Gehen am Camino France kann sehr abwechslungsreich sein. Die Gegend, die Farben und die Gerüche wechseln immer wieder. Er bietet jeden Tag ein neues Thema an. Themen, die als Metapher für das Leben zu Hause stehen.
Das hier erzählte kommt alles aus meiner Erinnerung. Am Camino bin ich ja kläglich daran gescheitert, ein Tagebuch zu führen. Handschriftlich ging überhaupt nichts. Da ich limitiert bin mit dem Schreiben, es wird nach wenigen Sätzen unleserlich, habe ich nicht viel getan.
Selbst mein Tablet verwendete ich selten, denn mein Ziel war es, den Kopf frei, bzw. leer zu bekommen. Einzig die Fotos sind mir eine große Hilfe, mich an viele Ereignisse zu erinnern.
Einzig auf Instagram schrieb und postete ich. Das war mein Tagebuch, um mich an die Wichtigkeit des Tages später erinnern zu können. Denn ganz ohne Denken ging es nicht. Der Journalist in mir kam dabei zum Vorschein. Schreiben wollte ich darüber, aber eben auf meine Art und wie ich es derzeit kann.
In der Reha habe ich jetzt Gelegenheit meine Reise aufzuarbeiten und versuche es niederzuschreiben. Wichtig waren aber die Erlebnisse in meinem Inneren.
Gehen hat vielfältige Funktionen, das wusste schon Hippokrates. In einigen seiner Zitate kommt es vor.
Für mich hat das Gehen eine große Bedeutung. Gerade der Jakobsweg zeigte es mir sehr gut. Es war mein Hauptbestreben nach dem Hirnabszess, wieder Gehen zu lernen und eine Motivation zum Jakobsweg zu kommen. Laufen fällt aufgrund der neurologischen Defizite derzeit aus.
Verschiedene Leitungen für die Übertragung der Laufbewegung können diese Impulse nicht so schnell übertragen. Daher sind alle schnellen Bewegungen für mich derzeit nicht möglich. Daher auch die Schwierigkeit damit, über Wasserlacken zu springen.
Der Jakobsweg bot mir die Gelegenheit, das Gehen von allen möglichen Seiten zu erfahren. Besonders eindrucksvoll wurden die langen Geraden, in denen man monoton dahin schreiten konnte oder die bergauf, bergab Strecken. Es gibt täglich etwas, was dir der Weg mitteilen möchte. Auf Instagram kann man erkennen, was gerade am Tag (m)ein Thema war.
Zu erkennen, wie es mir im Moment geht, war besonders eindrucksvoll. Einen Schmerz hier, einen Schmerz da, hatte ich meistens nur dann, wenn sich Gedanken einstellten. Waren die Gedanken leer beim GEHEN, hatte ich auch keinen Schmerz. Es zeigte mir, wie sehr uns Gedanken auf etwas hinweisen möchten. Schaue ich nicht hin, kommt Schmerz. Ist es (wirklich) nicht mehr wichtig, also konnte ich loslassen, war auch der Schmerz weg. Erstaunlich, das zu erleben.
Ich bin oft in eine Geh-Meditation gefallen, obwohl ich kein Mensch bin, der oft oder gar regelmäßig meditiert. Trotzdem bin ich ein meditativer Mensch, aber eben nicht im Sitzen. Auf dem Jakobsweg konnte ich viele Stunden damit verbringen.
Gerade beim Meditieren ist es oft eine Herausforderung, an nichts zu denken. Immer wieder zum Atem zurückzukommen, wenn man abschweift. Für mich war es gar nicht so schwer, Gedanken beiseite zu lassen und nur zu gehen. Es war eine Wohltat, nach einer so langen Zeit des Therapierens an nichts denken zu müssen. Es war mein erster Urlaub für das Gehirn seit über zwei Jahren. Mein Gehirn-Muskel konnte erstmals entspannen.
Es war faszinierend zu sehen, wie viel Energie täglich für Denken draufgeht. Oft sind es Gedanken, die uns nicht guttun. Zu Hause zum Beispiel zu viele Gedanken über die Zukunft, die ich aber eh nicht denken kann. Wenn ich unterwegs zu viel dachte, konnte ich einfach nicht so weit gehen, ganz einfach. So habe ich auch Konversationen, wofür ich zu viel denken musste, vermieden. Und schon konnte ich weiter gehen.
Die schönste Zeit verbrachte ich auf der Meseta. Eine meist flache Hochebene mit ein paar Hügeln, wenig Schatten, langen Geraden und großer Hitze. Hier konnte ich die Geh-Meditation immer wieder anwenden. Der Jakobsweg führt durch die Nord-Meseta von Burgos nach Leon. Ein besonderes Erlebnis.
So wurde GEHEN zu meiner Medizin am Jakobsweg.