Nach dem Jura bin ich mit dem Boot über den Genfer See gefahren, nach Thonon Les Bains (Beginn des HexaTrek Stage 2, die Nordalpen). Es geht durch das Herzstück der Alpen, die für mich allerdings die größte Herausforderung darstellen. Es war ein jahrelanges herantasten und Training, um diese durchgängig langen Anstiege bewältigen zu können. Die Muskelschwäche und neurologischen Probleme sind ja nach wie vor da.
Vor den hier beginnenden Nordalpen habe ich gehörig Respekt, denn es beginnen für mich die größten Schwierigkeiten in Bezug auf Ausgesetztheit und die große Höhenlage. Im geheimen überlege ich mir, manche dieser Abschnitte zu umgehen, wobei es allerdings auch die Schönsten sind. Alleine traue ich mich aber noch nicht darüber.
In Thonon finde ich auch Shops für neue Schuhe. Der Hexatrek forderte das Material bisher sehr stark, besonders die Schuhe, die bereits nach 700 km total hinüber sind. Am Camino war ich gewohnt, die Schuhe erst nach 1200 bis 1400 Kilometer zu wechseln, hier sind sie schon nach 550 km fast hinüber und nach 700 km total am Limit.
Neue Schuhe sind jetzt vonnöten. Erst im dritten Shop von Thonon werde ich fündig. Mein bisheriger, ein Hoka Speedgoat 5 in der Wide Version, war mein bisher bester Schuh. Allerdings werde ich die Wide Version hier kaum bekommen. Ich probiere alle möglichen Modelle durch, aber keiner ist auf den ersten Versuch bequem genug.
Mein alter Schuh schaut zwar optisch noch gut aus, aber die Sohle und die Dämpfung ist bereits sehr in Mitleidenschaft gezogen. Bereits nach 400 km begann sich die Sohle zu lösen und ich musste sie immer wieder mit Superkleber ankleben. Nach 700 km war nur mehr ein dünner Belag, zuwenig für die Alpen.
In einem Ausrüster Shop entscheide ich mich für den Altra Olympus 5, den ich bereits in England verwendete und mir daher vertraut ist. Seine breite Zehenbox ist bequem und er hat eine zwar gute, aber geringere Dämpfung, als der Speedgoat. Die beste Alternative zu allen anderen angebotenen ist er allerdings.
In den Alpen geht es dauernd rauf und runter, ähnlich wie in den Vogesen davor, nur sind die Auf- und Abstiege wesentlich länger. Mit 1000 Höhenmetern komme ich gerade mal 10 Kilometer weit. So heißt es einen neuen Rhythmus finden, der es mir ermöglicht am Tag mehr Höhenmeter zurückzulegen. Am Campingplatz de l´Essert werde ich einen Ruhetag einlegen.
Nach meinem Ruhetag gehe ich früh los und hole später am Tag den tags zuvor gestarteten Willy mit seiner Katze Jamy ein. Wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Jamy, seine Katze, aufmerksam die Umgebung während des Gehens studiert, während sie gemütlich auf Willys Rucksack ruht.
Als uns Regen überrascht, finden wir Unterschlupf unter dem Vordach einer geschlossenen Hütte und warten das Ende des Schauers ab. Wir werden von Kühen bedrängt, die ebenso unter dem Vordach Schutz suchen wollen.
Auf dem nächsten Abschnitt werde ich von Sam und Matt, zwei Thruhikern aus Neuseeland, eingeholt. Sie gehen ein flottes Tempo, und ich beschließe, ihnen zu folgen. Ihre Führung spart mir viel Energie, die ich lieber ins Gehen investiere, als mich selbst um die Navigation kümmern zu müssen.
Am Nachmittag, als der Regen und ein angekündigtes Gewitter näherkommen, erreichen wir das Refuge de Chesery gerade rechtzeitig, um uns vor dem Unwetter zu schützen. Da es andauert, beschließen wir, hier zu übernachten.
Am folgenden Tag stellt sich mir die Frage: Soll ich mit Sam und Matt den schwierigen Weg versuchen oder eine Abkürzung nehmen, um die steilsten und gefährlichsten Passagen zu vermeiden? Ich entscheide mich bewusst dafür, auf dem Hexatrek zu bleiben und nehme die Herausforderung der Cheval Blance an – einem anspruchsvollen Abschnitt, der nicht nur physische, sondern auch mentale Stärke erfordert.
