Der Camino ist in mir noch lebendig, allerdings hat mir ein Tag Paris gezeigt, wo ich wirklich stehe. In der Stadt werden meine Defizite in der Bewegung und der Aufmerksamkeit sichtbarer. Sämtliche Sinne sind aufs äußerste angespannt und die Stadt fordert ihren Tribut. Auch daheim ist es nicht mit dem Camino vergleichbar oder mit dem Anfang vor vier Jahren.
Das größte Therapie Zentrum der Welt, der Camino, hat mir allerdings sehr geholfen das Leben wieder ein Stück mehr kennen zu lernen. Diese Verbesserung geht in Mikroschritten vor sich, wobei, auch die Gewöhnung daran ist eine Verbesserung.
Nach einem Monat praktisch ständig in der Natur, holt es mich in Paris in die Wirklichkeit zurück. Ich bin unfähig, normal durch die Stadt zu gehen. Mit dieser Hektik komme ich kaum zurecht. Es ist ein Haken schlagen, wie ein Hase, ansonsten würde ich andauernd mit jemanden kollidieren.
In all dem Wirbel fällt mir ein Blinder auf. Er sucht seinen Weg durch all die vielen Menschen und dem Verkehr, die kaum Rücksicht auf ihn nehmen. Unbeirrt geht er seinen Weg, behindert von falsch parkenden Autos und Fußgängern, die ihn fast umrennen. An einer Ampel helfe ich ihm über die Strasse. Ein halb am Zebrastreifen parkendes Auto erschwert es uns. Er kennt diesen Weg, aber so etwas ist selbst für ihn nicht leicht.
Er ist überrascht, dass sich jemand um ihn kümmert und wirft mir ein freudiges "Thank you!" entgegen. Ja, Behinderte verstehen sich leichter, welche Hindernisse sich uns in den Weg stellen und uns behindern. Wenige Worte reichen aus, um sich zu verstehen. Er scheint zu spüren, dass auch mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Ich bewundere ihn, sich auf diese Strassen hier zu wagen, ohne sehen zu können.
Den weiteren Weg gehe ich dankbarer und nachdenklicher. Ich habe zwar eine gestörte Wahrnehmung und das Gehen fällt mir schwer, aber ich kann sehen. Das erleichtert mir offensichtlich vieles, dabei ist es nur eine andere Art des Handicaps. Ich denke viel darüber nach, was es für mich bedeuten würde, nicht sehen zu können. Dabei fällt mir auf, dass meine Ohren in der Nacht einen wesentlich größeren Teil meiner Wahrnehmung übernehmen. Ich werde das in Zukunft genauer beobachten und darüber berichten.
Es herrscht hier ein anderer Verkehr wie Zuhause. Überall wuseln Menschen und an die Verkehrsregeln muss ich mich erst gewöhnen. Rot für Fußgänger gilt nur, wenn ein Auto kommt. Also, auf andere Fußgänger darf ich mich nicht verlassen, denn mir fehlt der schnelle Schritt, um eine Strasse bei Rot überqueren zu können. Ich muss Achtsam sein, um meinen Weg hier zu finden. Graz ist ein beschauliches Dorf, gegen das Treiben hier.
Am Camino gehe ich stundenlang am Weg dahin und die Natur tut so gut. Da ist die Hektik von Paris etwas anderes. Daher sitze ich meist im Café, beobachte dieses Treiben oder schreibe auf meinem Handy.
Neuen Gedanken kann ich nur ansatzweise folgen. Ich möchte zwar mehr, es funktioniert aber noch nicht. Auf irgendeine Weise bin ich noch darin festgehalten, mein Leben zu lernen und einmal bereits gekonntes, wieder zu Erwecken. Wirklich Neues lässt sich kaum lernen, wie eine Sprache. Spanisch kann ich noch immer nicht, trotz meiner vielen Aufenthalte dort. Das ändert sich auch daheim nicht.
Unterwegs bin ich auf das Handy angewiesen, denn so übe ich wenigstens meine Feinmotorik. Der Touchscreen fällt mir noch immer schwer, denn dafür ist Gefühl gefragt, dass mir noch fehlt. So vertippe ich mich immer wieder, weil ich es nicht schaffe, den Finger genau auf dem Display zu plazieren.
Wieder Zuhause, kann ich das Tablet verwenden. Der Versuch, ein Video aus meinen Bildern zu machen, fordert mir einiges ab, aber ich schaffe es. Vom Filme schneiden bin ich aber noch meilenweit entfernt.
Hier meine beiden Versuche daheim, zwei Filme zu machen. Einmal ein Film darüber, jeden Tag von mir ein Foto in der Früh vorm Losgehen und ein zweiter, der meinen Weg in einer Minute vierzig zu zeigen versucht.
Es geht weiter wie bisher auch. Wieder Zuhause werde ich mich besonders dem therapeutischen Tanzen widmen. Es dauert zwar, bringt aber großartige Ergebnisse. Emotionen und Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, ist wichtig. Mich davon abzuschneiden, bringt auf Dauer nichts. Durch das therapeutische Tanzen habe ich einen ersten Zugang dazu gefunden.
Dazu gehört auch die Trauma-Aufarbeitung. Es wird seine Zeit benötigen, aber Zeit ist etwas relatives. Unterm Strich soll es mir gut gehen, auch jetzt schon.
