier und auf Instagram nicht so oft, weil es zu eintönig ist. Ich mache nach wie vor meine Übungen, speziell mit dem Programm, das ich in der Reha bekommen habe.
Dazu kommt das Schreiben. Es ist ein wichtiger Teil meiner Therapie. Ich habe noch immer Probleme damit, Wörter und Formulierungen zu finden. Es ist aber schon besser geworden und wird sich auch in Zukunft noch verbessern. Davon bin ich überzeugt.
Fotografieren gehört auch dazu. Es regt mein Gehirn an, sich kreativ zu betätigen. Zum Glück gibt es die Automatik Funktion, so brauche ich mich großteils nur auf den Bildausschnitt zu konzentrieren. Filmen wie früher schaffe ich noch nicht, der Vorgang ist zu komplex.
Dabei gilt besonders, kommt Zeit kommt Rat. Ich muss langsam akzeptieren, dass mein Kurzzeitgedächtnis eben nicht mehr so funktioniert wie früher und vielleicht nie mehr so funktionieren wird.
Deswegen höre ich aber nicht zum Üben auf. Denn: GIB ALLES, AUSSER AUF! Was noch nicht ist, kann ja noch werden.
Ein Handicap bei der Bewegung ist störender, als in meinem Fall das Denken. Daher trainiere ich die Bewegung mehr. Bei entsprechender Bewegung wird das Denken sowieso mittrainiert.
Dieser Meinung war ich lange. Es muss aber nicht so sein. Im Moment sehne ich mich sogar nach einer Normalität, da sie mir die Sicherheit gibt, die ich auch brauche.
Aber wie schon gesagt, jeder hat seinen eigenen, individuellen Anspruch an Normalität.
Zum Abschluss noch ein interessanter Bericht über "besonders Normal" sein. Er zeigt Menschen, wie sie mit ihrer Behinderung umgehen. Ein guter Bericht auf 3Sat.