Neue Erfahrungen zu machen sind für mich unausweichlich und am besten geschehen sie am Camino. Diesmal führt mich mein Weg von Tarifa aus über den Camino Estrecho, der Via Augustus del Cadiz und der Via de la Plata, nach Santiago de Compostela. Sie ist der längste Camino in Spanien.
Die letzten Monate zu Hause, seit England war ich ja nicht mehr fort, waren doch recht anstrengend und ich habe zu oft vergessen, auf mich zu schauen. Der Camino soll mich wieder in eine Stabilität bringen und deswegen hat die Rehabilitation diesmal Vorrang, noch vor dem Leben lernen. Die Folgen des Hirnabszesses sind nach wie vor da und es wird wohl niemals enden. Da kann ich trainieren und üben, was ich will.
Los geht es vom äußersten Süden Spaniens in Tarifa, bis nach Santiago de Compostela. Wenn es mich freut, dann gehe ich noch die etwa 170 Extrakilometer zum nördlichsten Punkt Spaniens. Damit hätte ich Spanien in einem durchquert, von Süd nach Nord. Es wäre reizvoll, aber ich habe es mir nicht als ein unbedingt zu erreichendes Ziel gestellt, denn Vorrang hat die Rehabilitation und eine gute Zeit verbringen. Zumindest möchte ich am Ende wieder etwas besser drauf sein, als zuvor.
Dieser Bericht handelt vom ersten Abschnitt, von Tarifa nach Sevilla, also die ersten 250 km, danach in Abständen der Rest. Diesen Teil wählen nur wenige und im Nachhinein kann ich es verstehen. Die Via de la Plata ist über 1.000 km lang, da tun sich die wenigsten die 250 km mehr an, noch dazu fast ohne Pilger-Struktur. Dazu sind oft lange Etappen zu wählen, je nach Wegführung.
Tolle Temperaturen empfangen mich. 20 Grad am Tag, die in der Sonne recht warm werden können und rund 10 Grad in der Nacht. Die kälteste Zeit ist um 7 Uhr morgens und ich brauche den dünnen Daunenanorak und Handschuhe, beim Losgehen.
Erst um viertel Neun bricht die Dämmerung an. Noch bin ich mir unsicher, ob die gewählte Bekleidung passt, denn ich gehe vom Frühling zurück in den Winter. Das tagsüber hier herrschende Klima darf mich nicht in Sicherheit wiegen, denn in der danach folgenden Extremadura komme ich im Schnitt auf 800 Meter Seehöhe oder höher. Da ist es um einiges kälter, sogar mit Minusgraden in der Nacht.
Über das Meer blickend, kann ich Afrika sehen. Marokko ist nicht weit weg und zahlreiche Schiffe passieren die Meeresenge um Gibraltar, die das Mittelmeer vom Atlantik trennt. Ich stehe am südlichsten Punkt von Spanien, an einer abgesperrten Halbinsel, auf der einen Seite das Mittelmeer und auf der anderen der Atlantik.
Für diesen Abschnitt habe ich meinen Biwaksack + Schlafmatte mit. Es ist mir zu unsicher mit Quartieren und ich gehe, solange ich mag und nehme ein Biwak in Kauf. Die Distanzen von einem Quartier zum nächsten können weit sein und ich möchte mich nicht davon abhängig machen, wie weit ich gehe.
Das Gehen fällt mir diesmal jedoch nicht so leicht, irgendetwas ist anders, als auf meinen bisherigen Wegen. Deswegen bin ich aber hier, um mich wieder auf gleich zu bringen. Zu Hause habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt.
Von Tarifa aus gehe ich entlang des Meeres in Richtung Norden. Unterwegs treffe ich einen Bayern, der schon seit vielen Monaten unterwegs ist. Er empfiehlt mir am Meer zu bleiben und erst am Schluss nach Sevilla abzubiegen. Gesagt, getan, landschaftlich war es sehr schön, allerdings zum Gehen für mich nicht leicht.
Im tiefen Sand habe ich noch Schwierigkeiten. Meine Tiefensensibilität funktioniert dort überhaupt nicht und so stolpere ich durch den oft tiefen Sand, der mir sehr viel Kraft kostet. Um nach so einem Tag zu biwakieren, dazu fehlt mir die Kraft. Also schleppe ich mich noch bis zur nächsten Stadt und nehme ein Zimmer.
Ein wenig erschrickt es mich, wie schlecht ich drauf bin, aber damit musste ich rechnen. Die genauen Gründe darüber zu eruieren, daran arbeite ich noch. Sicher habe ich die letzten Monate zu wenig an meiner Kondition zielgerichtet gearbeitet.
Das fällt mir jetzt auf den Kopf. Einmal erarbeitetes ist schneller wieder weg, als ich denken kann. Nach England befand ich mich in einem sehr guten Zustand, allerdings ging es schleichend bergab.