Die Cheval Blance ist bekannt für ihre ausgesetzten Stellen, steilen Anstiege und technisch anspruchsvollen Passagen. Um es klarzustellen, wir reden hier vom Weitwandern und nicht vom Klettern, allerdings reicht das schon für mich, wenn die Hände des öfteren zu gebrauchen sind. Schon beim ersten Blick auf den felsigen Grat wird mir klar, dass dies keine einfache Etappe wird. Der Trail ist oft schmal, und ein falscher Schritt könnte fatale Folgen haben.
Die größte Frage ist für mich, wie werde ich all das Wahrnehmen? Diese Gedanken begleiten mich während des gesamten Aufstiegs. Sam und Matt, die sicher und zielstrebig vorgehen, geben mir das Selbstvertrauen, mich auf diesem schwierigen Weg zu bewegen.
Die steilen Passagen sind besonders fordernd. Die Hände kommen oft zum Einsatz, um den Fels zu greifen und mich sicher weiterzubewegen. An manchen Stellen führt der Pfad so nah an den Rand, dass der Abgrund tief unter mir zu sehen ist. Hier hilft es mich voll und ganz auf die Bewegungen und Schritte der Neuseeländer zu konzentrieren, die mir als erfahrene Thruhiker Sicherheit geben.
Diese Etappe fordert mir mental alles ab. Vor allem das Überwinden der ausgesetzten Stellen, bei denen es keinen Spielraum für Fehler gibt, verlangt höchste Konzentration. Es ist nicht nur die physische Anstrengung, die mich fordert, sondern auch die ständige Präsenz der Angst vor einem Sturz, die ich Schritt für Schritt überwinden muss. Wenn ich daran denke, dass ich vor zwei Jahren noch an einigen Brücken Probleme hatte, speziell beim Walkabout oder auch noch am JOGLE?
Rückblickend ist die Überquerung der Cheval Blanche einer der intensivsten Momente meiner Reise und zugleich der Höhepunkt seit meiner Rehabilitation. Noch vor zwei Jahren hätte ich mich nicht imstande gefühlt, solche Passagen zu bewältigen. Der Gedanke an schwankende Brücken, exponierte Grate und schwindelerregende Tiefblicke hätten mich zurückgehalten. Diese Wahrnehmung zu verbessern, ist seit vielen Jahren mein Ziel.
Hier, inmitten der Alpen, habe ich mich dieser Herausforderung gestellt und sie gemeistert. Ich bemerke es zwar, es dauert aber einige Tage, bis mir das alles bewusst wird. Zu groß ist meine Anspannung, die ja auch die nächsten Tage halten soll, wo noch einige schwierige Passagen auf mich warten.
Die Überquerung der Cheval Blanche markiert für mich nicht nur den physischen Höhepunkt dieser Wanderung, sondern auch einen emotionalen Meilenstein. Noch vor zwei Jahren hätte mich der bloße Gedanke an solche Herausforderungen vor unlösbare Probleme gestellt. 2021, beim Walkabout durch Austria, scheiterte ich beinahe am Arlberg, weil es links vom Wanderweg steil zum Bach abfiel. Diesen Ausblick konnte mein Gehirn nicht verarbeiten und ich musste die Augen schließen, um nicht schwindlig zu werden.
Brücken, egal ob klein oder groß, bereiten mir immer wieder immense Schwierigkeiten. Das Schwanken und die tiefen Abgründe lassen mich oft wegen Schwindel innehalten. Doch heute, nach acht Jahren harter Arbeit daran und kontinuierlicher Rehabilitation, habe ich diese Hürden zum größten Teil überwunden. Trotzdem kann ich mir nicht sicher sein, dass es hier und da auftritt.
Dank der Unterstützung von Sam und Matt, sowie meiner eigenen eisernen Willenskraft, habe ich einen Traum wahr gemacht, der lange Zeit unerreichbar schien: Die Besteigung der Cheval Blanche war der krönende Höhepunkt bisher, einer Reise durch die Alpen, die mein Leben für immer verändert. Nach acht langen Jahren habe ich mein Ziel, dass ich mir noch im Krankenhaus gesetzt hatte, erreicht – ein Moment, der mich mit tiefer Dankbarkeit und unbeschreiblicher Freude erfüllt. Gleichzeitig schwingt aber auch die Angst mit - was jetzt?
