Früher oder später stellt man sich die Frage: "Wie sehr hat das Hirnabszess mein Leben verändert?"
Ich habe 11 Punkte gefunden, die mein Leben nach dem Hirnabszess veränderten.
Für einen Außenstehenden mag es nicht ersichtlich sein, aber das Hirnabszess hat mein Leben zum großen Teil positiv verändert. Ich durfte Dinge erleben und kennen lernen, die den meisten vorenthalten bleiben.
Natürlich sind ein paar Sachen dabei, die nicht angenehm sind. Aber ohne das Eine, wäre das Andere nicht möglich. Und ohne die nicht so angenehmen Sachen, hätte ich vieles nie kennengelernt.
Man beginnt die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich kann mit meinem Schicksal hadern und alles aufzählen, was nicht mehr geht, was ich nicht mehr tun kann....oder....ich kann der Krankheit positive Seiten abgewinnen und aufzählen, was ich alles neu entdecke oder jetzt anders machen darf. Ich mache zweiteres.
Vieles habe ich in meinem Sportler-leben erfahren und kennen lernen dürfen. Ich habe Dinge erlebt und gesehen, über die habe ich noch nie oder kaum gesprochen. Einiges habe ich geglaubt zu wissen, dabei habe ich es noch nicht verstanden. Mit dem Hirnabszess durfte ich Erfahrungen machen, die mir helfen, viele Schattenseiten meines Lebens zu integrieren.
Nachfolgend meine 11 Punkte, die ich als positiv bewerten kann, "trotz" Hirnabszess.
Seit dem Hirnabszess lebe ich im Hier und Jetzt, gezwungenermaßen. Es ist von Vorteil, nicht an Zukunft oder Vergangenheit zu denken. So verstehe ich es jetzt leichter, im Jetzt zu bleiben. Das Glück finde ich nur in der Gegenwart und nicht in einer fernen Zukunft.
Es war schon die letzten Jahre mein Thema. Viele Bücher habe ich darüber gelesen und mich immer wieder damit beschäftigt. Ich lebte zu viele Stunden eines Tages in der Zukunft oder der Vergangenheit. Es hat gut geklungen, aber es war mir nicht möglich aus meinem Denken auszusteigen. Was es wirklich heißt im Jetzt zu leben, habe ich erst durch das Hirnabszess eindrucksvoll erfahren.
Manches muss neu erlernt werden. Bewegungsabläufe, aber auch Verhaltensmuster. Manches war aber gar nicht so gut, wie ich im Nachhinein festgestellt habe. Daher schreibe ich es neu, wie ich es möchte und jetzt brauche. Im Prinzip funktioniert geistiges Heilen so. Die Festplatte, also das Gehirn, neu beschreiben.
Abläufe, die schon einprogrammiert waren, sind weg. Vieles davon behinderte mich aber. Jetzt kann ich das Leben neu organisieren. Warum also nicht gleich, wie ich es möchte.
Für den Blog zu schreiben hilft mir, die Krankheit aufzuarbeiten. Es hilft, meine Gedanken und mein Tun festzuhalten und zu reflektieren. Da ich noch länger Zeit bis zum Verstehen brauche, halte ich durch Schreiben meine Gedanken fest, um es dann, wenn ich soweit bin, verarbeiten zu können.
Manches halte ich für ein Buchprojekt fest. Bis zum fertigen Buch dauert es aber noch, da mir derzeit der Wortschatz noch fehlt. Für den Blog ist es egal, da bin Ich eben Ich. Ich kann es derzeit eben nicht besser. Das Schreiben ist eine gute Übung für mein Gehirn, wenn auch noch lange nicht perfekt. Für die Buchvorlage reicht es, Formulierungen kommen später. Außerdem vergesse ich manches ausreichend zu beschreiben, weil mir halt oft die notwendigen Wörter fehlen.
Das ist zwar noch weit weg, aber ich betrachte es als Möglichkeit. Da ich ja vom Film komme, ein naheliegendes Vorhaben. Derzeit fehlt mir der Überblick dafür. Ich kann noch immer schwer zusammenhängend und weiterführend denken. Für einen Film aber eine Voraussetzung. Vielleicht übernimmt diesen Part aber auch jemand anderes. Mir ist es derzeit einfach nicht möglich, mich damit zu beschäftigen. Mal schauen was die Zukunft bringt.
Das wird ein längeres Projekt. Ich war die letzten 2 Jahre vor der Krankheit Trailrunner, davor allerdings ein Leben lang Radfahrer. Jetzt muss ich in allem von 0 beginnen, wie ein Kind. Gerade die Technik beim Gehen und Laufen muss ich neu lernen. Das alles ist abhängig vom Fortschritt der Genesung. Gleichgewichts- und Koordinationsverbesserung sind der Grad meines Fortschrittes. Noch muss ich alles einzeln andenken, nichts geht automatisch. Ich kann keinen Schritt überspringen. Hier ist step by step angesagt, bis Gehen (Laufen) wieder automatisch funktioniert.
Langsames Gehen war lange Zeit nicht meines. Erst im Jahr vor der Krankheit begann ich Überlegungen über einen Pilgerweg anzustellen. Zu Silvias und meinem runden Geburtstag wollten wir uns mit dem Franziskusweg, von Florenz nach Rom, selbst beschenken. Es war ein Versuch, aus dem immer schneller werdenden Leben, auszusteigen. Es sollte nicht mehr dazu kommen.
