Als Erstes steht die Meseta an, bevor es dann über die Berge nach Santiago de Compostela geht. Die Meseta beginnt in Burgos und reicht bis nach Astorga, 226 km weit. Die endlosen Geraden bieten sich zum Gehen an.
Das Schreiben stelle ich in den Hintergrund, zu groß ist die Freude am Gehen und das (Er)leben im Hier und Jetzt. Ich habe die letzten Jahre viel dafür getan und darf nun die Früchte ernten, denn ich kann alles besser wahrnehmen und es wird dadurch leichter.
Ich starte im Dunkeln, lasse mir aber Zeit. Die Morgenstimmung in der Meseta ist immer etwas Besonderes. Beladen mit frischem Brot, einer Avocado und genug zum Trinken, mache ich mich auf den Weg. Die ersten Kilometer noch total flach, zieht es sich dann leicht an- und absteigend dahin.
Hontanas ist mein Ziel und der Himmel wolkenlos. Beim Weg aus der Stadt erreicht mich die Sonne. Nach zehn Kilometern gibt es den ersten Kaffee unterwegs, der an diesem Tag auch mein einziger bleiben wird.
Einen Fuß vor den anderen, so schreite ich dahin. Die ersten zwei Tage auf der Meseta sind nicht total flach, sondern ziehen sich leicht über die Hügel. Meine Bewegung spielt nur am Rande eine Rolle. Dieses Gefühl habe ich erstmals und kann daher viel mehr sehen.
Am nächsten Tag geht es im Dunkeln los, die bis Castrojertz anhält. Ich erlebe ein tolles Ende der Nacht und einen schönen Sonnenaufgang. Bei einigen der eindrucksvollsten Gegenden der Meseta komme ich bei schönstem Wetter vorbei.
Allerdings ist es noch recht kalt, wird sich aber bis Mittag auf mehrere Plus-Grade erhöhen. Die ersten schönen Meseta Bilder gelingen mir bei schönstem Wetter, es ist wieder Wolkenlos.
Diesmal nehme ich mir einen langen Tag vor. Diese langen, flachen Geraden überspringen viele und nehmen lieber den Bus. Damit versäumen sie einiges. Für mich hingegen ist es einer der schönsten Abschnitte am Camino Frances und besonders, sie zu Fuß zurückzulegen. Dabei achte ich sehr darauf, wohin sich meine Gedanken bewegen.
Los geht es um 7h Morgens und gegen 18 Uhr Abend möchte ich in Carrion de los Condes sein. Das gibt einem viel Zeit, mit sich ins Reine zu kommen, Gehen reinigt den Geist, wenn man es zulässt.
Fromista erreiche ich nach 34 km, entschließe mich aber zum Weitergehen, hier bleibe ich nicht. Es fühlt sich alles so leicht wie noch nie an. Der Rucksack, das Gehen, alles geht leicht von der Hand. Meine Behinderungen sind noch da, aber alles fühlt sich irgendwie unwirklich an. Seit dem therapeutischen Tanzen im September im letzten Jahr veränderte sich die Wahrnehmung in eine positive Richtung. Natürlich gibt es auch kleine Rückschläge, aber immer zeigt die Tendenz über einen längeren Zeitraum nach Richtung oben. Manchmal kommen mir die Tränen vor Freude, so viel erreicht zu haben.
Da ich die Halbseitenlähmung noch immer spüre, ist es mir wichtig darauf zu achten, den rechten Fuß entsprechend zu belasten und kein Vermeidungsverhalten einreißen zu lassen. Das passiert oft und deswegen muss ich sehr bewusst auftreten und vor allem, einen guten Abdruck geben.
Ich bin froh darüber, das Schreiben einige Zeit sein zu lassen und mich mehr auf das Leben zu konzentrieren. Im Hier und Jetzt lebt es sich am besten.
In Carrion de los Condes komme ich erst spät an, so gegen 19 Uhr, bei Sonnenuntergang. Die dortige Nonne, beim Check-in im Kloster, möchte gar nicht glauben, dass ich 52 Kilometer hinter mir habe. Wahrscheinlich wird auch der Aussteller der Compostela in Santiago nachfragen, ob ich mit dem Bus gefahren oder wirklich gegangen bin.