Meine Handicaps sind damit nicht weg. Trotzdem heißt es jetzt ein neues Ziel zu definieren und zu finden.
Fragen, die mich in letzter Zeit immer öfter beschäftigen, denn trotz der Behinderungen möchte ich noch etwas tun. Dass ich nicht arbeiten kann, ist mir inzwischen bewusst geworden. Jetzt heißt es etwas anderes kreieren, dass meinen derzeitigen Fähigkeiten entspricht. Körperlich wird es das Weitwandern bleiben, aber auch der Geist möchte beschäftigt sein.
Das Wandern spielt in meiner Zukunft eine besondere Rolle. Auf jeden Fall sehe ich meine Handicaps mit neuen Augen. Ich konnte meine Wahrnehmung verbessern und stabilisieren. Mein automatisches Gehen ist allerdings trotz der vielen Kilometer nicht wiedergekommen. Das habe ich hier besonders gemerkt. Der HexaTrek ist besonders für das Gehirn eine so große Herausforderung, denn die Wege sind schlecht (für mich), sodass ich mit dem Gehirn und dem Denken aktiv bei jedem Schritt dabei sein muss.
Es muss einfach jeder Schritt und Tritt sitzen. Einen Fehltritt darf und kann ich mir nicht erlauben. Das erfordert eine besondere Achtsamkeit und Wachsamkeit. Die Schwierigkeiten an der Cheval Blance, wie eigentlich auch am gesamten Hexatrek, liegt in den oftmals ausgesetzten und steilen Stellen. Ein Bergsteiger würde lächeln darüber, für mich stellt der Hexatrek aber die ultimative Herausforderung dar. Wobei ich noch nicht ahne, dass mir ähnliche Schwierigkeiten am weiteren Weg bleiben.
Von den schwersten Stellen habe ich keine Bilder, da das Fotografieren für mich unmöglich war. Ich wollte durch nichts abgelenkt sein und machte in höchster Konzentration Schritt um Schritt.
Meine Dankbarkeit ist grenzenlos, diesen Abschnitt doch in Angriff genommen zu haben und dieser Dank gilt auch Sam und Matt, ohne die ich es nicht gewagt hätte. Auf einem teilweise mit Seilen gesicherten Steig geht es in Richtung Chamonix. Ich bewege mich ständig in etwa 2100 m Seehöhe.
In Chamonix besorge ich mir in einem der vielen Sportgeschäfte ein neues T-Shirt, Heringe für das Zelt und ersetze den Spritus-Kocher durch einen Gas-Kocher. Mit meiner schlechten Feinmotorik ist der Umgang damit leichter. Am Campingplatz in Le Houches repariere alles was kaputtgegangen ist und bereite ich mich auf die nächsten Etappen vor. Größere Ortschaften werde ich in den nächsten Tagen keine haben, deswegen muss ich mehr an Lebensmitteln tragen.
Mit Le Houches verbinde ich gute Erinnerungen. 2002 filmte ich die Radzwillinge auf ihrer Nonstop Tour von Graz auf den Mt.Blanc. Ich kreuzte auch den Weg, den wir damals beim Aufstieg auf den Mt.Blanc nahmen. Mit diesen Erinnerungen nehme ich die nächsten Kilometer in Angriff, die zum Teil zur Tour de Mt.Blanc gehören, die teilweise der gleiche Weg ist.
Schön langsam realisiere ich, was ich geleistet habe. Das Gehen bereitet mir viel Freude und jeden Morgen kann ich es kaum erwarten, wieder am Trail unterwegs zu sein. Mein Tagesablauf in den Alpen bekommt eine Routine. Diese Routinen helfen mir, nicht so stark mein Gehirn zu belasten. Im Moment fühle ich mich wohl und alles funktioniert.
Ich gewöhne mich zwar immer besser an die langen An- und Abstiege, allerdings verbessert sich meine Muskelschwäche kaum. Gehe ich in die Hocke, kann ich nicht aufstehen, ohne mich irgendwo aufzuziehen oder anzuhalten. Das schaut in Supermärkten komisch aus, kann ich aber nicht ändern. Dafür hat sich mein Atmen geändert, ich gerate nicht mehr bei jeder kleinsten Steigung außer Atem.
Ab jetzt geht es immer in Richtung Süden. Hin und wieder Schneefelder, auf denen ich besonders aufpassen muss. Das Gehen auf Schnee ist nach wie vor nur schwer möglich. Die Schwierigkeit am HexaTrek sind auch die oft von Steinen und Felsen übersäten Wege.