Jetzt wird dieser Wunsch in mir wieder stärker. Die Muße für die Langsamkeit habe ich, Pilgern kann kommen. Ich lese Reiseführer und beschäftige mich mit dem Jakobsweg. Noch lässt es mein Körper nicht zu, obwohl der Plan in mir reift. Es ist ein gutes Zwischenziel auf dem Weg zum Laufen. Wobei der Jakobsweg eigentlich schon ein eigenständiges Ziel darstellt. Allerdings sollte die Kondition schon passen und da bin ich beim Gehen noch nicht so weit.
Alles geht bei mir langsam. Bewegung, Aufmerksamkeit, Denken, einfach alles. Aus dieser Not habe ich eine Tugend gemacht. Ich konnte mein Leben wegen des Hirnabszesses entschleunigen. Ich sehe das als grossen Benefit. Manch einer sieht nur mein Handicap, meine Behinderungen im täglichen Leben. Aber dass ich damit aus dem Hamsterrad aussteigen konnte, ist vielen nicht bewusst.
Hape Kerkeling hat es schon vor Jahren vorgemacht. Mit dem Spruch und seinem Buchtitel "Ich bin dann mal weg!", hat er vielen aus dem Mund gesprochen. Immer mehr Menschen suchen einen Weg um auszusteigen, aus dieser schnelllebigen Welt zu fliehen. Auch ich suchte einen solchen, sah aber keinen und hatte nicht den Mut, es trotzdem zu tun. Das Hirnabszess regelte es dann für mich. Manchmal brauchen wir eben einen ordentlichen Hinweis, bis wir begreifen, dass ein Ausstieg doch geht.
Es gilt ähnliches wie fürs Entschleunigen. Das alles auf einmal langsamer geht, habe ich erst lernen müssen. Besonders die Bewegungen. "Zu schnell" geht gar nichts. Zeit ist nicht mehr von Bedeutung. So lange wie es dauert, dauert es eben. Schneller geht einfach nicht. "Kannst du mal schnell in den Keller Kartoffeln holen gehen?". Holen kann ich sie, aber nicht schnell.
Die Langsamkeit stellt aber auch einige Fragen:
Eine davon: "Was will ich eigentlich?"
Der Knackpunkt ist, nicht mehr so weiterzumachen wie bisher. Bei mir war für diesen radikalen Schnitt eben die Krankheit nötig. Sie definierte meinen Umgang mit Gesundheit neu. Der Lebensstil wird dem Neuen angepasst. Überlegungen wie "Was will ich wirklich?", kommen jetzt öfter.
Das war etwas besonders Wichtiges für mich. Ich wollte immer für alle da sein. Habe immer "Ja" gesagt, auch wenn ich eigentlich nicht wollte. Ich durfte erkennen, dass mit einem NEIN trotzdem alles funktioniert.
Aufgrund meines Handicaps muss ich oft NEIN sagen. Es würde mich sonst überfordern und oft einfache Sachen sind nicht machbar. Ich bin ja kaum belastbar. Die Krankheit brachte mir also vieles, was ich sonst kaum verändert hätte. Zu etwas "Nein" zu sagen, ist heute kein Problem mehr für mich. Hätte ich geahnt, wie einfach das ist, hätte ich nicht krank dafür werden brauchen. 😉
Der Wald und die Natur haben einen besonderen Stellenwert bekommen. Ich war schon immer gerne in der Natur unterwegs und genoss die Stille und Einsamkeit. Mit dem Hirnabszess bekam alles eine neue Bedeutung. Viele Menschen spüren sich nicht mehr und können so die Sprache der Natur nicht mehr verstehen. Durch meine Sensibilität und die gesteigerte Wahrnehmung kann ich die Natur jetzt noch besser wahrnehmen und aufnehmen. Ohne den Wald würde es mir jetzt noch nicht so gut gehen.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als es im Krankenhaus zum erstenmal nach draußen, in die Nähe von Bäumen, ging. Nach über 4 Monaten im Zimmer war es endlich soweit. Ich sehe und spüre noch heute, wie es mir damals erging. Ich blühte innerlich auf. Hätte ich die Bedeutung des Waldes für meine Krankheit schon damals gewusst, ich hätte mich früher in den Wald bringen lassen. Er beschleunigt die Rehabilitation enorm. Darum gehe ich auch heute fast täglich in die Natur. Ein Tag ohne Wald ist für mich wie ein verlorener Tag.
Diese 11 Punkte umfassen großteils Punkte, die ich auch schon vor dem Hirnabszess ändern wollte. Allerdings konnte ich vieles nicht umsetzen, manches nur anreißen oder ich gestattete es mir nicht. Viel zu groß schienen mir die auferlegten Pflichten zu sein. Dafür opferte ich vieles, wenn nicht alles.
Um aus dem Hamsterrad des Lebens auszusteigen, ist Mut erforderlich. Nicht jeder braucht dafür ein Hirnabszess, so wie ich. Vielleicht kann der eine oder andere Punkt helfen, sich hin und wieder aus der schnelllebigen Zeit ein bisschen zu entziehen. Ich wünsche es Euch!