Bereit für die Reise mit Handicap?
Ich hatte keine Antwort darauf und suchte auch nicht danach. Ich buchte den Bus kurzfristig, setzte mich hinein und fuhr los. Bereit oder nicht, ich war unterwegs.
Die Fragen waren aber da:
Fragen, auf die ich doch keine Antworten hatte. Besser gesagt, keine Antworten finden konnte. Denn mein Gehirn verweigerte noch jede Arbeit.
Ich konnte nicht denken und war innerlich leer. Diese Leere wollte ich aber im Kopf. Denn dann hatte ich die Chance, ihn neu zu befüllen. Ob ich bereit war, sollte sich zeigen.
Der Bus war eine gute Wahl. Ich brauchte zwar zwei Tage bis nach Saint Jean Pied de Port, aber so hatte ich Zeit hin- bzw. anzukommen, auch im Kopf. Alles was langsam geht, tut mir gut. Bus ist besser als Flugzeug. Am liebsten wäre ich von zu Hause losgegangen.
Mein Reisegepäck bestand aus einem 30 Liter Rucksack und das war es. Ich verwendete fast nur Material aus dem Trailrunning Bereich, das ich noch von früher hatte. So brauchte ich mir nichts zu besorgen. Als Rucksack verwendete ich eine Superleicht Version, den ich früher bei meinen Filmproduktionen am Berg verwendete. Er wog ca. 500 Gramm.
Ich nahm nur das notwendigste mit. Drei T-Shirts, eine Fleecejacke, eine dünne Daunenjacke, 2 lange und eine kurze Hose, Haube, Handschuhe, 4 Paar Socken, Regenhose und -jacke, ein langes Unterleibchen, Lauf- und Crocks Schuhe. Mit den Crocks konnte ich auch zur Not gehen. Dazu einen superleichten Schlafsack, Sonnenbrillen, Kontaktlinsen, Handtuch, und verschiedenes Kleinzeug. Das Schwerste an allem war mein Tablet mit Tastatur. Ich kann noch immer schlecht mit der Hand schreiben, sondern tippe alles per Tastatur.
Der Rucksack war zwar leicht, aber aufgrund meiner körperlichen Verhältnisse fühlte es sich an wie 20 Kilogramm. Das behinderte mich vor allem bergauf. Jede noch so kleine Steigung meisterte ich im Tempo eines Höhenbergsteigers.
Allerdings war doch einiges unnötige dabei. 800 Gramm schickte ich bei nächster Gelegenheit per Post nach Hause. Somit hatte ich unter 6 kg als Rucksackgewicht. Dazu kam noch die Verpflegung.
Ich war verblüfft. Der Rucksack wog nur knapp 6 kg und sollte für die nächsten Wochen mein Zuhause sein. Was ich zum Leben brauchte, passte also in einen kleinen Rucksack und es ging mir nichts dabei ab. Wäre ich ein Jahr weggefahren, mein Rucksack hätte kaum anders ausgeschaut.
Die erste Etappe ging über die Pyrenäen und war somit gleich meine erste Herausforderung. Zunächst noch ins Tal sehend, ging es immer höher, wo der Nebel auf mich wartete und alles verschluckte.
Eine Pilgerin, 20 Meter vor mir gehend, verschwand im Nebel. Er war streckenweise so dicht, dass ich gerade die Füße vor mir sah. Es gab diverse Kreuze oder Wegweiser, aber bei dem Nebel konnte ich nichts erkennen.
Die Grenze zu Spanien ging Emotionslos an mir vorbei, ich war so auf das Gehen konzentriert. Von Orrison waren es 19 km, die ich unbedingt schaffen musste, da es keine Nächtigungsmöglichkeit gab. Mein Geist war voll und ganz darauf programmiert das Kloster Roncesvalles zu erreichen.
Zumindest den Rolands-Brunnen konnte ich sehen. Schon Karl der Große ist ist seinem Heer hier entlang gezogen.