Nach Carrion kommt ein berüchtigter Abschnitt, der im Winter ein bisschen von seinem Schrecken verliert. Auf 18 km ist rein gar nichts, außer einer Geraden und keine Wasserstellen. Im Sommer braucht man da drei bis fünf Liter Wasser, denn Temperaturen von 40 Grad sind keine Seltenheit. Im Februar hat es beim Weggehen allerdings –3 Grad, was zwar kalt ist, es aber erträglicher als im Sommer macht.
18 km Zeit zum Nachdenken oder aber, auch nichts denken. Ich genieße das Nichtdenken und die Kilometer fliegen nur so dahin. 2018 bekam ich meine wirre Gedankenwelt hier in den Griff, einfach durch langes Nichtdenken. In meinem Gehirn schwirrten damals viele Fragen umher, allerdings nur die Fragen. Weiterdenken war nicht möglich, die Folgen des Hirnabszesses ließen es nicht zu.
Im letzten Jahr passierte mir in Burgos eine posttraumatische Belastungsstörung, die ich durch intensives Gehen auf der Meseta einigermaßen in den Griff bekam. Diesmal kam durch das Schreiben viel hoch, aber ich reagierte rechtzeitig, dass es mich nicht übermannt. Eine große Hilfe ist es dann, im Hier und Jetzt zu sein und im Moment zu leben.
Denn es gibt auch heute noch praktisch kein Weiterdenken von Situationen, vor allem Vergangenen. Dann verfalle ich in eine endlose Schleife aus Fragen, aus der es kein Entrinnen gibt. Der Körper funktioniert nicht mehr, alle Systeme sind blockiert und ich kann kaum gehen. Deshalb ist die Arbeit an Traumas so wichtig, die ich zu einem großen Teil beim therapeutischen Tanzen bearbeite.
Diesmal nutze ich die Konzentration des Gehens. Ich fühle mich frei wie ein Vogel, der durch die Welt schwirrt und lasse mich von meinen Defiziten nicht beherrschen. Ein tolles und unglaubliches Gefühl, dass ich erstmals habe.
Nach diesen ersten 18 Kilometern durch die Kälte erscheint das Dorf Calzadilla de Cueva wie eine Oase, inmitten der Sahara. Im Winter ist man froh, endlich einen heißen Kaffee zu bekommen und eine erste Rast einlegen zu können. Zum Hinsetzen unterwegs ist es zu kalt und zu windig.
Noch ist der Tag aber nicht zu Ende. Immer weiter geht es, durchs flache Gelände. Eigentlich ist Sahagun mein Ziel, aber wie es der Teufel so will, haben alle Herbergen an diesem Wochenende zu und Zettel an den Toren verweisen auf das nächste Dorf. Am Vortag habe ich noch eine Pilgerin in Carrion getroffen, die mit dem Rad auf dem Rückweg nach Burgos war und die mir versicherte, dass Sahagun offen hat. Deswegen habe ich mich auch nicht weiter informiert.
Es hilft alles nichts, ich muss weiter. Zwar habe ich einen guten Schlafsack, eine aufblasbare Matte und den Poncho als Biwaksack, aber bei Minusgraden im Freien zu Campieren, möchte ich doch vermeiden. Also Zähne zusammenbeißen und weitere 12 Kilometer drauflegen. Nach 19 Uhr komme ich bei der Herberge an, wo ich vorsichtshalber vorher noch anrufe. Weitere 8 km bis zur nächsten offenen Herberge wollte ich mir nicht zumuten. Da hätte ich dann doch campiert.
Da ich schon so im Gehen drinnen bin, gehe ich am nächsten Tag die 47 km bis nach Leon. In der mir bekannten Albergue de la Benedictinas quartiere ich mich ein. Ich freue mich den mir schon bekannten Hostaliero Lukas zu sehen, der immer im Winter hier die Stellung hält. Ich übergebe ihm meine gesamte Wäsche zum Waschen und sitze in der Regenhose und im Anorak beim Essen. Nach einer Stunde bekomme ich die Wäsche gewaschen und getrocknet zurück und ich rieche wieder gut.
Danach gehe ich durch Leon, esse und trinke heiße Schokolade mit Churros und schlendere herum. Dann lege ich mich hin und raste mich aus, denn morgen möchte ich unter Umständen in einem Tag nach Astorga gehen, denn ich habe etwas vor.
