Ich spreche hier vom Camino France, dem bekanntesten und meist begangenen Weg, von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela.
Der Jakobsweg gilt weithin als anstrengend, schwer und nur für trainierte machbar. Natürlich ist es mit Training leichter machbar, aber im Grunde kann ihn jeder gehen. Das habe ich bewiesen, indem ich mich mit Handicap auf den Weg machte. Man darf sich nur nicht zu hohe Erwartungen setzen.
Ich ging los, ohne einen Anspruch öder Erwartungen zu haben. Es wird ja nur schwer, wenn ich mehr möchte, als mir im Moment möglich ist. In der Regel ist aber alle 5 Kilometer eine Herberge zu finden. Sollte ich also einmal nicht weiter kommen, finde ich überall eine Unterkunft. Oft musste man nur zweimal umfallen und war in der nächsten Herberge auf der anderen Straßenseite.
Es ist allgemein üblich, dass man nur einmal in jeder Herberge nächtigen darf. Dafür gab es deren aber genug und es tat gut, dieses Sicherheitsnetz zu haben. Deswegen war der Camino France für mich auch so ideal.
Da ich die letzten Monate nie weiter als 5 Kilometer gegangen bin, erwartete ich mir auch nichts. Seit dem Hirnabszess übe ich täglich in allen Bereichen. Es ist das Anstrengende, dass ich so viele verschiedene Bereiche des Körpers zu trainieren habe. Irgendwann ist die Energie am Tag erschöpft, egal ob ich denke oder gehe, es wird weniger.
Wie Denken unterschätzt wird, dazu passt der Spruch von Astrid (www.astrimage.at): "...du arbeitest ja eh nicht wirklich, du sitzt ja nur vorm Rechner und denkst...! - Das Leiden der Filmemacher! Es soll aber hiermit gesagt werden, Denken kostet gleich viel Energie wie Bewegung. Das wird sehr unterschätzt.
Meine Beschränkungen habe ich gleich in den ersten Tagen gemerkt und in der Folge vermieden, was nicht notwendig war. Alles Kulturelle fiel daher recht bald unter den Tisch. Kaum Kirchenbesuche in den größeren Städten, alles was mit Menschenansammlungen zu tun hatte und somit auch kein kulturelles Auseinandersetzen mit dem Weg. Ich wollte im Kopf leer werden, um ihn wieder neu befüllen zu können.
Das war natürlich schade, denn es war immer wieder etwas am Weg zu finden. Auch Gespräche mit anderen Pilgern fielen dem zum Opfer. Es kostete einfach zu viel Energie. Die weite freie Fläche außerhalb der Städte war mir lieber.
Auch was die Pilger betrifft, man trifft eh nur auf die richtigen, bzw. die richtig für mich waren. Da waren dann wirklich interessante Gespräche möglich.
Für mich ging es weiter in Richtung Logrono. Kurze steile Anstiege wechselten mit flachen Stücken ab. Jede steilere Steigung bremste mich auf "gerade noch in Bewegung" ab.
Immer wieder ist mir die alte Frau eingefallen, die mir zu Hause, mit vollgepackten Taschen in den Händen, an einer kurzen Steigung, bergauf davon gegangen ist. Ich schnaufte wie ein altes Dampfross und war für meinen Begriff schnell unterwegs. Meine Wahrnehmung war damals aber noch stärker gestört als heute. Ich war damals langsamer als langsam unterwegs. Diese Erinnerung kam immer wieder hoch.
Bei Steigungen musste ich extrem zurückschalten. Da kommen wieder die Erwartungen und die Achtsamkeit ins Spiel. Jeden Schritt musste ich entsprechend Achtsam angehen und darf nicht anfangen Erwartungen zu haben. Beim Bergauf gehen war meine ganze Konzentration beim Gehen. Über die Tage und Wochen ist so eine schöne Zeit zusammen gekommen, in der ich, unter anderem, Achtsames Gehen praktizierte.