Der Nebel besserte sich beim Abstieg, nicht jedoch der Weg. Über frisch ausgewaschene Pfade ging es talwärts. Nach 7 Stunden erreichte ich das alte Kloster.
Ich war müde und erschöpft, aber gut gelaunt. Hatte ich doch die schwierigste Etappe für mich gemeistert. Es war einfach unglaublich. Ich fand keine Worte.
Im April 2016 war ich noch gelähmt, konnte weder Zähne putzen, nur mit Mühe eine Gabel halten und Gehen ging gar nicht. Bis August 2016 war ich im Rollstuhl unterwegs. Langsam wurde es mir bewusst. Die Emotionen, die ich am Weg ausschalten musste, kamen jetzt hervor. Ich lag in meiner Koje und dicke Tränen liefen mir runter.
Das monatelange Training und Üben hatte sich ausgezahlt. Eigentlich hatte ich keine andere Chance, denn nicht zu Üben hätte Aufgeben bedeutet und das kam auf keinen Fall in Frage. Ich stolperte und schlurfte zwar mehr dahin, als das ich ging, aber dieses Gefühl unterwegs zu sein konnte mir niemand mehr nehmen. (zum Beitrag Gehen und Pilgern als Zwischenziel)
Von jetzt an fand ich im Durchschnitt alle 5 Kilometer eine Herberge. Ich war glücklich, mit den Pyrenäen meine größte Herausforderung geschafft zu haben. Nachdem dieser Druck weg war, konnte ich nur mehr genießen.
Die Tage danach ging ich mal mehr, mal weniger.
Ich schaltete jeden Gedanken aus, das schlug sich in Gehleistung nieder. Es war für mich ein neues Erlebnis. Dieses Nicht-Denken tat so gut. Zu Hause war das nicht möglich gewesen, zu viele Ereignisse prallten auf mich ein. Das Üben, Arztbesuche, die Kinder mit der Schule, die Beziehung - alles wurde mir zu viel.
Beim Gehen am Jakobsweg konnte ich zum Ersten mal abschalten, wie ich es bisher noch nie erlebt habe.
Im Krankenhaus konnte ich keine Treppen hinuntersteigen. Im Tagebucheintrag schrieb ich im Juli 2016:
"Zum ersten mal 4 Stufen hinunter gestiegen. Konnte den oberen Fuß nicht abheben, bevor ich mit dem anderen nicht auf der unteren Treppe stand. Zerrungen in der Wade war die Folge."
Ich brauchte damals Wochen, bis ich die ersten Stufen steigen konnte.
Und jetzt hatte ich die Pyrenäen überquert. Ich konnte es gar nicht glauben, es fühlte sich alles so unwirklich an.
Am nächsten Tag in der Früh verzichtete ich auf das Frühstück und ging schon beim ersten Licht los. Ich genoss die Morgenluft im Wald, ging über vom Regen befeuchteten Waldboden, wich Regenpfützen aus und hörte den Vögeln im Wald zu. Ich fühlte mich total wohl. Zum Ersten mal seit dem Hirnabszess war ich wirklich bei mir und fühlte mich dem Leben wieder näher.
Ich freute mich als ich Pamplona erreichte. Allerdings war die Stadt für mich schwer auszuhalten. Der Tunnelblick setzte ein und ich musste mich stark konzentrieren. Tunnelblick heißt, wie mit einer Stirnlampe in der Nacht unterwegs sein. Der Blick verengt sich und ich nehme um mich nichts mehr wahr. Ich musste vermehrt aufpassen. Unter Stress bekomme ich ihn auch zu Hause in Graz noch.
Verkehr, Fussgänger und den Weg finden, alles zusammen überforderte mich. An der Kathedrale vorbei und das war es auch schon. Mehr konnte und wollte ich von Pamplona nicht sehen und mein Ziel war es, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Auf das Zentrum der Stiertreiber konnte und durfte ich mich nicht einlassen. Es hätte zu viel Energie gekostet.
