Anfang Mai konnte ich wieder erstmals mit dem Radfahren beginnen. Es wurde ein herantasten an eine Bewegung, die ich Jahre zuvor verinnerlicht habe. Daher erwartete ich mir einiges davon und wie es scheint, auch nicht unberechtigt.
Es hilft mir, meine Reaktion und Wahrnehmung zu steigern. Die brauche ich für den "normalen" Alltag, egal ob fürs über die Straße gehen oder in besonders stressigen Situationen. Seit dem Lockdown bin ich wesentlich anfälliger dafür und habe körperlich abgebaut. Das Radfahren kann mir neue Impulse dazu bringen und die Schnelligkeit meiner Wahrnehmung hinaufsetzen.
Nachdem das Pilgern unter den derzeitigen Verhältnissen für mich nicht möglich ist, brauchte ich dringend Ersatz. Hatte ich das letzte Jahr noch versucht, wieder "Leben" zu lernen, besteht mein Alltag seit Corona wieder aus Therapie und einzig aus dem Ziel, meine Defizite zu verringern. Langsam finde ich mich in diesem Rhythmus zurecht.
Vor einem Jahr war mein Gehirn noch weit überfordert mit Radfahren. Nach nur wenigen Metern nahm der Schwindel überhand, dazu die Gleichgewichtsprobleme und zwangen mich schnell stehen zu bleiben und die Augen zu schließen. Es war dann ähnlich, wie wenn man betrunken vom Rad steigt und der Boden unter einem schwankt. Meist brauchte ich lange, um mich davon zu erholen.
Die muskulären Defizite waren das nächste. Ich bin innerlich so instabil, dass es mir enorme Kraft abverlangt, am Rad nur sitzen zu können. Mein Bindegewebe, die Faszien und Muskeln sind aufgrund der Muskelschwäche so stark zurückgegangen, dass ich wie eine Marionette mit schwach gespannten Fäden wirke. Das fällt nach außen hin ja nicht so auf, aber ich benötige viel Disziplin, um gerade und aufrecht stehen und gehen zu können. Gerade der Lockdown hat mir viel Automatismus gekostet, den ich mir jetzt wieder aneignen muss.
Die Nackenmuskulatur ist auch heute noch schwach und zeigt mir schnell das Limit auf. Gerade beim Radfahren ist sie sehr wichtig. Nach einer halben Stunde kann ich kaum mehr den Kopf heben. Selbst jetzt nach vier Jahren, verbessert es sich nur langsam. Mehrere Monate kein Fitnessstudio, zeigen ihre Auswirkung.
Radfahren benötigt so viele Muskelgruppen und vor allem andere als beim Gehen. Im Grunde genommen geht es mir ähnlich wie zu der Zeit, als ich wieder Gehen lernte. Vor allem die Reaktion in der Verbindung mit der Geschwindigkeit, habe ich zu lernen. Wenn mir beim Gehen etwas zu schnell ist, kann ich stehenbleiben und die Augen schließen, am Rad geht das nicht.
Dieses Zusammenspiel von mehreren Faktoren ist mein neues Ziel. Was nehme ich wie schnell wahr, das ist beim Radfahren extrem wichtig. Meine Reaktion messe ich zum Beispiel, beim über die Straße gehen. Als ich mich vor vier Jahren zum ersten Mal im Straßenverkehr bewegte, war ich heillos überfordert damit. Ich brauchte oft zehn Sekunden, um zu erkennen, ob etwas von links kommt, dann nochmals rechts und wieder zurück. So brauchte ich bis zu einer Minute, um eine freie Straße zu überqueren. Beim Radfahren ist eine noch schnellere Wahrnehmung notwendig.
Den Anfang machte ein einfaches dahinrollen auf Asphalt oder guten Wegen und abseits vom Straßenverkehr. 10 Minuten waren mehr als genug und das nicht jeden Tag, sondern maximal jeden zweiten bis dritten Tag. Dazwischen brauche ich Erholung und diese Zeit musste ich mir geben. Zuviel des Guten erfordert mehrere Tage Erholung. Langsam konnte ich so Tag für Tag die Zeitdauer hinausschieben.
Mir kommt mein gutes Körpergefühl zugute, dass ich in vielen Jahren Leistungssport antrainiert habe. Es half mir dabei, nicht aufzugeben und genau auf meinen Körper zu hören, was er braucht. Die später gelernten Erfahrungen als Energetiker im Energiebereich des Menschen, zusammen mit den Jahren im Sport, waren heute gesehen wichtige Lehrjahre, für ein weiterleben nach dem Hirnabszess.
Ich hatte als Radfahrer zwar einen Trainingsplan, trainierte aber trotzdem nach Gefühl. Dieses Gespür für den Körper, das ich damals lernte, ist heute meine wichtigste Ressource. Es lässt mich genau spüren, welche Belastung gut tut und welche nicht.
Wenn ich vom Rad absteige, schwanke ich, als ob ich von einem schaukelnden Schiff komme. Der Gleichgewichtssinn benötigt seine Zeit, um sich wieder einzupendeln und mein Körpersystem braucht lange, bis es sich wieder stabilisiert. Langsam beginne ich mich daran zu gewöhnen und das Allgemeinbefinden verbessert sich.