Alle paar Tage war eine größere Stadt zu durchqueren. Logrono war die nächste, die Hauptstadt Riojas. Knapp vor Logrono traf ich auf drei Pilgerinnen. Zusammen machten wir uns an die Durchquerung. Zunächst ging es auf Asphalt über kleine Wege und Straßen dahin. Vorbei an großen Weinkellereien, standen wir bald am Eingang der Stadt, die wir über eine große Brücke betraten.
Ich konnte ein bisschen die Stadt anschauen, weil ich mich nicht auf die Pfeile und das Suchen des Weges konzentrieren musste. Sogar eine Kirche betrat ich. Es ging soweit alles gut, aber ich bemerkte den Unterschied, wenn ich, im Gegensatz dazu, in der freien Natur unterwegs bin.
Den obligatorischen Kaffee genoss ich noch und schon gingen wir wieder aus der Stadt raus. Draußen wartete eine elend lange Allee mit einem Stausee am Ende.
Es war einer der heißesten Tage bisher und unsere Gruppe verlor sich aus den Augen. Es ging jeder seinen eigenen Schritt und man traf sich sowieso immer wieder.
Ich saß gerade unter einem der spärlichen Bäume zum Ausrasten, als ein Auto den holprigen und staubigen Weg vorbeifuhr. Es verlangsamte bei mir, damit ich nicht im Staub versank. Vorbeikommende Pilger erzählten von einem Filmteam, die eine Doku über den Camino machten. Sofort wurden in mir Erinnerungen wach.
Am folgenden Berg flog plötzlich eine Drohne über uns. Ich war mit der Pilgerin Christina unterwegs, da wir beide etwa dasselbe Tempo drauf hatten. Es war landschaftlich eine beeindruckende Gegend, kein Wunder, das sie hier Flugaufnahmen machten. Oben angekommen hatten wir sie plötzlich vor uns.
Die drei kamen aus Brasilien und produzierten eine Doku über den Jakobsweg. Ein Pilger, der mir schon öfter aufgefallen ist, wurde von ihnen begleitet und in diversen Einstellungen gefilmt.
Es ergab sich ein kurzes Gespräch unter "Kollegen" und wir stellten uns noch für ein paar Film- und Fotoaufnahmen zur Verfügung, damit sie ihre Geräte einstellen konnten.
Es wurde für mich die Motivation und Herausforderung, über ein Filmprojekt am Jakobsweg nachzudenken. Nur drei Monate vor dem Hirnabszess hatte ich mit Alexander Rüdiger beschlossen, dieses Projekt im Frühjahr durchzuführen. Ich kam mit den Gedanken zwar nicht weiter, aber es war zumindest ein Hinweis, darüber nachzudenken. Es fühlte sich jedenfalls gut an und verdient weiterer Beachtung.
In der nächsten Ortschaft Ciurena wollten wir die Herberge nehmen. Zuvor ging es aber noch am Golfplatz vorbei. Völlig unwirklich stand er plötzlich inmitten der Gegend. Aber noch unwirklicher war das dahinter.
Mehrstöckige Gebäudereihen standen in großer Anzahl. Allerdings unbewohnt. Eine Geisterstadt wie ich sie noch nie gesehen habe. Dazwischen einige bewohnte Doppelhäuser. Hochhausgerippe standen am Horizont, umgeben von Nirgendwo. Es war Gespenstisch.
Mitten in der Pampa dürfte vor einigen Jahre eine Immobilienblase geplatzt sein. Traurig das anzusehen.
Am nächste Tag spazierte ich 7 Kilometer in die nächste Stadt Santa Domingo, wo ich mir einen Ruhetag verordnete. Ich wollte meinen Körper und Gelenken Ruhe geben und sie nicht überstrapazieren.
Ich besorgte zum Essen Brot, Oliven, Fisch aus der Dose und Apfelsaft. Mit einem Café Solo ließ ich es mir gut gehen und genoss den Tag.
Leider hatte ich meine Kappe in der Stadt verloren, aber in einem Souvenir-Shop fand ich einen günstigen Ersatz. Früh am Abend ging ich schlafen, denn ich wollte noch vor Sonnenaufgang wieder unterwegs sein.