In einem Park am Ende der Stadt setzte ich mich hin und schnaufte durch. Dass mich eine Stadt so schnell aus der Ruhe und ans Limit bringen konnte, überraschte mich. Ich nahm mir vor, in keiner Stadt zu verweilen und die Etappen so anzulegen, dass ich jede Stadt durchgehen konnte und erst im nächsten Dorf Nächtigte.
Der Weg wurde meine Therapie. Gedanken konnte ich weglassen, allerdings musste ich noch immer verschiedenes andenken. Ständig wurde ich durchs Stolpern erinnert, meine Füße weit genug anzuheben. Bei steinigen Wegen musste ich konzentriert jeden Schritt denken, ich war mit den Gedanken bei jedem Tritt. Das war zuhause auch so.
Allerdings brauchte ich hier über den Tag nie an Dinge denken, die zu Erledigen waren oder mich mit irgendwelchen Problemen zu Hause zu beschäftigen. Ich brauchte mich nur aufs Gehen einlassen. Kontakt mit anderen Pilgern vermied ich die ersten Tage. Ich musste mich erst an Spanisch und Englisch gewöhnen. Das war mir im Moment noch zu viel.
Eines machte mir in den ersten Tagen zu schaffen, nämlich Gatschlacken. Für meine Deutschen Freunde: "Schlammpfützen".
Da die letzten Tage starker Regen gefallen ist, war der Weg gesäumt mit Lacken in allen Größen. Kleinere waren zum Umgehen, die großen standen rechts und links am Weg an und waren nicht zu umgehen. Man musste drüber und durch.
Auf einige wurde in weiser Voraussicht Baumstämme gelegt. Das hieß aber, mehrere Schritte darüber balancieren. Ich konnte mir zwei, drei Schrittfolgen merken, aber mehr nicht. Mit Schwung ging es gut, solange bis ich das Gleichgewicht halten musste. Es war somit vorprogrammiert, dass ich dann rechts oder links hinein gefallen bin. Mein gestörter Gleichgewichtssinn war dafür noch nicht tauglich.
Es wollte einfach nicht gelingen, ohne in den Dreck zu fallen, auf die andere Seite zu gelangen. Auch springen war nicht möglich. Da ich keine Schnellkraft mehr besitze, endete es jedes mal im Schlamm. Gedanklich sprang ich zwar ab, aber es endete damit, dass die Füße nicht mitmachten und ich jedes mal mitten in der Lacke landete.
Für meine Mit-Pilger am Weg war es ein sichtlicher Spaß mir zuzusehen. Den einen oder anderen ließ ich mit fragendem Blick an mir vorbeiziehen. Direkt fragen traute sich keiner. Ich sah es aber als Training an, irgendwann würde es schon funktionieren. Der Nachteil war, jedes mal Schuhe putzen.
Einmal gab es Mausalarm bei mir. Die Schuhe werden in Herbergen immer in Gestellen abgestellt. Für meine Schuhe war aber kein Platz mehr, so stellte ich sie daneben am Boden ab. Beim Anziehen in der Früh und später am Weg merkte ich zunächst nichts, aber nach einigen Kilometern fing es im Fersenbereich an zu reiben. Ich hielt an, um Nachschau zu halten.
Ein großes Loch, wo die Polsterung fehlte, klaffte mir entgegen. Es war nicht abgerieben, sondern sehr gut ausgefressen. Ich holte zur Sicherheit mein erstes Blasenpflaster hervor und klebte meine Ferse ab. Der Maus hat die Polsterung hoffentlich geholfen, denn eine Reparatur oder ein neuer Schuh war bei mir nicht möglich. Ich hatte aber zum Glück die weiteren Wochen keine Probleme mit der Scheuerstelle mehr.
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