An Astorga habe ich viele Erinnerungen. 2018 habe ich hier meinen Weg im Juli beendet und nach dem Reha-Aufenthalt im September wieder fortgeführt. Erinnerungen an 2018 habe ich öfter, besonders viele aber in den folgenden Tagen. Eine davon betrifft den Gaudi-Palast.
Schon viermal habe ich ihn von Außen gesehen, aber noch nie war es mir möglich, ihn von Innen zu besichtigen. Meine Hochsensibilität hinderte mich daran. Bevor ich zur Reise aufgebrochen bin, habe ich mir als Ziel vorgenommen, ihn zu besuchen.
Aber hat sich meine Wahrnehmung schon so gebessert, dass ich ihn mir zutrauen kann? Gesagt, getan, nehme ich mir einen Ruhetag in Astorga und reserviere diesen Tag nur für das Museum. Meine Sinne werden so angestrengt, dass für mehr kein Platz ist. Zu meinem Glück bin ich der einzige Besucher so früh am Morgen und kann mich voll und ganz auf den Besuch einlassen.
Museen kosten noch so viel Kraft, aber diesmal gibt es kein Zurück. Die Bauweise kommt mir allerdings entgegen, mit ihren großen Sälen und geschwungenen Formen. Es ist ein Bischofssitz, der allerdings nie benutzt wurde. Zahlreiche Ausstellungsstücke kirchlicher Natur und die Bauweise des Gebäudes werden erklärt.
Ich versuche soviel aufzunehmen, wie möglich und lasse es dann sein. Stolz, mein erstes Museum seit langem besucht zu haben, lasse ich den Tag im Café ausklingen. Danach geht’s wieder in die Herberge, wo ich mich hinlege und versuche zu erholen. Die Meseta habe ich jetzt hinter mir und ab morgen geht es in die Berge.
Ja, morgen geht es ja in die Berge. Optisch reicht der Schnee weit herunter, das hieße auch, dass oben mehr Schnee liegt. Das Gehen im Schnee ist immer wieder eine Herausforderung, denn ich spüre ja nicht, wie stark ich auftrete. Auf hartem Untergrund funktioniert es schon, aber im Schnee oder weichem Schlamm tue ich mich schwer.
Dazu aber mehr im nächsten Bericht.
👍👏
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Lieber Jörg!
Eigentlich fehlen mir die Worte.... eigentlich bin ich jedesmal gleich sprachlos, wenn ich deine Erfahrungen am Camino mitverfolge. Immer wieder lerne ich durch dich: U. a.“Der Wille kann Berge versetzen!“
Du bist mental so stark& durch diese mentale Stärke beherrscht du deinen Körper. Oder liege ich da falsch? Deine Sportlichen Erfahrungen vor deiner Erkrankung haben dich das Zielgerichtete Denken gelehrt, dies setzt du perfekt um. Es ist einfach grandios wie du das machst..... du bist grandios!!!!
Ja, für uns Alle ist es eine der größten Übungen, im Hier und Jetzt zu sein. Der Geist , unsere Gedanken sind wie kleine unzähmbare Äffchen, die nach Aufmerksamkeit rufen. Ja, so viel gibt es noch für uns Alle zu erlernen.
Die Meditation ist da sehr dienlich, im Augenblick zu sein.
Lieber Jörg, ich wünsche dir weiterhin Mut& Ausdauer& Glück und Freude , Begegnungen mit Menschen und daraus resultierende inspirierende Gespräche , inneren Frieden und möge jeder Schritt, den du gehst, dich deiner HeilWerdung ein bißchen näher bringen!
Alles Liebe
Andrea Ziegler
Hallo Andrea,
ich versuche täglich, einfach das Beste aus mir rauszuholen. Der Camino erlaubt mir, mein bestes Ich in allen Facetten zu leben. Ich bin gerade am Camino Portugiese unterwegs. Er hat mir heute klargemacht, dass ich noch sehr limitiert bin und hat mir meine Grenzen aufgezeigt. Zumindest habe ich jetzt Themen, in denen ich in der Tanz-Therapie arbeiten kann. 🤗
Liebe Grüße
Jörg