In Chiclana treffe ich im laufenden Karneval ein, die ganze Stadt feiert. Ich bekomme kein Zimmer, alles ist ausgebucht. So gehe ich weiter und schlage mein erstes Nachtlager unter freien Himmel auf, tausche den Wirbel der Stadt gegen Ruhe. Mit den Sternen über mir schlafe ich ein.
Bisher machte ich mir gar nicht so viele Gedanken darüber, es ist aber was anderes, im Freien oder im Zelt zu liegen. An das Zelt habe ich mich in England gewöhnt, aber das Biwakieren habe ich noch nie geübt. Mein Nervensystem ist es nicht gewohnt und bei jedem Geräusch schrecke ich auf. Außerdem fehlt mir irgendwie die Erholung.
So bin ich um sechs Uhr schon wieder am Trail unterwegs und gehe bis in die nächste Stadt. Ich freue mich über einen Kaffee in einer zum Glück offenen Bar. Die nächsten Tage werde ich ein Zimmer bevorzugen, da ich die Erholung brauche.
Am Tag ist es herrlich, manchmal allerdings scheint die Sonne so stark, dass ich mich gut davor schützen muss.
So geht's dahin, Tag für Tag und am sechsten treffe ich in Sevilla ein. Die Via Augustus ist geschafft. Ab hier beginnen die Herbergen, was den Geldbeutel deutlich entlastet.
Aufgrund der hohen Temperaturen trage ich die letzten Tage kurzes Leibchen und kurze Hose, nach den anfänglich kühlen Morgen. Das heißt aber im Gegenzug, alles warme Gewand ist zusätzliches Gewicht, dass ich tragen muss. Der Rucksack ist zum Bersten voll. Ich entschließe mich einen Ruhetag in Sevilla einzulegen, um zu Kräften zu kommen.
So mies drauf bin ich in keinen meiner letzten Wege gestartet. Anstatt von Tag zu Tag aufzubauen, habe ich abgebaut oder konnte zumindest nicht aufbauen. Etwas ernüchternd, denn erstmals seit dem Hirnabszess muss ich mit Stillstand umgehen. Da merke ich erst, wie verletzlich und unstabil ich bin. Ich darf mich nicht ausruhen, sondern Dranbleiben ist gefragt.
Nach einem Ruhetag in Sevilla geht's auf die Via de la Plata. Davor versuche ich die Stadt zu erkunden, auf die ich mich schon lange freue. Daraus wird aber so gut wie nichts, denn das Gewurle in der Stadt behagt mir überhaupt nicht. Meine Hochsensibilität lässt es nicht zu. Ich bin froh, wenn ich wieder draußen in der Natur unterwegs sein kann.
Zwar probiere ich es immer wieder, mich an die Stadt zu gewöhnen, aber es gelingt mir bisher nur mit mäßigem Erfolg. Es sind einfach zu viele Reize, die mein Gehirn nicht verarbeiten kann und vieles nicht zulässt. Gerade Museen oder Kunstausstellungen gehen mir ab.
Sowieso geht alles Kreative zurzeit nicht gut. Ob Schreiben, Fotografieren oder Planen, mein Gehirn macht nur, was es braucht, nicht was ich möchte. Am glücklichsten bin ich, wenn ich zu Fuß und ohne Denken in der Natur unterwegs sein darf!
Hallo Jörg, toll, was Du wieder für Pläne hast und Dich darüber getraust. Daumen hoch, alles Gute und pass auf Dich auf
CJ
Danke! Ist immer wieder eine tolle Herausforderung und Erfahrung nach dem Hirnabszess. Das Leben beginnt jeden Tag aufs Neue.
Lg Jörg
Lieber Jörg!
Ach du großer Held! Du stellst dich so tapfer jeder HerausForderung. Das ist einfach großartig. Jeder Einzelne, der Deine Blog ‚s liest kann so viel von dir lernen.
Die meisten von uns, dazu zähle leider auch ich ,leben im SicherheitsModus.
Ich wünsche dir von ganzen Herzen, dass du von Tag zu Tag in deine Mitte findest& Kraft& EnergieVoller deinen Weg gehen kannst!
Alles Gute 🙂
Andrea
Herausforderung ist gut, Sicherheit aber auch nicht schlecht.
Die ersten Tage waren manchmal zaach, aber seit Sevilla geht's viel besser und ich komme wieder mehr in meine Mitte. Liebe Grüße Jörg
Hallo Jörg,
habe soeben dein Youtube-Interview mit Markus angesehen und dadurch deinen Blog entdeckt. Gratulation zu deinem Durchhaltevermögen und deiner inneren Stärke - sowie auch für deine anregenden Gedanken, ich bin ganz auf deiner Linie "never give up"!
Danke dir! 🙏
Bin aktuell gerade auf der Via de la Plata in Spanien unterwegs, die mir wieder einen großen Schritt ins Leben ermöglicht. Daher auch nach 8 Jahren, "never give up"! 👍