Achtsam jeden Schritt setzen, ist die Voraussetzung, daß kostet aber viel Konzentration und Energie. Ausblick in die Gegend erhalte ich nur, wenn ich stehen bleibe. Sonst muss mein Gehirn bei jedem Schritt bleiben. Es ist um vieles anstrengender, als jeder Camino bisher.
Die größten Bedenken hatte ich ja darin, wenn ich in schwierigem Gelände unterwegs bin, womöglich Doppelbilder zu bekommen. Deswegen möchte ich stabiler werden, was mir nicht nur am Berg, sondern in Zukunft auch in der Stadt und überhaupt helfen wird. Die Kunst ist es, mich an der Grenze zu bewegen und diese immer weiter hinaus zu schieben.
Am letzten Tag der Nordalpen gehe ich Nachmittags den Col du Galibier hoch. Der genaue Weg der GPS Daten ist nicht anzufinden, so gehe ich die ersten Kilometer die Straße hoch. Es ist ein eigenartiges Gefühl diesen Geschichtsträchtigen Berg zu Fuß zu erklimmen und nicht mit dem Rad. Diese Tage sind geprägt von der Tour de France, denn immer wieder quere ich bekannte Pässe, die ich großteils nur vom Fernsehen kenne.
Nach 5 Kilometern auf der Straße, wechsle ich auf den Bergpfad. Der weitere Aufstieg ist zäh. Ein kaum begangener und noch wenig sichtbarer Weg führt nach oben und oft geht es durch steiles Geröll, wo der Weg überhaupt nicht zu sehen ist. Mit dem Handy navigiere ich mich hier durch, wobei es oft kerzengerade den steilen Hang hoch geht. Den Pass erreiche ich hoch über dem Tunnel und der Straße und klettere vorsichtig über die steilen Schotterwände ab.
Das erste Gasthaus an der Straße hat geschlossen, so mache ich mich auf den Weg ins Tal, wo eine Herberge eingezeichnet ist. Aber auch die ist zu und sogar für immer geschlossen, so bleibt mir nur weiterzugehen in Richtung Col de Lauteret.
Mit dem Erreichen des Col du Lauteret habe ich die Nordalpen geschafft. Es ist schon 18 Uhr und ich treffe auf ein offenes Restaurant auf der Passhöhe. Ich genehmige mir ein Essen und suche dann in der Nähe einen Biwakplatz.
Am bisher kältesten Morgen am Hexatrek beginne ich die Südalpen. Der Col du Lauteret bildet die Grenze dazu, immerhin 2050 m hoch. Zuerst noch im Schatten, beginne ich mit der aufkommenden Sonne die Südalpen.
Mehr dazu im nächsten Blogbeitrag.
toller Bericht!
Danke dir! Im Moment fällt es mir allerdings schwerer zu Schreiben, als zu gehen.
Hallo Jörg! Habe Gerade dein Interview gehört! Von einem extremen ins nächste könnte man bei meinen!
Ich habe lernen müssen manche Dinge im Leben aufzugeben! Einen Familie mit Kindern zu haben ist deutlich schöner als Rekorden hinter her zu jagen! Es macht Sinn den Kindern das Beste von sich weiter zu geben, wenn sie nicht eh schon viel von einem heben!
Wir werden schon so geboren und werden vom Leben oft in die richtige Richtung geschuppst!
Es täte vielen gut nicht ihr Ego zu hören sondern auf ihr inneres Ich! (Herz)
Es erfolgt durch tun immer etwas, auch wenn wir es nicht als Erfolg anerkennen oder sehen!
Das dumme wäre nur nichts zu tun!
Wir sind schon immer alles und werden immer alles sein!
Lg Joachim
Hallo Joachim, schön von dir zu hören.
Ja, es ist ein verrücktes Leben, in das ich gestolpert bin. Die größte Aufgabe ist es im Moment, ein neues Ziel zu definieren, nachdem ich es nach acht Jahren diesen Sommer in der Bewegung erreicht habe. Da mein Gehirn nicht so funktioniert, wie ich es gerne hätte, ist das gar nicht so leicht. Du sprichst das Richtige an, vielleicht können wir uns einmal sehen und ein bisschen plaudern, denn neue Denkanstöße würden mir gut tun.
Danke dir und bis bald mal.
Liebe Grüße
Jörg