Dazu kommt mein übliches Training daheim, für die Bewegung. Es beinhaltet einiges. Das Gehen, der Motorik-Park, die Kletterwand, der Frisbee Parcour und das Fitnessstudio. Ich habe viel erreicht bisher, aber es ist trotzdem noch mehr möglich. Das Ende ist noch nicht erreicht und ich werde auf jeden Fall weiter machen. Am Camino habe ich das Leben wiedergefunden, darauf möchte ich aufbauen. Das Feeling vom Camino daheim auch Leben zu können, dass wäre ein Ziel.
An für sich sind meine Defizite nicht sofort von Außen sichtbar, das macht es mir oft nicht leicht. Fehlt mir eine Hand oder ein Bein, so merkt es jeden sofort. Es ehrt mich, wenn man mir sagt, mir ist nichts oder kaum was anzusehen. Trotzdem ist die Behinderung noch da, wenn auch für andere nicht sichtbar. Die seelischen oder geistigen Behinderungen sind sowieso nicht ersichtlich. Daheim tue ich mich schwerer, als zum Beispiel am Jakobsweg.
Eine sichtbare Verbesserung ist für mich nicht so wichtig, obwohl sie passiert. Ich selber merke es gar nicht so. Da ich jegliche Automatik verloren habe, benötige ich viel Denkarbeit für die Bewegung. Bewege ich mich technisch sauber, so wird mir viel Energie erspart. Natürlich fallen dann meine Defizite auch nicht so auf, obwohl sie da sind. Die richtige Technik anzuwenden ist mir wichtig.
Wer glaubt mir zum Beispiel, dass ich einen Sitzplatz im Bus brauche? Da spaziere ich durch ganz Spanien und falle noch immer leicht in den Öffis um. Aber auch dafür ist Spanien gut. Mein Gesamtzustand verbessert sich, wenn auch langsam. Das viele Gehen brachte eine wesentlich bessere Körperspannung, die mir im Bus oder der Straßenbahn hilft.
Andererseits komme ich mir im Motorik-Park wie der erste Mensch vor, obwohl ich viel am Gleichgewicht auf dem Camino geübt habe. Es fällt mir schwer und ich muss fast von vorne beginnen. Allerdings merke ich die verbesserte Körperspannung, also hat sich doch einiges getan.
Oft verstehe ich meinen Körper selbst nicht. Er funktioniert so anders und entgegen aller bekannten Regeln. Es heißt einfach an den Defiziten weiter arbeiten und üben, üben und üben. Wieder daheim, beginnt alles erneut.
Es tut gut, sich mit der Frage, was sich ändern soll, in Ruhe zurück zu ziehen. Der Körper holt es sich sonst sowieso. Ich war gefangen in einem Hamsterrad und fand keinen Ausweg. Das gewohnte funktionierte nicht mehr, trotzdem gaukelte es eine vermeintliche innere und äußere Sicherheit vor.
Mein Leben war irrsinnig schnell gewesen, dass ist mir heute bewusst. Aus dieser Schnelligkeit auszusteigen, war mir unmöglich. Also besser vorher das unmögliche Möglich machen, als sich später mit einer Krankheit herumschlagen.
Manch einer beneidet mein Leben. Ich habe Zeit und konnte bisher drei Camino gehen. Dazu gehört dann aber auch die Behinderung und die Zeit im Krankenhaus. Ob dieses Gesamtpaket jemand möchte, ist die Frage? Es gibt immer einen Gegenpol, nur sieht den kaum einer (gerne). Beneidet man mich um die Zeit, so muss man auch die Behinderung mit allem drum und dran nehmen.
Da ich jetzt aus eigener Erfahrung weiß, wie so ein Neuanfang von 0 weg ausschaut, kann ich nur jedem empfehlen, die Zeit davor zu nutzen, auch wenn das nicht einfach ist oder unmöglich scheint. Mit dem heutigen Wissen um das Erlebte, hätte ich schon vorher verändert und es nie soweit kommen lassen. Allerdings ist man nachher immer gescheiter und mein Lebensweg war einfach so vorgesehen.
Einem interessanten Kurztest habe ich mich vor kurzem daheim unterzogen. Es wird grob bestimmt, über welchen Wortschatz man verfügt. Goethe soll über einen Wortschatz von 80.000 Wörtern verfügt haben. Im Alltag genügen bis zu 800 Wörter, um sich zu verständigen. Bis zu 12.000 Wörter sind allgemein ok, werden allerdings kaum benutzt. Shakespear soll in seinen Werken rund 30.000 Wörter verwendet haben.
Laut Test soll ich bereits wieder über rund 12.500 Wörter verfügen. Besonders der letzte Camino hat mir sehr geholfen, meinen Wortschatz zu erweitern. Ich habe mich zwar meist in Englisch unterhalten, aber sehr oft den Google Übersetzer verwendet und lernte so dazu. Was mir fehlt, ist das Umschreiben und Formulieren. Ich kenne zwar Wörter, kann sie aber nicht im richtigen Kontext einsetzen.
So hat sich viel getan und jetzt heißt es, diese vielen Dinge, im Leben daheim auch umzusetzen. Es sind nur kleine Schritte, aber viele kleine, ergeben einen großen. Auch nach vier Jahren heißt es weiter dranbleiben und #niemalsaufgeben !
[…] immer mein Sorgenkind. Trotzdem hoffe ich jedes Mal darauf, dass ich diesen Winter besser vertrage. Letzten Winter war ich am Camino Frances und hatte die Hoffnung, in diesem Jahr einen entscheidenden Schritt nach vorne zu […]