Trotzdem brauche ich noch Zeit, mich hinzulegen. Ruhe und die Horizontale ist noch immer am besten, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Beim Gehen legte ich mich immer wieder lang ausgestreckt auf eine Bank und dasselbe mache ich auch beim Radfahren. Ziel ist es, diese Zeitdauer Schritt für Schritt zu erweitern.
Schritt für Schritt und Kilometer um Kilometer erweiterte ich so meinen Radius. Nach zwei Wochen gelangte ich zum ersten Mal zum nahen Radweg und konnte fünf Kilometer zurücklegen. Jedes Mal kam ich weiter. Ich fühlte mich wie am Anfang mit dem Gehen lernen, wo ich mir jeden Meter mit langem Üben erkämpfte.
Vor vier Jahren lag ich im Krankenhaus und konnte nicht mehr gehen. Selbst das Aufrichten war nicht möglich. Ich verlor die Kraft in jedem Muskel und musste selbst kleinste Bewegungsabläufe neu lernen. Mein Nervensystem funktionierte nur bedingt und Bewegungen wurden durch die neurologischen Störungen fast unmöglich.
Es war wichtig, diese Störungen nicht als gegeben hinzunehmen. Ich brauchte fast zwei Jahre, bis ich wieder eine Nadel vom Tisch aufheben konnte. Ich erinnere mich noch an eine Ärztin, die mir zwei Jahre nach dem Hirnabszess sagte, ich soll mich darauf einstellen, dass sich nicht mehr viel verbessern lassen wird, denn nach zwei Jahren ist nicht viel Verbesserung mehr zu erwarten.
Hätte ich ihr geglaubt und mich mit dem damals erreichten zufriedengegeben, hätte sie recht damit gehabt. Das habe ich aber nicht und habe ausschließlich an mich geglaubt. Wer hätte damals daran geglaubt, dass ich dreimal am Camino in Spanien gehen kann und fünf Jahre später mit dem Radfahren beginne. Und das ist noch lange nicht das Ende!
Der Spruch...
"Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen!"
...treibt mich noch heute an, nicht aufzugeben. Dabei ist es nicht so wichtig hohe Ziele zu erreichen, als den inneren Frieden zu finden. Vielen ist das nicht möglich, meist aber, weil sie es gar nicht anstreben. Ich kann sagen, dass ich dem immer näher komme.
Da mir das Unmögliche wohl nie ausgehen wird, habe ich noch viel vor mir. Dabei darf ich aber nie den inneren Frieden vergessen, denn ihn kann ich auch mit Behinderung erreichen. Krampfhaft unbedingt etwas erreichen zu wollen, würde diesen stören.
Ich bin des Öfteren mit meinem Freund Harry unterwegs. Von ihm lernte ich in meiner Zeit als Radrennfahrer alles über Bewusstseinsbildung, dazu weiß er alles wie du den Körper und Geist trainieren kannst und ist eigentlich mein Personaltrainer, wie ich mir keinen besseren vorstellen kann.
Der Weg zurück ins Leben bekam durch das Radfahren einen neuen Schub, wie ich es mir nach Corona nicht gedacht hätte.
Die ersten zwei Monate verbrachte ich ausschließlich auf dem Mountainbike. Die dicken Reifen gaben mir eine Sicherheit und ich konnte mich langsam daran gewöhnen. Seit 10 Tagen verwende ich auch das Straßenrad. Es gibt ein Gefühl von Freiheit, so leicht dahinzurollen.
In die Stadt oder zu viel Verkehr vermeide ich noch. Die kleinen Nebenstraßen und Radwege in Graz Nord sind genau richtig für mich.
Von der Reaktion als Rennfahrer bin ich weit weg, aber ich werde besser. Geschwindigkeiten über 25 km/h sind für meine Augen allerdings noch zu schnell.
Am meisten überrascht bin ich über meine Stabilität am Rad, da hat sich in den letzten Monaten am meisten getan. Beim Sitzen auf einem Sessel habe ich allerdings noch immer das Problem, dass ich noch zu wenig Kraft habe, lange aufrecht sitzen zu können.
Mit der Entscheidung im April die Therapie in den Vordergrund zu stellen, stoße ich natürlich wieder schnell an meine Grenzen. Der Tag ist länger, als meine Energie reicht. Radfahren und einkaufen geht sich zum Beispiel nicht am selben Tag aus.
Gehen musste ich für das Radfahren wesentlich zurückstellen und mehr Zeit für die Erholung musste her. Eine dreiviertel Stunde Radfahren ist wie mehrere Stunden Gehen. Diese neuen Bewegungsmuster bringen mich wesentlich schneller ans Limit und ich ermüde schnell.
Das Gehirn ist mit den vielen Eindrücken sehr gefordert und verbraucht mehr Energie. Ich brauche deswegen viel mehr Pausen und Erholung.
In Summe bringt es mir aber so viel mehr, auch wenn ich nicht so leistungsfähig bin. Es ist nach wie vor ein Vorankommen "Step by Step" und es dauert nach wie vor länger, bis wirkliche Erfolge sichtbar werden.
Ich trainiere täglich 24 Stunden, um besser zu werden. Das Pilgern fehlt mir, aber das Training der letzten vier Jahre gibt mir recht. Ohne mein Tun in den letzten Jahren, wäre Radfahren nicht möglich geworden. Ich werde weitermachen und weiterhin auf mein Gefühl hören, was mir guttut. So komme ich meinem Ziel, "zurück ins Leben", immer näher.